Social TV

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Wortherkunft: Die Bezeichnung Social TV (dt. soziales Fernsehen) ist eine begriffliche Zusammensetzung aus Fernsehen und → sozialen Medien. Gemeint ist damit die konzeptuelle Synthese aus gemeinschaftlichem und medial vermitteltem sozialen Austausch (Social) über Fernsehinhalte (TV).

Definition und Geschichte:
Der Begriff bezeichnet die mit den digital-vernetzten Kommunikationstechnologien verbundene Möglichkeit, räumlich voneinander getrennte Nutzer während der Rezeption von Fernsehinhalten zu verbinden (Chorianopoulos/Lekakos 2008: 116); eingeführt wurde er zunächst im Bereich der Informations- und Computerwissenschaften. Akzentuiert wird dabei also ein mediales Gemeinschaftserlebnis während des Schauens von Fernsehsendungen als sozio-mediales oder, verkürzt, ‚soziales Fernsehen‘.

Definiert wird Social TV im Wesentlichen als Kombination des „lean-back medium of television“ mit dem „lean-forward mode“ der Nutzung von Internetanwendung vor allem auf Mobilgeräten, über die Nutzer an verschiedenen, zum Teil hochgradig personalisierten und individualisierten Kommunikationsangeboten teilnehmen (Debrett 2015: 558). Allerdings haben sich im Laufe der Jahre unterschiedliche Formen von Social TV ausgebildet. Zu Beginn der 2000er Jahre stellten Set-Top-Box-basierte Entwicklungen wie Amigo TV (Coppens et al. 2004) oder auch die von Siemens vorgestellten Communication Services on TV (COSE, vgl. Gneuss 2006) stationäre Single-Screen-Lösungen dar, die es Zuschauern ermöglichen sollten, Chatprogramme während der Rezeption von TV-Inhalten zu nutzen. Diese Vorformen von heutigen Smart-TVs bezeichnen Schatz et al. (2008) als ,Social TV 1.0‘.

Demgegenüber hat sich mit dem Aufkommen von sozialen Netzwerken wie Facebook und insbesondere Twitter ein mobiles, digital vermitteltes ,fernsehbegleitendes Sprechen‘ (Klemm 2000) über Second Screens (wie Smartphones oder Tablets) etabliert, das aus der alltäglichen Mediennutzung von Zuschauern sozusagen nebenbei entstanden ist (Buschow/Schneider 2015: 18). Der Einsatz von → Social-Media-Anwendungen während der Fernsehrezeption in Form von Second-Screen-Nutzung kann dabei im Anschluss an Schatz et al. (2008) als ,Social TV 2.0‘ bezeichnet werden. Social TV wird in diesem weit verbreiteten Verständnis als eine an das Fernsehen angebundene ,Zusatzfunktion‘ verstanden, die in der Regel aus der Nutzerperspektive definiert wird und analytisch in Vorab-, Parallel- oder Anschlusskommunikation unterschieden werden kann (Chorianopoulos/Lekakos 2008; Han/Lee 2014; Klemm/Michel 2014; Buschow/Schneider/Ueberheide 2014).

Im Zuge der zunehmenden strukturellen Verschränkung von Fernsehen und sozialen Netzwerken wird das mit einem solchen Verständnis von Social TV verbundene hierarchische Verhältnis von Fernsehen (als Primärmedium) und → Social Media (als zusätzliche Sekundärplattformen) mittlerweile kritisch betrachtet. So sprechen etwa Moe, Poell und van Dijck (2016: 100) davon, dass sich aktuelle Formen von Social TV von der Second-Screen-Nutzung wegbewegen zugunsten einer Verknüpfung von Fernsehen und sozialen Netzwerken. Daran anschließend bezeichnet Stollfuß (2019) neuere Ausprägungen als ,Social TV 3.0‘ und versteht dieses ebenfalls nicht mehr nur als Zusatzfunktion des Fernsehens, sondern als strukturelles Konvergenzphänomen, das die Medienlogik des Fernsehens (u. a. Altheide 1987) mit der Logik sozialer Medien (v. a. Dijck/Poell 2013) synchronisiert. ,Social TV 3.0‘ kehrt dabei das Referenzverhältnis von Fernsehen und Social Media um und priorisiert soziale Netzwerke, an deren Plattformlogik sich das Fernsehen und dessen Inhalte strukturell angleichen müssen.

Gegenwärtiger Zustand:
Weit verbreitet ist Social TV als Second-Screen-Phänomen in der medialen Alltagskommunikation von Nutzern (,Social TV 2.0‘). Insbesondere das Kommentieren von Fernsehsendungen auf Twitter während der Rezeption beispielsweise von politischen Talkshows (wie Anne Will), Scripted-Reality-TV-Formaten (wie Berlin, Tag und Nacht), Casting-Shows (z. B. The Voice of Germany) oder auch dem sonntäglichen Tatort geben Einblick in Formen des ,connecting viewings‘ (Holt/Sonson 2014) und die online-basierte Kommunikation über das Fernseherleben in Form medialer (Pseudo-)Gemeinschaften – organisiert über spezifische Hashtags (Wohn/Na 2011).

Für die journalistische Arbeit liefert dies interessante Einblicke. Einerseits kann ein zumeist journalistisch ungefiltertes Positionieren und Profilieren etwa von Politikern zu Themen in einer personalisierten Kommunikationsumgebung beobachtet und als Ressource für die journalistische Arbeit genutzt werden. Anderseits können Second-Screen-Nutzungen Auskunft geben über Partizipationspraktiken von Zuschauern und ihre potentiellen Einflussmöglichkeiten auf Diskursentwicklungen der medialen Öffentlichkeit (Klemm/Michel 2014; Thimm/Bürger 2012).

Darüber hinaus haben sich jüngst integrative Formen im Sinne des ,Social TV 3.0‘ ausgebildet, die auf eine strukturelle Konvergenz von Fernsehen und Social Media abzielen. Gemeint sind damit Formate, die zwar im produktionskulturellen Kontext des Fernsehens entstehen (Akteure, Finanzierung, Produktionsressourcen etc.), die allerdings in der Konzeption bereits für die Verbreitung in sozialen Netzwerken vorgesehen sind. Dabei richten sie sich nach Nutzungsgewohnheiten des Schauens von Inhalten und der Kommunikation über diese Inhalte auf derselben Social-Media-Plattform (zumeist über die App auf dem Smartphone). Ein in Deutschland signifikantes Beispiel hierfür ist das ARD/ZDF-Content-Netzwerk funk. Die mehr als 70 Formate mit den Schwerpunkten ,Orientierung‘ (z. B. Lifestyle), ,Unterhaltung‘ (z. B. Webserien) und ,Information‘ (z. B. Webdokumentationen) sind für eine exklusive Verbreitung in sozialen Medien wie Facebook und YouTube (z. B. die Reportagen von Y-Kollektiv) oder Snapchat (z. B. die Serie iam.serafina) konzipiert. Hier werden also serielle audiovisuelle Produktionen aus dem institutionell-kulturellen Kontext des öffentlich-rechtlichen Rundfunks hergestellt, die jedoch exklusiv für die Veröffentlichung in sozialen Netzwerken konzeptioniert sind.

Die Formate für funk nivellieren die nach innen (d. h. auf Produktions- und Redaktionsorganisationen) sowie die nach außen (d. h. auf Nutzer) gerichteten Aspekte der Multiplattformproduktion (Bechmann Petersen 2006) konsequent im Sinne einer Angleichung an die Logik sozialer Medien. Richtunggebend sind dabei die kommunikationsspezifischen Rahmenbedingungen und Mechanismen der jeweiligen Social-Media-Anwendungen. Die Notwendigkeit für das Projekt funk erklärt das ZDF (2016) wie folgt: „Während neue, innovative Medienangebote auf Drittplattformen wie Facebook, YouTube und Snapchat aus dem Boden schießen, verliert das klassische, lineare Fernsehen in der jungen Zielgruppe immer weiter an Bedeutung. Mit funk reagieren ARD und ZDF auf diesen Wandel.“ Hier wird offensichtlich, dass sich das Referenzverhältnis von TV und Social Media strukturell umkehrt und Inhalte für soziale Medien kein Ergänzungsangebot mehr zum klassischen Rundfunk darstellen.

Forschungsstand:
Die Forschung zu Social TV beschäftigt sich vor allem mit den Nutzungsformen als Bestandteil der medialen Alltagskommunikation. Wie Klemm und Michel (2014: 5) vorgestellt haben, sind dabei eine ganze Reihe an verschiedenen Kategorien zu unterscheiden:

  1. Medien: One-Screen- versus Second-Screen-Nutzung
  2. Zugang: Öffentliche Kommunikation (bspw. auf Twitter), halb-öffentliche Kommunikation (etwa auf bestimmten Senderportalen) und geschlossene Kommunikation (u.a. in WhatsApp-Gruppen)
  3. Kommunikationsrichtung: Adressierung von Zuschauern durch Sender und Redaktionen oder umgekehrt, Kommunikation zwischen Zuschauern (Community-Strukturen)
  4. Organisationsgrad: Professionell-strategisch (etwa als redaktionelles Kommentieren), spontan und improvisiert (als freies Kommentieren) oder freies Kommentieren zu redaktionell vorbereiteten Inhalten und Aspekten (z. B. sendungsbezogene Hashtags oder sendereigene Plattformen)
  5. Inhalte/Funktionen: Reaktionen auf Diskussionen bspw. in Talkshows, Abstimmungen, Gewinnspiele, Celebrity-Chats etc.
  6. Zeitliche Differenzierung: Vorab-, Parallel- oder Anschlusskommunikation; temporär und termingebunden (bspw. zu einer Live-Sendung) oder dauerhaft (etwa als regelmäßige Diskussion u. a. in WhatsApp-Gruppen)

Zudem hat sich die Forschung mit Fragen zum Potential von Social TV zum Zweck der Zuschauerrückbindung an das Fernsehen befasst (Buschow et al. 2013; Busemann/Tippelt 2014) oder hat die Second-Screen-Nutzung zu Fernsehinhalten als Instrument der Zuschauerforschung und -messung untersucht (Deller 2011; Wohn/Na 2011; Franzen/Naumann/Dinter 2015).

Im Zuge der Weiterentwicklung von ,Social TV 3.0‘-Formen und den damit verbundenen Anpassungen in den strategischen Ausrichtungen von Sendern rücken zunehmend auch Fragen der veränderten Produktion und Distribution in den Blick. Lahey (2016) untersucht dazu die veränderte strategische Einbindung von User-Generated Content (UGC) in TV-Inhalte durch von Sendern eingesetzte ,audience engagement frames‘ zur verstärkten (und orchestrierten) Partizipation von Zuschauern. Auch Stollfuß (2018, 2019) analysiert jüngere Ausprägungen von Social TV mit Hilfe eines 4-Ebenen-Modells.

Dabei geht es um (1) eine vergleichende Betrachtung der strategischen Veränderungen in der ,Media Policy‘ von Senderverantwortlichen (z. B. in Strategie- und Strukturreformpapieren, Social-Media-Leitlinien usw.). Das betrifft vor allem die Diskussion um Veränderungen der politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen sowie die Umstrukturierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks hin zu Public-Service-Medien und der damit verknüpften Probleme wegen der Einbindung kommerzieller Social-Media-Dienste.

Ferner beeinflusst die Ausrichtung an den Plattformbedingungen sozialer Medien (2) die Redaktions- und Produktionsprozesse, wenn sich Produktionsphasen verkürzen, zum Teil mit Tools und Technik improvisiert werden muss und der Produktionsprozess mitunter direkter mit den Nutzern abgestimmt werden soll (um ein Angebot z. B. auf Snapchat oder Facebook zu realisieren).

Auf der (3) inhaltlichen und formatspezifischen Ebene muss ebenfalls experimentiert werden, wenn etwa Genreformate (wie z. B. Scripted-Reality) für Snapchat, Reportagen für YouTube und Facebook oder Nachrichten für Instagram umzusetzen sind. Welche Hybridisierungsformen entstehen, welche neuen Formate bilden sich heraus, was wird von Nutzern angenommen und was nicht?

Mit den Veränderungen von Inhalten in ihrem exklusiven Social-Media-Umfeld sind auch (4) Adressierungsformen und ein angepasstes Angebotsspektrum verknüpft, um Nutzer verstärkt einzubeziehen. Die Einbindung und Mitspracherechte von Nutzern und strategische Kommunikationsframes beschäftigen gegenwärtig die Forschung zu neuen Formen von Social TV.

Literatur:

Altheide, David L.: Media Logic and Social Interaction. In: Symbolic Interaction, 10(1), 1987, S. 129-138.

Bechmann Petersen, Anja: Internet and Cross Media Productions. In: Australian Journal of Emerging Technologies and Society, 4(2), 2006, S. 94-107.

Buschow, Christopher; Beate Schneider: Social TV in Deutschland. Eine Einführung in Begrifflichkeiten und Forschungsbereiche. In: Buschow, Christopher; Beate Schneider (Hrsg.): Social TV in Deutschland. Eine Einführung in Begrifflichkeiten und Forschungsbereiche. Leipzig [Vistas] 2015, S. 11-35.

Buschow, Christopher; Beate Schneider; Simon Ueberheide: Tweeting Television. Exploring Communication Activities on Twitter while Watching TV. In: Communications, 39(2), 2014, S. 129-149.

Buschow, Christopher, et al.: Social TV in Deutschland. Rettet soziale Interaktion das lineare Fernsehen? In: MedienWirtschaft, 10(1), 2013, S. 24-32.

Busemann, Katrin; Florian Tippelt: Second Screen. Parallelnutzung von Fernsehen und Internet. In: Media Perspektiven, 7-8, 2014, S. 408-416.

Chorianopoulos, Konstantinos; George Lekakos: Introduction to Social TV. Enhancing the Shared Experience with Interactive TV. In: International Journal of Human-Computer Interaction, 24(2), 2008, S. 113-120.

Coppens, Toon et al.: AmigoTV. Towards a Social TV Experience. Paper presented at the Proceedings from the Second European Conference on Interactive Television. University of Brighton, 2004. https://pdfs.semanticscholar.org/c512/7d43dbcce964b18bbf59514c7835edfbca93.pdf.

Debrett, Mary: Tools for Citizenship?. Public Service Media as a Site for Civic Engagement. An Australian Case Study. In: Television & New Media, 16(6), 2015, S. 557-575.

Deller, Ruth: Twittering On. Audience Research and Participation using Twitter. In: Participations. Journal of Audience & Reception Studies, 8(1), 2011, S. 216-245.

Dijck, José van; Thomas Poell: Understanding Social Media Logic. In: Media and Communication, 1, 2013, S. 2-14.

Franzen, Christian; Stephan Naumann; Helena Dinter: Neue Verfahren der Reichweitenmessung für Social TV Kommunikation. In: Buschow, Christopher; Beate Schneider (Hrsg.): Social TV in Deutschland. Eine Einführung in Begrifflichkeiten und Forschungsbereiche. Leipzig [Vistas] 2015, S. 261-275.

Gneuss, Michael: Rekordjagd auf der Datenautobahn. Handelsblatt, 13.03.2006. http://www.handelsblatt.com/technik/it-internet/immer-hoehere-uebertragungsraten-rekordjagd-auf-der-datenautobahn-seite-2/2627404.html. [21.04.2020]

Han, Eunyoung; Sang-Woo Lee: Motivations for the Complementary Use of Text-Based Media During Linear TV Viewing. An Exploratory Study. In: Computers in Human Behavior, 32, 2014, S. 235-243.

Holt, Jennifer; Kevin Sonson (Hrsg.): Connected Viewing. New York [Routledge] 2014.

Klemm, Michael; Sascha Michel: Social TV und Politikaneignung. Wie Zuschauer die Inhalte politischer Diskussionssendungen via Twitter kommentieren. In: Zeitschrift für angewandte Linguistik, 60(1), 2014, S. 3-35.

Klemm, Michael: Zuschauerkommunikation. Formen und Funktionen der alltäglichen kommunikativen Fernsehaneignung. Frankfurt/M. [Peter Lang] 2000.

Lahey, Michael: The Framing of Value. Television, User-Generated Content, and Interactive Involvement. In: Convergence. The International Journal of Research into New Media Technologies, 22(6), 2016, S. 633-646.

Moe, Hallvard; Thomas Poell; José van Dijck: Rearticulating Audience Engagement. Social Media and Television. In: Television & New Media, 17(2), 2016, S. 99-107.

Schatz, Raimund et al.: Getting the Couch Potato to Engage in Conversation. Social TV in a Converging Media Environment. Sharing Content and Experiences with Social Interactive Television. Proceedings, Workshop at EuroITV 2008, Salzburg. https://www.academia.edu/812713/Getting_the_Couch_Potato_to_Engage_in_Conversation_Social_TV_in_a_Converging_Media_Environment [25.04.2016]

Stollfuß, Sven: Is This Social TV 3.0? On Funk and Social Media Policy in German Public Post-Television Content Production. In: Television & New Media, 20(5), 2019, S. 509-524.

Stollfuß, Sven: Between Television, Web and Social Media. On Social TV, About:Kate and Participatory Production in German Public Television. In: Participations. Journal of Audience & Reception Studies, 15(1), 2018, S. 36-59.

Thimm, Caja; Tobias Bürger: Digitale Citoyens. Politische Partizipation in Zeiten von Social Media. Bonn [Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik] 2012.

Wohn, D. Yvette; Eun-Kyung Na: Tweeting About TV: Sharing Television Viewing Experiences Via Social Media Message Streams. In: First Monday, 16(3), 2011.

ZDF: Was ist funk?, 2016. https://www.zdf.de/sender/funk/funk-100.html. [08.05.2020]

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Sven Stollfuss
*1981, J.-Prof. Dr., ist seit 2016 Juniorprofessor für Digitale Medienkultur an der Universität Leipzig. Er studierte in Marburg Medienwissenschaft, Neuere deutsche Literatur und Europäische Ethnologie. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Social Media und Fernsehen, Social TV, digitale Medien und partizipative Produktionskulturen. Kontakt: sven.stollfuss (at) uni-leipzig.de.