Reportage

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Reporter_Alexas_Fotos_pixabay_comWortherkunft: lat. reportare = weitergeben, mitteilen; engl. to report = berichten, beschreiben

Definition:
Die Reportage ist ein Informationsgenre, das der Aufgabe dient, dem → Publikum Situationen so zu vermitteln, als erlebe der → Rezipient sie unmittelbar mit. Die Situationen können, müssen aber nicht mit aktuellen Ereignissen verbunden sein. Ist das nicht der Fall, spricht man von Alltags- oder Sozialreportage.

Das kommunikative Leistungsprinzip der Reportage ist der Anspruch auf → Authentizität (Echtheit, Unmittelbarkeit). Charakteristisch ist, dass das Reportage-Subjekt (der Reporter) sich als bloßes Medium versteht und darstellt, durch das sich die Situation den Rezipienten quasi selbst mitteilt.

Das Authentizitäts-Prinzip manifestiert sich in vier Merkmalen der Reportage:

1) Simultaneität: Der anwesende Reporter berichtet unmittelbar aus der Situation. In der Presse kann Simultaneität nur fingiert werden, im Rundfunk gehört Live-Berichterstattung zur echten Reportage.

2) Subjektivität: Der Reporter gibt sich als Subjekt mit begrenztem Horizont zu erkennen; Reportagen können deshalb in der Ich-Form verfasst werden. Meinungen des Reporters sind nicht völlig ausgeschlossen, in erster Linie handelt es sich bei der Reportage jedoch um das Eingeständnis einer Subjektivität der begrenzten Sinneswahrnehmung.

3) Präzision: Es werden wichtige Details mitgeteilt, die schon vorher oder von einer herausgehobenen Position des Reporters aus recherchiert werden.

4) Atmosphäre: Es werden auch unwichtige Details, vor allem Sinneseindrücke des Reporters mitgeteilt, die belegen, dass er in der Situation tatsächlich anwesend (gewesen) ist.

Im Gegensatz zur → Nachricht, die möglichst kurz und prägnant sein soll (Sprachökonomie, Nominalstil), ist für die Reportage der → Verständlichkeitsfaktor ‘Anregende Zusätze’ maßgeblich. Reportagen haben deshalb oft relativ großen Umfang.

Geschichte:
Literarische Ursprünge hat die Reportage im Reise- und Schlachtenbericht, wobei das Merkmal Simultaneität solange wenig ausgeprägt war, wie solche Berichte nicht in aktuellen Periodika erschienen. 1704 hat → Daniel Defoe, einer der ersten Journalisten mit professionellem Selbstverständnis, die Beschreibung eines Unwetters über England publiziert (The Storm), die reportagehafte Elemente wie die genaue Bezifferung der Schäden (Präzision) oder unmittelbare Äußerungen Betroffener (Simultaneität, Atmosphäre) enthielt. 1832 hat Heinrich Heine für die in Augsburg erscheinende Allgemeine Zeitung vom Aufstand gegen das Regime des Bürgerkönigs Louis Philippe über eine Woche lang ‘Tagesberichte’ geschrieben, die in allen vier Merkmalen dem Idealtypus einer Reportage nahe kommen. Ähnlich ausgeprägt waren die Reportagemerkmale in William Howard Russells Kriegsreportagen vom Krimkrieg 1855/56 oder vom Amerikanischen Bürgerkrieg 1861-1865 für die Londoner Times.

Wie die meisten → Genres wurde die Reportage erst mit der Massenpresse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum verbreiteten journalistischen Standard. Die Sozialreportage erlebte um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Amerika, aber auch in Europa z. B. mit den Arbeiten des Wiener → Journalisten Max Winter einen Höhepunkt. In den 1920er Jahren erfuhr die Entwicklung der Reportage mit dem neuen Medium → Radio einen Innovationsschub, weil es nun die Möglichkeiten der Live-Berichterstattung (echte Simultaneität) und der Wiedergabe originaler Hintergrundgeräusche (Atmosphäre) gab. Echte Radio-Reportagen, z. B. von den Olympischen Sommerspielen 1936, aus Industriebetrieben oder von der Situation nach dem Attentat auf Adolf Hitler am 9. November 1939, hat es auch im NS-Regime gegeben, da Joseph Goebbels den Hörfunk wegen seiner Eindringlichkeit für Propagandazwecke schätzte und im Frühjahr 1933 auch selbst Radioreportagen von Aufmärschen und Wahlveranstaltungen der NSDAP gesprochen hat.

In der Sowjetunion und anderen Ostblockländern war – mit Ausnahme der → Sportberichterstattung – die Rundfunkreportage verpönt, weil die Machthaber das mit Live-Übertragungen verbundene Risiko scheuten, bei unvorhergesehenen Ereignissen und Pannen hinter der Propagandafassade verborgene Realitäten öffentlich werden zu lassen. In der Bundesrepublik Deutschland erfuhr die Sozialreportage, allerdings nur in Buchform veröffentlicht, mit den Arbeiten von Michael Holzach und dem verdeckt recherchierenden → Günter Wallraff in den 1970er- und 80er Jahren eine Renaissance.

Gegenwärtiger Zustand:
Im Gegenwartsjournalismus sind echte Reportagen – mit Ausnahme der Sportberichterstattung in Hörfunk und Fernsehen – selten. So genannte Reportagen in den elektronischen Medien werden in der Regel nicht in Echtzeit übertragen, wobei Live-Charakter oft mit Hilfe ausgefeilter Redaktionstechnik vorgetäuscht wird. In der Presse finden sich zwar viele Texte, die reportagehaft beginnen, aber in den meisten Fällen handelt es sich nur um einen eingängigen Einstieg. Die unmittelbare Vermittlung einer Situation geht dann bald über in einen → Bericht oder in die Erörterung eines allgemeinen Themas, möglicherweise wird der Reportagecharakter am Ende noch einmal aufgegriffen (Ringbau). Für diese Mischform, die die Reportage heute nahezu aus Zeitungen und Zeitschriften verdrängt hat, hat sich die unscharfe Genrebezeichnung → Feature eingebürgert. Die echte Reportage ist zu einem Edelgenre für literarisch ambitionierte Journalisten geworden, die solche Arbeiten nicht zuletzt veröffentlichen, um Journalistenpreise zu gewinnen und in Sammelbände (Buchjournalismus) zu gelangen. Bekannte Autoren, von denen Reportagen in Buchform vorliegen, sind z. B. Kai Hermann, Alexander Smoltczyk oder Margrit Sprecher.

Forschungsstand:
Neben der Nachricht ist die Reportage das journalistische Genre, über die die meiste Lehr- und Forschungsliteratur vorliegt. Allerdings finden sich in vielen Lehrkonzepten und Forschungen sowohl Lücken als auch Irrtümer. So gilt → Egon Erwin Kisch einem Großteil der deutschsprachigen Journalistik nach wie vor als der Schöpfer der Reportage, obwohl → Heinrich Heine schon ein Jahrhundert zuvor Berichte mit allen Charakteristika der Reportage publiziert hat. Kisch mag als Schöpfer einer Theorie der Reportage anerkannt werden, in deren Zentrum das für alle Informationsgenres charakteristische Gebot zur Faktizität steht, auch wenn die Bedeutung dieser Komponente in seiner Reportagetheorie umgekehrt proportional zu seinem politischen Engagement als Kommunist schwankte. In einer frühen Phase der Theorieentwicklung hat Kisch den Reporter mit einer fotografischen Platte verglichen, in die sich die Eindrücke von der Reportagesituation detailgenau und ohne subjektive Beimengungen einprägen. Das kommt der Vorstellung vom Reporter als bloßem Medium nahe, durch das sich die Situation dem Rezipienten so vermittelt, als erlebe er sie selbst mit.

Literatur:

Haller, Michael u.a.: Die Reportage. Ein Handbuch für Journalisten. 2. Auflage. München [Ölschläger] 1990

Hermann, Kai; Margrit Sprecher: Sich aus der Flut des Gewöhnlichen herausheben. Die Kunst der Großen Reportage. Wien [Picus] 2001

Holzach, Michael: Deutschland umsonst. Zu Fuß und ohne Geld durch ein Wohlstandsland. Hamburg [Hoffmann und Campe] 1982

Karst, Theodor (Hrsg.): Reportagen. Stuttgart [Reclam] 1976

Kisch, Egon Erwin: Der rasende Reporter. Klassische Reportagen. Hamburg [Rütten und Loening] 1961

Kürbisch, Friedrich G. (Hrsg.): Der Arbeitsmann, er stirbt, verdirbt, wann steht er auf? Sozialreportagen 1880-1918. Berlin/Bonn [J.H.W. Dietz] 1982

Pöttker, Horst: Journalismus unter Goebbels. Über die Kraft der Radioreportage. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 111, 1998, S. 57-76

Pöttker, Horst: Heines Tagesberichte für die „Allgemeine Zeitung“. Ein Beitrag zur Geschichte und Bestimmung der Reportage. In: Jarren, Otfried; Gerd G. Kopper; Gabriele Toepser-Ziegert (Hrsg.): Zeitung. Medium mit Vergangenheit und Zukunft. Eine Bestandsaufnahme. Festschrift aus Anlass des 60. Geburtstages von Hans Bohrmann. München [K.G. Saur] 2000, S. 27-46

Russell, William Howard: Meine sieben Kriege. Die ersten Reportagen von den Schlachtfeldern des 19. Jahrhunderts. Frankfurt/M. [Eichborn] 2000

Siegel, Christian: Die Reportage. Stuttgart [J.B. Metzler] 1978

Smoltczyk, Alexander: Der Wald ohne Schatten. Auf der Suche nach letzten Orten dieser Welt. Berlin [Ch. Links] 1996

Wallraff, Günter: Der Aufmacher. Der Mann, der bei „Bild“ Hans Esser war. Köln [Kiepenheuer & Witsch] 1977

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*1944, Prof. Dr., Gründungsherausgeber des Journalistikons. Von 1996 bis 2013 Professor am Institut für Journalistik der Technischen Universität Dortmund. Seit 2017 Initiator und Mitherausgeber der Online-Zeitschrift Journalistik/Journalism Research. Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Geschichte des Journalismus, Berufsethik, journalistische Darstellungsformen. Kontakt: horst.poettker (at) tu-dortmund.de Horst Pöttker hat Einführungsbeiträge geschrieben zur → Geschichte des Journalismus, → Berufsethik, zu → journalistischen Genres sowie zur → Pressefreiheit.