Erich Kästner

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Emil Erich Kästner, geb. 23.02.1899 in Dresden, gest. 29.07.1974 in München.

Es gebe keine Dichter mehr, schreibt Erich Kästner 1926 in einem Nachruf auf Rainer Maria Rilke. „Es gibt nur noch Schriftsteller.“ (Kästner 1998a: 52f.) Damit zielte er auf das Ende starrer Grenzen zwischen ,hoher‘ Literatur und Alltags-Publizistik im Zeitalter der sogenannten Neuen Sachlichkeit. Kästner beklagte zwar den Tod des Dichters Rilke. Aber er beklagte keineswegs den modernen Schriftsteller-Typus. Er selbst war ein Schreiber für den Tag. Mehr noch: Der „écrivain journaliste“ (Brons 2002) folgte in all seinen Werken journalistischen Qualitätskriterien und dem Prinzip der Öffentlichkeit (vgl. ausführlich Reus 2018; zum Begriff der Öffentlichkeit vgl. Pöttker 2010).

Im letzten Jahr des 19. Jahrhunderts geboren, will Kästner schon früh andere vom Lauf der Welt ,unterrichten‘. Das Lehrerseminar muss er jedoch mit 18 Jahren verlassen, um noch knapp vor Ende des Ersten Weltkriegs eine Offiziersausbildung zu beginnen. Die kurze Zeit macht ihn zum lebenslangen Pazifisten. Ab 1919 belegt er an der Leipziger Universität Vorlesungen zur Literatur und zur Zeitungskunde. Er schreibt für die Neue Leipziger Zeitung (NLZ), wird rasch Redakteur, zuerst in Unterhaltungsmagazinen des Verlags, 1926 dann im Politikressort der NLZ. Die Pressekommentare des frisch Promovierten zum Zeitgeschehen fallen so entschieden aus, dass man bald einen Vorwand nutzt, ihm zu kündigen.

Als freier Kulturkorrespondent zieht Kästner nach Berlin. In Reportagen und Rezensionen fängt er das Großstadtleben ein. Rasend schnell, mit Sekretärin und professionellem „Bauchladen“ (vgl. Bemmann 1999: 98; Brons 2002: 111-216), baut er an seiner journalistischen Karriere, schreibt unter anderem für die Weltbühne, den Uhu, den Simplicissimus, das Tagebuch, das Berliner Tageblatt und die Vossische Zeitung. Seine Gedichte, von denen viele mit tagesaktuellem Bezug im linksliberalen Montag Morgen erscheinen, gibt er bis 1932 in vier Lyrikbänden mit ungewöhnlich hohen Auflagen heraus. Der moralisierende, oft melancholische, aber auch (vor allem in seinem Anti-Militarismus) scharfe Ton dieser Stellungnahmen zur Zeit lässt ihm zum Shooting-Star der Berliner Publizistik werden. Von der politischen Rechten wird er dafür gehasst – und von der marxistischen Linken nicht geliebt.

Kästner bemüht sich um „optimale multimediale Verwertung“ (Schikorsky 1999: 73) seiner Arbeiten. Er schreibt für Kabarett, Radio und Theater, bespricht Schallplatten. Er liest in Kaufhäusern und Bibliotheken (diese „Öffentlichkeit“ entsteht damals gerade, vgl. Hanuschek 2010: 149). Er veröffentlicht den Journalistenroman Fabian und Kinderbücher wie Emil und die Detektive, die ihn weltberühmt machen.

Einer Partei gehört Erich Kästner nie an. Er engagiert sich gegen den Nationalsozialismus, den er gleichwohl unterschätzt. Seine Bücher werden 1933 verbrannt, die Gestapo verhaftet und verhört ihn. Dennoch bleibt er bis Kriegsende in Deutschland. Später wird er von der „Berufspflicht“ schreiben, die es geboten habe, „Augenzeuge [zu] bleiben und eines Tages schriftlich Zeugnis“ abzulegen (Kästner 1998b: 25). Ein solches Zeitzeugnis der nationalsozialistischen Barbarei schreibt Kästner allerdings nie. Bis heute bleibt umstritten, wie sehr er sich mit dem Regime arrangiert und sich selbst über dieses Arrangement hinweggetäuscht hat (vgl. ausführlich Hanuschek 2010; Görtz/Sarkowicz 1998). Nach 1933 erhält er zwar Publikationsverbot im ,Dritten Reich‘, hat aber durch Verfilmungen im Ausland und 26 Übersetzungen seiner Bücher bis zum Berufsverbot 1943 ein gutes Auskommen.

1945 tritt er allerdings so entschieden wie wenige andere für eine neue demokratische Öffentlichkeit ein. Er übernimmt in München für einige Jahre die Leitung des Feuilletons der Neuen Zeitung (eines Blattes der US-Militärregierung). Zugleich gibt er die Jugendzeitschrift Pinguin heraus. Wie zwei Jahrzehnte zuvor schreibt Kästner wieder Reportagen, Kritiken und Essays, arbeitet für Kabarett, Kino und Theater, engagiert sich als PEN-Präsident und Redner gegen Militarisierung, Wiederbewaffnung und Vietnamkrieg, bevor er sich bis zu seinem Tod 1974 aus dem gesellschaftlichen Leben zurückzieht.

Dass Schriftsteller die Öffentlichkeit suchen und sich auch politisch engagieren, ist nicht ungewöhnlich. Ein Autor wie Kästner aber, der (von den Jahren 1933 bis 1945 abgesehen) sein gesamtes Werk, ob journalistisch oder belletristisch, dem Ziel unterwirft, gesellschaftliche Vorgänge transparent zu machen, ist eine Seltenheit. Vor allem sticht hervor, wie konsequent Kästner sich in all seinen Publikationen an → journalistischen Qualitätskriterien orientiert:

  • Aktualität und → Relevanz bestimmen seine Reportagen, Essays, Kommentare und Feuilletons. Darin wirft er vor 1933 und nach 1945 Schlaglichter auf Straßenkämpfe, Gerichtsurteile oder Wahlen, vor allem auf die zeitbedingten Nöte und Sorgen der „kleinen Leute“. So wie er dem Theater seiner Zeit die „Vorzüge der Reportagen“ (Kästner 1998b: 253) empfiehlt, so trägt er Aktualität in seine Kabarett-Couplets und in seine Lyrik hinein. Seine Kommentargedichte für Leopold Schwarzschilds Wochenzeitung Montag Morgen setzen sich zum Beispiel mit Debatten im Völkerbund oder Vorgängen im Reichstag, mit den Ruhrbaronen, Gewalt im Alltag oder auch mit aktuellen Sportereignissen auseinander.
  • Die Maximen der → Glaubwürdigkeit und → Wahrhaftigkeit (er selbst spricht von der „Aufrichtigkeit des Empfindens“; Kästner 1998b: 326) bestimmen sein literarisches Werk ebenso wie seine Zeitungsartikel. Er kennt den Alltag der kleinen Angestellten, der Hinterhofkinder, der Trinker, Bardamen, Witwen und Kriegsversehrten in seinen Gedichten aus eigener Herkunft und eigener Anschauung.
  • Die Fairness und Unbestechlichkeit, mit der er sie beschreibt, wie die → Richtigkeit in den faktischen Grundlagen auch seiner Gedichte dürften zu einem großen Teil zur Beliebtheit dieses Autors beigetragen haben.
  • Transparenz und Reflexivität durchziehen Kästners Werk vielfach. So gesteht er ein, dass er als Journalist an Grenzen stößt und versagt, als er zum Beispiel eine US-Filmdokumentation über die Grauen in den Konzentrationslagern rezensieren will (Kästner 1998b: 67). Der vielfach resignierende Ton seiner Kabarett-Texte und Gedichte weist auf eine ähnlich ehrliche Einsicht in Limitationen des Zeitbeobachters hin.
  • Am auffälligsten ist wohl das journalistische Qualitätskriterium der → Verständlichkeit. Zu „Einfachheit in Wort und Satz“ (Kästner 1998b: 327) bekennt sich Kästner mehrfach theoretisch. Lebenslang verstößt er in keinem einzigen seiner Texte, auch in den Gedichten und Romanen nicht, gegen diese Maxime; nie wird man bei ihm eine schwierige Satzkonstruktion, fremdartiges Vokabular oder eine rätselhafte Metapher finden. Weltweit wurden seine Kinderbücher aufgrund der klaren Sprache im Deutschunterricht eingesetzt (vgl. Bemmann 1999: 370).
  • Gleichwohl sind seine Texte in hohem Maße ausgeformt. Rhythmus, Klang und Dramaturgie prägen auch seine Reportagen und Berichte und sind als literarische Gütesiegel in das journalistische Kriterium der Attraktivität

Weitere journalistische Maximen sind für den „écrivain journaliste“ Erich Kästner Richtschnur seines Schreibens, etwa → Unabhängigkeit, Gebrauchswert, → Unterhaltsamkeit und Originalität (vgl. im Einzelnen Reus 2018). Dass er sie wie die anderen Qualitätskriterien unbeirrt seinem gesamten Werk zugrunde legt, macht diesen Autor zu einer Ausnahmegestalt in der Publizistik des 20. Jahrhunderts.

Literatur:

Bemmann, Helga: Erich Kästner. Leben und Werk. 2. Auflage. Berlin [Ullstein] 1999.

Brons, Patricia: Erich Kästner, un écrivain journaliste. Bern [Lang] 2002.

Görtz, Franz Josef; Hans Sarkowicz: Erich Kästner. Eine Biographie. Unter Mitarbeit von Anja Johann. München [Piper] 1998.

Hanuschek, Sven: „Keiner blickt dir hinter das Gesicht“. Das Leben Erich Kästners. 2. Auflage. München [dtv] 2010.

Kästner, Erich: Gemischte Gefühle. Literarische Publizistik aus der „Neuen Leipziger Zeitung“ 1923-1933. Band 1 und 2. Hrsg. v. Alfred Klein. Zürich [Atrium] 1989.

Kästner, Erich: Splitter und Balken. Publizistik. Hrsg. v. Hans Sarkowicz und Franz Josef Görtz in Zusammenarbeit mit Anja Johann (= Werke Bd. 6, hrsg. v. Franz Josef Görtz). München [Hanser] 1998(a).

Kästner, Erich:  Wir sind so frei. Chanson, Kabarett, Kleine Prosa. Hrsg. v. Hermann Kurzke in Zusammenarbeit mit Lena Kurzke (= Werke Bd. 2, hrsg. v. Franz Josef Görtz). München [Hanser] 1998(b).

Pöttker, Horst: Der Beruf zur Öffentlichkeit. Über Aufgabe, Grundsätze und Perspektiven des Journalismus in der Mediengesellschaft aus der Sicht praktischer Vernunft. In: Publizistik, 55, 2010, S. 107-128.

Reus, Gunter: Was Journalisten von Erich Kästner lernen können. Im Werk des Publizisten verschwimmen die Grenzen zwischen Journalismus und Literatur. In: Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung, 1, 2018. http://journalistik.online/2017/12/04/erich-kaestner/

Schikorsky, Isa: Erich Kästner. 3. Auflage. München [dtv] 1999.

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*1950, Prof. Dr., ist apl. Professor i. R. für Journalistik an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Arbeitsschwerpunkte: Kulturjournalismus, Pressejournalismus, Journalismusforschung, Sprache und Stil der Massenmedien. Kontakt: gunter.reus (at) ijk.hmtm-hannover.de Gunter Reus hat Einführungsbeiträge zum → journalistischen Jargon sowie zu → Sprache und Stil im Journalismus geschrieben.