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Berufsethik

Eine Einführung von Horst Pöttker

Wortherkunft: mhdt. beruofen = berufen; griech. ethikos = sittlich, moralisch

Definition:
Der Begriff der journalistischen Berufsethik umfasst die rationale Reflexion und Begründung des journalistischen Berufsethos, d. h. der sittlichen Prinzipien und Regeln, nach denen sich Journalisten bei ihrem beruflichen Handeln richten sollen. Obwohl begrifflich einerseits zwischen den sittlichen Prinzipien und Regeln selbst und andererseits ihrer Reflexion und Begründung zu unterscheiden ist, wird im Alltag auch oft von Berufsethik gesprochen, wenn das Berufsethos gemeint ist.

Ebenfalls nicht verwechselt werden sollten die Begriffe journalistische Berufsethik und Medienethik. Während letzterer unspezifisch die Gesamtheit aller sittlichen Fragen meint, die mit der Produktion oder Rezeption von Medien zu tun haben, also z. B. auch das Problem, ob und wie Eltern den Umgang ihrer Kinder mit Medien regulieren sollten, bezieht sich journalistische Berufsethik auf Handlungen oder Handlungsweisen der Produzenten von Medieninhalten, die sich auf die journalistische Öffentlichkeitsaufgabe spezialisieren und daraus Erwerbschancen ableiten.

Geschichte:
Eine Berufsethik kann sich erst herausbilden, wenn es den Beruf gibt, dessen Regularien sie zu untersuchen und zu stützen hat. Wenn Daniel Defoe (1660-1731), Joseph Addison (1672-1719) und andere englische Publizisten des beginnenden 18. Jahrhunderts die ersten waren, die sich der Öffentlichkeitsaufgabe und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung bewusst wurden, also die ersten Journalisten, dann zeigen sich schon bei der Entstehung des Berufs in ihren Schriften nicht nur Grundzüge des journalistischen Berufsethos, sondern auch charakteristische Argumentationsfiguren zu deren Begründung. Defoe leitet in selbstreflexiven Stücken in seiner Zeitschrift The Review (1704-1713) die Wahrheitspflicht von Zeitungsproduzenten, die später Journalisten genannt werden sollten, aus der gesellschaftlichen Notwendigkeit der Pressefreiheit ab, die wegen falscher Berichterstattung von der Obrigkeit eingeschränkt werden könnte. Addison begründet die für den Journalistenberuf konstitutive Grundpflicht zum Publizieren in seiner Zeitschrift The Spectator (1711) mit dem Grundrecht des Publikums auf Information und Transparenz.

Einen entscheidenden Schub erfuhr die journalistische Berufsethik in der Professionalisierungsphase gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als man begann, sittliche Prinzipien und Regeln für journalistisches Handeln explizit zu diskutieren und in Lehrbüchern zu kodifizieren. Karl Bücher hat 1914/15 angesichts der propagandistischen Exzesse in der Presse aller kriegsführenden Länder eine öffentlich finanzierte Erziehung des journalistischen Berufsstandes gefordert, die sicherstellen sollte, dass Journalisten „in jeder, besonders aber in sittlicher Hinsicht den Anforderungen der Gegenwart gewachsen“ sind. Während diese Idee in Deutschland nicht auf fruchtbaren Boden fiel, wo sich journalistische Berufsbildung an staatlichen Hochschulen in der Bundesrepublik erst seit den 1970er Jahren zaghaft entwickelt hat und relativ wenig berufsethische Anteile umfasst, gehört ‘Ethics’ in den USA zu den festen und umfangreichen Bestandteilen der dort seit den 1920er Jahren kräftig entwickelten Journalistenausbildung an Universitäten.

Auch im Hinblick auf berufsethische Fachliteratur für Journalisten haben die angelsächsischen Länder einen deutlichen Vorsprung. Autoren wie Tony Harcup oder Karen Sanders publizieren dort kontinuierlich in großen Verlagen Bücher zur journalistischen Berufsethik, mit denen Journalisten in ihrem Arbeitsalltag nicht zuletzt deshalb etwas anfangen können, weil ihr A und O die Frage ist: „What is journalism for?“ In Deutschland dagegen steht der unspezifische Begriff der Medienethik im Zentrum fachlicher Diskussionen und Publikationen, die von Berufspraktikern wenig wahr- und ernstgenommen werden.

In den deutschsprachigen Ländern sind die von den Presseräten Deutschlands, Österreichs und der Schweiz formulierten Pressekodizes die wichtigsten schriftlichen Fixierungen von journalistischem Berufsethos. Dass sie in → Journalistenausbildung und journalistischer Praxis meist nur als gegeben hingenommen und unhinterfragt eingeübt werden, zeigt die relative Rückständigkeit der journalistischen Berufsethik als Wissenschaft in diesen Ländern. Kritische wissenschaftliche Publikationen zu den Pressekodizes, die auf deren Novellierung zielen, sind hier selten, oft werden darin überdies nur zu schwache Sanktionsmöglichkeiten der journalistischen → Selbstkontrolle beklagt. Nachdem zunächst in der grundlegenden Fachliteratur journalistisches Berufsethos nur aus der allgemeinen Moral abgeleitet und nach dem Modell des Rechts konzipiert wurde, wird heute die Öffentlichkeitsaufgabe des Journalistenberufs als gleichrangige zweite Quelle wie auch das Ordnungsgefüge Sitte als Alternative zu rechtsförmigen Mechanismen von der Berufsethik ernster genommen.

Gegenwärtiger Zustand:
Moderne journalistische Berufsethik orientiert sich an zwei Leitideen: Zum einen geht es um die Gleichrangigkeit von allgemeiner Moral und beruflicher Öffentlichkeitsaufgabe als Quellen des journalistischen Berufsethos. Die zweite Leitidee basiert auf der Untauglichkeit rechtsförmiger, auf Sanktionsgewalt von Zentralinstanzen beruhender Mechanismen, die sittlichen Prinzipien und Regeln für berufliches Handeln Geltung verschaffen sollen.

Zur Gleichrangigkeit von allgemeiner Moral und beruflicher Öffentlichkeitsaufgabe sei betont, dass sich das journalistische Berufsethos wie jedes andere aus zwei Quellen speist: Einerseits der allgemeinen Moral, wie sie von der goldenen Regel („Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu!“) oder den 1948 von der UNO erklärten Menschenrechten zum Ausdruck gebracht wird; andererseits der professionellen Aufgabe, ein Optimum an Öffentlichkeit herzustellen, konkreter ausgedrückt: zutreffend, umfassend, unerschrocken und fair Informationen an ein möglichst großes Publikum zu vermitteln. Zwischen Moral und Öffentlichkeitsaufgabe bestehen grundlegende Übereinstimmungen, weil Menschenrechtsverletzungen und andere Missstände vor allem im Verborgenen gedeihen. Es existieren aber auch erhebliche Diskrepanzen, z. B. weil die Privatsphäre des Individuums und damit seine Würde durch öffentliche Wahrnehmbarkeit verletzt werden können. Wo sich in der journalistischen Praxis Widersprüche zwischen Öffentlichkeitsaufgabe und Moral ergeben, muss in Anbetracht der gegebenen Umstände, also von Fall zu Fall verantwortungsvoll abgewogen werden.

Journalistische Berufsethik hat nicht zuletzt die Aufgabe, für solche Abwägungen rationale Kriterien bereitzustellen. Dazu gehört z. B. der Begriff des besonderen öffentlichen Interesses oder die Figur der öffentlichen Person, die sich zugunsten des Informationsrechts des Publikums mehr Verletzungen ihrer Privatsphäre gefallen lassen muss als der Normalbürger.

Die zweite Leitidee der journalistischen Berufsethik, die auf der Untauglichkeit rechtsförmiger Verwirklichungsmechanismen beruht, stellt zwei gesellschaftliche Ordnungsgefüge gegenüber: Das Ordnungsgefüge Recht unterscheidet sich von sozialen Ordnungsgefügen wie Brauch oder Sitte durch die schriftliche Fixierung der Regeln sowie durch das Monopol der Sanktionsgewalt beim Staat. In Rechtsstaaten geht Zwang ausschließlich von den staatlichen Gewalten und ihren elaborierten Mechanismen der Normauslegung und Sanktionsanwendung aus. In liberalen Demokratien, in denen sich der Staat bei der Regulierung von Medien und Journalismus bewusst zurückhält, liegt eine nach dem Modell des Rechts gestaltete berufsethische Selbstkontrolle, bei der zentrale Instanzen, z. B. Presseräte, formell gestufte Sanktionen ergreifen, als Ersatz staatlicher Kontrolle zwar nahe, tritt aber in Konkurrenz zum staatlichen Gewaltmonopol. Geeigneter erscheint eine nach dem Modell des Ordnungsgefüges Sitte gestaltete journalistische Selbstkontrolle, die über ihre Erwägungen und Entscheidungen breit informiert und bei der zwanglose Sanktionen, etwa das Abbestellen oder Abschalten berufsethisch heikler Medienangebote, vom Publikum ausgehen.

Forschungsstand:
Während sich journalistische Berufsethik im angelsächsischen Bereich auch in der Forschung intensiver Beachtung erfreut, ist ihre Tradition an den Hochschulen der deutschsprachigen Länder kurz, schwach und vorübergehend. Wenn überhaupt, wird bei empirischen Untersuchungen nach Bekanntheit und Beachtung der vorliegenden journalistischen Verhaltenskodizes gefragt, während die Kodizes selbst als unverletzlich vorausgesetzt werden. Eine Forschung, die sich auf Eignung und Verbesserung vorhandener berufsethischer Regelwerke konzentriert, stellt die Ausnahme dar. Dieser beseitigungswürdige Mangel trägt dazu bei, dass journalistische Berufsethik im breiteren medienethischen Diskurs nicht selten für irrelevant gehalten wird. Hinzu kommt, dass die akademische Vorherrschaft systemtheoretischer Begrifflichkeiten und das korporatistische Politikmuster in Deutschland wenig Aufmerksamkeit für den Träger des journalistischen Berufsethos übrig lassen – die verantwortungsvolle publizistische Persönlichkeit.

Literatur:

Baum, Achim; Wolfgang R. Langenbucher; Horst Pöttker; Christian Schicha (Hrsg.): Handbuch Medienselbstkontrolle. Wiesbaden [VS Verlag für Sozialwissenschaften] 2005

Boventer, Hermann: Ethik des Journalismus. Zur Philosophie der Medienkultur. Konstanz [UVK] 1984

Harcup, Tony: Journalism. Principles and Practice. London [Sage] 2004

Pöttker, Horst: Öffentlichkeit und Moral. Zu Kernproblemen journalistischer Berufsethik. In: Zichy, Michael; Jochen Ostheimer; Herwig Grimm (Hrsg.): Was ist ein moralisches Problem? Zur Frage des Gegenstandes angewandter Ethik. Freiburg/München [Karl Alber] 2012, S. 268-292

Pöttker, Horst: Öffentlichkeit oder Moral? Über den inneren Widerspruch des journalistischen Berufsethos am Beispiel des deutschen Pressekodex. In: Publizistik, 2, 2013, S. 121-139

Pöttker, Horst; Kenneth Starck: Criss-Crossing Perspectives. Contrasting models of press self-regulation in Germany and the United States. In: Journalism Studies, 1, 2003, S. 47-64

Sanders, Karen: Ethics and Journalism. London [Sage] 2003

Schicha, Christian; Carsten Brosda (Hrsg.): Handbuch Medienethik. Wiesbaden [VS Verlag für Sozialwissenschaften] 2010

Horst Pöttker
*1944, Prof. Dr., Gründungsherausgeber des Journalistikons. Von 1996 bis 2013 Professor am Institut für Journalistik der Technischen Universität Dortmund. Seit 2017 Initiator und Mitherausgeber der Online-Zeitschrift Journalistik/Journalism Research. Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Geschichte des Journalismus, Berufsethik, journalistische Darstellungsformen. Kontakt: horst.poettker (at) tu-dortmund.de Horst Pöttker hat Einführungsbeiträge geschrieben zur → Geschichte des Journalismus, → Berufsethik, zu → journalistischen Genres sowie zur → Pressefreiheit.

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