Kulturjournalismus

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Wortherkunft: lat. colere = den Boden bestellen, bebauen, hegen und pflegen; vgl. kultivieren

Definition:
Kulturjournalismus ist die Beschreibung, Analyse und Bewertung kultureller Ausdrucksformen durch → Redakteure und freie Mitarbeiter in Druckmedien, Hörfunk und Fernsehen, Online-Redak­tionen, Blogs und Nachrichtenagenturen. ‚Kultur‘ umfasst dabei im weiteren Sinne die Gesamtheit ziviler Lebens- und Umgangsformen; Kulturjour­nalis­mus ist entsprechend nicht an bestimmte → Ressorts gebunden. Im engeren Sinne setzt er sich aller­dings mit künst­lerisch-symbolischen Ausdrucksformen (Theater, Film, Musik, Literatur, Bil­dende Kunst) ausein­ander; dies geschieht in der Regel im → Feuilleton, in Unterhaltungs- und Kul­tur­magazinen, Magazin­sendungen oder speziellen Themenblogs.

Geschichte:
Die Geschichte des Kulturjournalismus ist eng verbunden mit der Entstehung einer bürgerlichen → Öffentlichkeit. Bei der Öffnung des gesell­schaft­lichen Diskurses über Kultur geht im Zeitalter der frühen Aufklärung die Wissenschaft voran. Das geschieht in ‚Gelehrten Journalen‘, die sich nach dem Vorbild des Pariser Journal des Sçavans in Deutschland seit dem Ende des 17. Jahrhunderts verbreiten. Am Anfang steht die Besprechung von Büchern aller Fach­richtungen – von Experten für Experten. Zu den universalwissenschaftlichen Journalen kommen bald Fachperiodika, etwa für Mu­sik oder Belletristik.

Im 18. Jahrhundert treten die Künste mehr und mehr aus dem höfischen und sakralen Raum heraus, Kommunikationsschranken öffnen sich. Theater, Opern- oder Konzert­häuser werden für ein bür­ger­liches → Publikum zugänglich, ihre Angebote damit auch zum ‚Event‘ in den Unterhal­tungs­jour­nalen und der Tages­presse. Die frü­heren, eher dürren Veranstal­tungs­hinweise in der Avisen-Presse reichern sich mit Wertungs­attri­buten und Urteilen etwa über Auftritte durchreisender Virtuosen an und entwickeln sich allmählich zur fortlaufenden → Kritik des Kultur­geschehens.

Um 1800 hat sich die journalis­tische Form der → Rezension heraus­gebildet. Während der politische Journalismus schärfster Zensur unterliegt, blühen eigene Kultur­tageszeitungen auf, die den politi­schen Diskurs umgehen, etwa die Zeitung für die elegante Welt oder das Morgenblatt für die ge­bildeten Stände. Diese für Deutschland typische Entwicklung mündet nach der Märzrevolution von 1848 in die Integration des Ressorts → Feuilleton in die allgemein informie­renden Tageszeitungen, deren Zahl sprunghaft ansteigt. Gleichzeitig entfaltet sich die bürgerliche Unterhaltungspublizistik. Mit der aufkommenden Massenpresse professiona­lisiert sich die redaktionelle Organisation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Kulturjournalismus entwickelt nun endgültig seine For­men und Schwerpunkte, die ihn in einer vielfältigen Feuilletonlandschaft im Wesentlichen heute noch prägen und die auch in den elektronischen Medien fortleben.

Gegenwärtiger Zustand und Forschungsstand:
In der Bundesrepublik gibt es zurzeit etwa 170 Tages-, Wochen- und Wochenendzeitungen mit Kul­turredaktionen und kulturverwandten → Ressorts. Hinzu kommen rund 1300 Anzeigenblätter und etwa 800 Publikumszeitschriften, die ebenfalls über kulturelle Neuheiten berichten. Viele Zeit­schriften sind allerdings wirtschaftlich gefährdet. Anders als befürchtet, ist es seit Beginn der Pres­se­krise jedoch noch zu keinem dramatischen Abbau der ‚Kultur‘ in den Tageszeitungen gekommen. Die Zahl der Beiträge im Zeitungsfeuilleton hat zwar in den letzten Jahren abgenommen, ihr Um­fang ist dagegen deutlich angestiegen (vgl. Reus/Harden 2015: 211f.). Kulturmagazine in → Radio und Fernsehen se­hen sich dagegen vom Programmumfeld zunehmend an den Rand gedrückt (Sen­deplatz und -dauer). Andererseits hat die Vervielfältigung der Kanäle auch eine Reihe anspruchs­voller ‚Kultursender‘ her­vorgebracht. Im Netz existierten bereits 2014 knapp 1000 The­men­blogs, die sich ausschließlich mit Kultur befassen (vgl. Schenk et al. 2014: 6). Das entspricht 40 Prozent aller deutschsprachigen Themenblogs im Internet überhaupt. Die Auto­ren, überwiegend Einzelpersonen, sind zum Teil professionelle Journalisten, zum Teil Amateure.

Sowohl in der Tagespresse als auch in Themenblogs und einer Vielzahl von Fan- und E-Zines finden Musikthemen bei Weitem die größte Beach­tung im Kulturjournalismus, wobei Feuilletonberichte über Pop- und Rock­musik in den vergangenen Jahren zu Beiträgen über sogenannte E-Musik aufgeschlossen ha­ben (vgl. Reus/Harden 2015: 213f.). Eine vergleichbare ‚Popularisierung‘ der Berichterstattung hat es bei den anderen klassischen Themen des Kulturteils der Zeitungen  (Literatur, Theater, Bildende Kunst) nicht gegeben; lediglich die Filmkritik hat zugelegt (vgl. Reus/Harden 2005: 164f.; Reus/Harden 2015: 214).

Insgesamt bleibt das Feuilleton weiterhin deutlich auf Hoch- und Kunstkultur fixiert. Laienchöre, Kinderbücher, Off-Theater, Design, Fotografie (außerhalb des Galerie- und Museumsbetriebs) und viele andere alltagskulturelle Ausdrucksformen wie Essen und Trinken, Schu­le, Mode usw. haben es schwer, im ‚Kulturteil‘ gleichberechtigt gewürdigt zu werden (vgl. Reus 1999). Im → Lokal­jour­nalismus oder in Beilagen sind solche Themen freilich präsent, ebenso wie in Zeit­schriften und Web-Beiträgen. Hier findet der Kulturjournalismus auch mit einer breite­ren Palette von → Genres aus der Monokultur der → Rezensionen heraus, die seit dem 19. Jahrhundert das Feuilleton bestimmt.

Der Tenor dieser Rezensionen von Theater- oder Kinopremieren, neuen Büchern, Ausstellungen oder Konzerten ist entgegen landläufiger Vorstellungen meist wohlwollend und positiv (vgl. Reus/Harden 2015: 216f.). Vor allem die Nähe des Er­eignisses (etwa in der eigenen Stadt) stimmt Kriti­ker wohlgesinnt, während überregionale Kritik öfter ablehnend ausfällt. Im Internet fällt das be­wusste ‚Pushen‘ von Musikgruppen durch Themen­blogger auf; negative Kritiken finden sich hier kaum (vgl. Topinka 2017). Die Wirkung von Kulturjournalismus beruht alles in allem weniger auf der Tendenz seiner Kritik, als auf Agenda Setting: Er bestimmt, was man als ‚Kultur‘ wahr­nimmt und worüber man spricht.

Die Nachfrage des → Publikums nach Rezensionen ist beim ‚inner circle‘ der Konzert- oder Thea­ter­gänger durchaus groß, wobei diese angeben, sich nur wenig vom Urteilsspruch der Rezensenten be­einflussen zu lassen und mehr Wert auf Information zu legen als auf die Meinung von Kulturjour­nalisten (vgl. Reus/Harden 2018: 206ff.). Un­ter­suchungen mit dem sogenannten Readerscan zeigen wiederum, dass Leser → Rezensionen von Kunstereignissen, denen sie selbst nicht beigewohnt haben, sehr häufig einfach übergehen (vgl. Boenisch 2008: 77). Die Nachfrage beim Medienpub­li­kum insgesamt ist schwer einzuschätzen; das Interesse, das in Umfragen bekundet wird, dürfte er­heblich höher sein als die tatsächliche Nutzung von Kulturberichten (vgl. Harden/Reus 2007: 267).

Ergebnisse der → Kommunikatorforschung zeigen, dass Kulturjournalisten sich im Sinne des → Pub­likums durchaus als Informanten begreifen. Zugleich ist ihnen aber auch ein gewisses pädago­gi­sches Sendungsbewusstsein eigen (vgl. Reus et al. 1995: 314ff.). Das dürfte besonders für die Ver­treter der sogenannten Qualitätsmedien zutreffen. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Neue Zürcher Zeitung oder Die Zeit gelten bei Kulturthemen als Meinungsführer, an denen sich die Medienszene insgesamt, auch Akteure im Internet, in einem Prozess der Selbstreferenz orientiert.

Kulturjournalismus ist in hohem Maße Terminjournalismus und lebt vom Einsatz freier Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Durch eine zum Teil rigide Sparpolitik der Verlage sind die Beschäftigungsmöglichkeiten in den vergangenen Jahren jedoch eingeschränkt worden; die Belastung der übrigen Mitarbeiter und Redakteure hat sich entsprechend erhöht. Zeitdruck und schlechte Bezahlung begünstigen aber die Tendenz, (interessengebundene) Aussagen aus fremder Quelle als eigene Berichterstattung auszu­geben. So ergab eine Untersuchung von 580 Buchbe­sprechungen, dass in jeder zweiten Rezen­sion → Pressemitteilungen der Verlage „komplett oder in Teilen übernommen“ worden waren (Beer 2007: 78).

Literatur:

Beer, Anja: Vertrauensselige Kritiker. In: Message, 9/3, 2007, S. 76-79.

Boenisch, Vasco: Krise der Kritik? Was Theaterkritiker denken – und ihre Leser erwarten. Berlin [Verlag Theater der Zeit] 2008.

Harden, Lars; Gunter Reus: Kulturteil für alle. Kino- und Theaterbesucher erwarten eine völlig unterschiedliche Kulturberichterstattung – und halten am gleichen Feuilleton fest. In: Möhring, Wiebke; Walter J. Schütz; Dieter Stürzebecher (Hrsg.): Journalistik und Kommunikationsforschung. Festschrift für Beate Schneider. Berlin [Vistas] 2007, S. 267-286.

Reus, Gunter: Ressort: Feuilleton. Kulturjournalismus für Massenmedien. 2., überarb. Auflage. Konstanz [UVK Medien] 1999.

Reus, Gunter; Lars Harden: Nicht auf verlorenem Posten. Entwicklungen des Zeitungsfeuilletons und Wünsche des Opernpublikums an die Kulturberichterstattung. In: Reuband, Karl-Heinz (Hrsg.): Oper, Publikum und Gesellschaft. Wiesbaden [Springer VS] 2018, S. 195-210.

Reus, Gunter; Lars Harden: Noch nicht mit der Kunst am Ende. Das Feuilleton setzt wieder deutlicher auf angestammte Themen und zieht sich aus dem politischen Diskurs zurück. In: Publizistik, 60, 2015, S. 205-220.

Reus, Gunter; Lars Harden: Politische „Kultur“. Eine Längsschnittanalyse des Zeitungsfeuilletons von 1983 bis 2003. In: Publizistik, 50, 2005, S. 153-172.

Reus, Gunter; Beate Schneider; Klaus Schönbach: Paradiesvögel in der Medienlandschaft? Kulturjournalisten – wer sie sind, was sie tun und wie sie denken. In: Becker, Peter; Arnfried Edler; Beate Schneider (Hrsg.): Zwischen Wissenschaft und Kunst. Festgabe für Richard Jakoby. Mainz u.a. [Schott] 1995, S. 307-327.

Schenk, Michael; Julia Niemann; Anja Briehl: Blogger 2014. Das Selbstverständnis von Themenbloggern und ihr Verhältnis zum Journalismus. Stuttgart [Universität Hohenheim] 2014.

Topinka, Andrea: Eine Bestandsaufnahme deutscher Musikblogs. Überblick über Arten, Gestaltung,  Inhalt und journalistische Arbeitsweise der Musikblogs in Deutschland. Masterarbeit Hannover [Hochschule für Musik, Theater und Medien] 2017.

Zum Weiterlesen:

Fink, Kerstin: Die öffentliche Kommunikation über Kunst. Kunstberichterstattung zwischen Ästhetisierung und Politisierung. Wiesbaden [Springer VS] 2016.

Heß, Dieter (Hrsg.): Kulturjournalismus. Ein Handbuch für Ausbildung und Praxis. 2. Aufl. München [List] 1997.

Lamprecht, Wolfgang (Hrsg.): Weißbuch Kulturjournalismus. Wien [Löcker] 2012.

Lüddemann, Stefan: Kulturjournalismus. Medien, Themen, Praktiken. Wiesbaden [Springer VS] 2015.

Nagy, Ursula: Moderner Kulturjournalismus. Konstanz [UVK] 2013.

Saxer, Ulrich: Kunstberichterstattung. Analyse einer publizistischen Struktur. Zürich [Seminar für Publizistikwissenschaft der Universität Zürich] 1995.

Schalkowski, Edmund: Rezension und Kritik. Konstanz [UVK] 2005.

Stegert, Gernot: Feuilleton für alle. Strategien im Kulturjournalismus der Presse. Tübingen [Niemeyer] 1998.

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Gunter Reus
*1950, Prof. Dr., ist apl. Professor i. R. für Journalistik an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Arbeitsschwerpunkte: Kulturjournalismus, Pressejournalismus, Journalismusforschung, Sprache und Stil der Massenmedien. Kontakt: gunter.reus (at) ijk.hmtm-hannover.de Gunter Reus hat Einführungsbeiträge zum → journalistischen Jargon sowie zu → Sprache und Stil im Journalismus geschrieben.