Theodor Wolff

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Wolff, Theodor, geb. 2.8.1868 in Berlin, gest. 23.9.1943 in Berlin.

Theodor Wolff ist heute präsent als Namensgeber des vom Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger verliehenen Journalistenpreises. Seine bleibende Bedeutung liegt in seinem Wirken als Journalist und Publizist, besonders als Auslandskorrespondent, dann Chefredakteur, des Berliner Tageblatts, dessen spätwilhelminische und Weimarer Epoche mit seinem Namen verbunden ist wie die der Vossischen Zeitung mit Georg Bernhard.

Theodor Wolff stammte aus jüdischer Familie, war jedoch selbst nicht gläubig. Er trat 1887 in den Verlag seines deutlich älteren Cousins Rudolf Mosse ein, zunächst in die kaufmännische Abteilung, dann in die Redaktion. Parallel publizierte er Romane, schrieb Theaterstücke und engagierte sich in der Berliner Theaterszene.

1894 wurde er als Korrespondent des BT nach Paris entsandt, was seinen Durchbruch ermöglichte. Von der Seine lieferte Wolff neben → Theaterkritiken (er schrieb selbst weiter Stücke) Artikel, die nicht nur französische Verhältnisse beleuchteten, sondern zugleich das wilhelminische Deutschland kritisierten, dessen Antisemitismus, nationalen Chauvinismus, Militarismus, Standesdünkel und Obrigkeitsdenken. Bekannt sind seine Artikel über die Verfolgung des jüdischen Hauptmanns Dreyfus wegen angeblicher Spionage für Deutschland, den Justizskandal der sogenannten ,Dreyfus-Affäreʻ, die Frankreich in ein fortschrittliches, vom Romancier Émile Zola angeführtes, und ein reaktionäres Lager spaltete.

1906 bot Mosse dem Cousin die Chefredaktion des BT an, die Wolff dann bis 1933 innehatte; er prägte die redaktionelle Linie mit einem wöchentlichen Leitartikel. Er warnte vor der Großbritannien provozierenden Flottenrüstung und setzte sich für die Herausbildung einer parlamentarischen Demokratie ein, gegen das Dreiklassenwahlrecht in Preußen und die illiberalen Grundzüge der Reichsverfassung. Das Blatt stieg im In- und Ausland in die erste Reihe der deutschen Zeitungen auf, auch die Auflage wuchs auf mehr als 200.000.

Als das BT 1916 den ,Burgfriedenʻ brach und die Kriegszielfrage öffentlich diskutierte, wurde es Opfer der Zensur (Beschlagnahme, einwöchiges Erscheinungsverbot Anfang August sowie Boykott der Zeitung durch Regierung und Behörden), worauf Wolff in einen unerklärten Veröffentlichungsstreik trat, was im Ausland propagandistisch genutzt wurde.

1918 gehörte Wolff zu den Gründern der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei. Er zog sich bald zurück und trat 1926 aus (Anlass war die Zustimmung der DDP zum ,Schmutz- und Schundgesetzʻ); zuvor hatte er noch 1924 die Entlassung von Redakteuren des Schwester-Blatts Berliner Volkszeitung erwirkt – darunter Carl von Ossietzky –, die sich der (weiter links stehenden) Republikanischen Partei angeschlossen hatten.

Als Blatt eines jüdischen Verlegers, mit jüdischem Chefredakteur und vielen jüdischen Journalisten, Lesern und Anzeigenkunden, war das BT Zielscheibe antisemitischer Hetze. Wolff, das BT und allgemein die „Judenpresse“ wurden unter absurden Verdrehungen beschuldigt, die deutsche Niederlage ebenso verursacht zu haben wie die spätere Annahme des Versailler Vertrags.

In den 1920er-Jahren erreichte das BT den Höhepunkt seines Prestiges. Viele der besten Journalisten schrieben für die Zeitung. Parallel rückte aber die Gesellschaft nach rechts und die Auflage fiel; ab Mitte der 1920er-Jahre, noch vor der Weltwirtschaftskrise, erwirtschaftete das BT Verluste. Nach Mosses Tod 1920 übernahm den Konzern dessen Schwiegersohn Hans Lachmann-Mosse, mit dem Wolff sich überwarf, ohne dass man sich offen trennte. Spätestens 1930 war der Konzern faktisch insolvent, was aber bis 1933 verschleppt wurde. Die Jahre 1930-33 waren somit Krisenjahre, die Agonie der Weimarer Republik auch die des BT, das mit weiter geschrumpfter Auflage zur Republik stand, während Wolff außenpolitisch mit Mussolini liebäugelte, von dem er 1928-30 mehrmals empfangen worden war.

Nach dem Reichstagsbrand brachte sich Wolff im Ausland in Sicherheit und ließ sich schließlich in Frankreich nieder. Von den Bestrebungen der Exilpresse, etwa des Pariser Tageblatts, hielt er sich fern (am 10. Mai 1933 wurden auch seine Schriften verbrannt; ausgebürgert wurde er 1937) und veröffentlichte u. a. Bücher über Kaiserreich und Kriegsausbruch. Einige in dieser Zeit entstandene Schriften, so sein letztes Manuskript Die Juden, wurden erst Jahrzehnte später posthum publiziert. Am 23. Mai 1943 wurde er in Nizza von der italienischen Besatzungsmacht verhaftet. Auf seine Übergabe an die Gestapo folgte eine Odyssee durch Gefängnisse und Konzentrationslager, bevor er, nach unmenschlichen Strapazen geschwächt und schwer erkrankt, im jüdischen Krankenhaus Berlin am 23. September 1943 starb.

Durch den Journalistenpreis, der seinen Namen trägt, ist er weiter gegenwärtig. Seine eigenen journalistischen Texte sind trotz verdienstvoller, meist von Bernd Sösemann veranlasster Kompilationen weniger präsent: Leitartikel, Korrespondentenberichte und auch Kritiken sind eben sehr zeitbezogen und können nach rund 100 Jahren nicht so fesseln, wie manche damalige Reportagen oder Glossen es vielfach heute noch tun.

Literatur:

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Bosch, Michael: Liberale Presse in der Krise. Die Innenpolitik der Jahre 1930 bis 1933 im Spiegel des „Berliner Tageblatts“, der „Frankfurter Zeitung“ und der „Vossischen Zeitung“. Bern u. a. [Herbert Lang/Peter Lang] 1976.

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Fabisch, Dieter: Der Publizist Theodor Wolff. Kriegsentstehung und -ziele in seinen Tagebüchern 1914-1919. München [M-Press] 2004.

Goldbach, Christel: Distanzierte Beobachtung. Theodor Wolff und das Judentum. „… es sind zwar nicht meine Kerzen, aber ihr Licht ist warm“. Oldenburg [Bibliotheks- und Informationssystem der Universität] 2002.

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Koszyk, Kurt: Theodor Wolff. Die Brille des Feuilletonisten. In: Ders.: Publizistik und politisches Engagement. Lebensbilder publizistischer Persönlichkeiten. Münster [Lit] 1999, S. 449-452.

Platthaus, Andreas: Der Tanz zwischen Dornenspitzen: die journalistische Rhetorik Theodor Wolffs im Ersten Weltkrieg. In: Publizistik 41, 1996, 4, S. 409-427.

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Schwarz, Gotthart: Theodor Wolff und das „Berliner Tageblatt“. Eine liberale Stimme in der deutschen Politik 1906-1933. Tübingen [J. C. B. Mohr (Paul Siebeck)] 1968.

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Zimmer-Wagner, Birgit: Theodor Wolff und der Erste Weltkrieg 1914-1918. Ein Journalist zwischen Anpassung und Rebellion. Frankfurt am Main [Lang] 2005.
(Foto: gemeinfrei)

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Daniel Müller
*1969, Dr. phil., Dipl.-Journalist, M. A., hat Journalistik, Geschichte und Orientalistik in Dortmund und Bochum studiert und in Neuerer Geschichte promoviert. Er war 1996-1998 sowie 2002-2009 wissenschaftlicher Angestellter am Institut für Journalistik (Dortmund), von 1998-2002 am Historischen Institut (Bochum). Von 2009 bis 2015 leitete er das Graduiertenprogramm der sozial- und geisteswissenschaftlichen Fakultäten der TU Dortmund. Seit 2016 ist er Leiter des House of Young Talents zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses der Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: Sowjetische Nationalitätenpolitik, Pressegeschichte, Medien und ethnische Minderheiten.