Boulevardisierung

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Wortherkunft: Boulevard (frz.) – Prachtstraße, Flaniermeile; Boulevardzeitungen sind Straßenverkaufszeitungen, die früher im Handverkauf, später am Kiosk vertrieben wurden.

Definition:
Als Boulevardisierung werden jene inhaltlichen, ästhetischen und formalen Gestaltungsmerkmale bezeichnet, mit denen Journalismus auf populäre Weise ein → Massenpublikum adressiert.

Geschichte:
Der Begriff ‚Boulevardjournalismus‘ referiert historisch auf jene Printmedien, die jeden Tag erneut die Aufmerksamkeit ihrer Leserschaft am Kiosk („auf dem Boulevard“) erzielen müssen. Charakterisiert ist sie durch populäre → Inhalte, eine leicht verständliche Sprache, einen niedrigen Einzelverkaufspreis, die Adressierung an ein Massenpublikum sowie eine primäre Finanzierung durch Anzeigen (vgl. Renger 2000: 42-43). Als erfolgreiches Geschäftsmodell entwirft die Massenpresse damit eine Integrationskultur, in der Information und Räsonnement, Publizistik und Belletristik, Unterhaltung und Ratgeber einen gemeinsamen Raum finden, der „elastisch genug [ist], sich gleichzeitig auch Elemente der Werbung zu assimilieren, ja, selber als eine Art Super-Slogan zu dienen“ (Habermas 1990: 211).
Boulevardjournalismus beschreibt damit jene Formen der Berichterstattung, die durch extreme Verknappung und Zuspitzung, oftmals Skandalisierung und Trivialisierung gekennzeichnet sind. Ästhetisch wird auf Mittel des Exzesses und radikale Fokussierung der Aufmerksamkeit gesetzt. Die im englischsprachigen Raum verwendete Bezeichnung tabloid press verweist ebenfalls auf technische Rahmenbedingungen – hier die Größe des Seitenformats, traditionell ca. die Hälfte von broadsheet papers – als Grundlage für eine kategoriale Unterscheidung zwischen sogenanntem Qualitäts- und Boulevardjournalismus. Boulevard-Formate haben sich auch jenseits von Tageszeitungen etabliert. Als yellow press oder people’s magazines finden sich eine Vielzahl an Boulevard-Titeln im Zeitschriftenmarkt und auch im Fernsehen ist von ‚Boulevard-Magazinen‘ bzw. ‚Tabloid-TV‘ die Rede (Lünenborg 2016).

Gegenwärtiger Zustand:
Unter Bedingungen verstärkt digitaler Medienproduktion und -rezeption sind statische Kategorisierungen entlang technischer Gestaltung oder Distributionsformen längst obsolet geworden. Bei zunehmender online-Nutzung von Medienangeboten unterliegt jeglicher journalistische Beitrag – ob als → Nachricht, → Reportage, als → Audio– oder → Videoformat – dem Wettstreit um Aufmerksamkeit bei zunehmender Vielfalt anderer Angebote. Der Einsatz von aufmerksamkeitsheischenden visuellen oder textlichen Elementen zur Steigerung von Zugriffszahlen auf ein journalistisches Angebot in Form von → Clickbaiting kann entsprechend als Adaption boulevardjournalistischer Mittel in online-Umgebungen begriffen werden.
Als Boulevardisierung werden damit inhaltliche, formale und ästhetische Mittel der Themenselektion, -aufbereitung und -darstellung im Journalismus verstanden, die unabhängig vom Medientypus auffindbar sind. Darunter fallen Formen der Skandalisierung, der Privatisierung und Intimisierung sowie formal-ästhetische Mittel der Übertreibung und des Exzesses, die mit dem expliziten Erzeugen von Emotionen einhergehen.

Forschungsstand:
Der Begriff Boulevardisierung wird uneinheitlich eingesetzt, ist deshalb unscharf und entsprechend schwierig empirisch überprüfbar. Eine dichotome Unterscheidung zwischen sogenanntem Qualitäts- und Boulevardjournalismus erscheint heute mehr denn je fragwürdig, werden Mittel der Zuspitzung, Personalisierung und Skandalisierung, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, quer durch unterschiedliche Ressorts und Medienformate verwandt.
Charakteristisch ist dabei die inhaltliche Konzentration auf ‚soft news‘, jene Nachrichten also, die nicht nach traditionellen Kriterien gesellschaftlicher Relevanz gewählt werden. Reinemann et al. (2012) haben deutlich gemacht, dass in der wissenschaftlichen Analyse die Unterscheidung zwischen ‚hard news‘ und ‚soft news‘ hochgradig uneinheitlich verwendet wird. Beschrieben werden damit sowohl Unterschiede in den Inhalten, in ihrer Präsentation wie auch unterschiedliche Zeitbezüge, die Dringlichkeit zu erzeugen versuchen. Forschung zu ‚soft news‘ betrachtet deren Produktionskontexte ebenso wie spezifische Formen der Rezeption. In digital vernetzten Medienumgebungen gewinnt dies nachdrücklich an Bedeutung: So wird die Zuwendung zu journalistischen Angeboten zunehmend weniger von redaktionellen Selektionsentscheidungen bestimmt, als vielmehr von „affektiven Medienpraktiken“ (Lünenborg/Maier 2019) anderer Nutzer*innen, die durch Liken, Sharen und Kommentieren ihre Präferenzen im eigenen Netzwerk weiterreichen und damit Medienrepertoires beeinflussen (Peters et al. 2021).
Auf der inhaltlichen Ebene lässt sich Boulevardisierung gegenüber Begriffen wie Infotainment oder ‚marktförmigem Journalismus‘ nicht klar unterscheiden. Langer (1998) bezeichnet diese Nachrichten aus der Welt der Prominenz, des Exotischen und Spektakulären als ‚other news‘. Ästhetisch werden Stilmittel der Dramatisierung, Emotionalisierung und Übertreibung eingesetzt. Dabei bilden Gegensätze zwischen dem ‚wir’ der Leser*innenschaft und dem Gegenüber – wahlweise ‚denen da oben’, der Prominenz, den Fremden – ein wesentliches Grundmuster der Erzählung (vgl. Hartley 1996; Langer 1998). Boulevardmedien werden dabei nicht selten selbst zu beteiligten Akteur*innen: Sie inszenieren sich als Interessenvertretung ihrer Leser*innenschaft. Durch Muster der → Personalisierung, Intimisierung und Privatisierung werden abstrakte, komplexe Zusammenhänge auf einzelne Personen oder personalisierte Konflikte reduziert. Durch Neuigkeiten über Prominente sowie ‚human interest‘-Themen werden veralltäglichte Identifikationsräume geschaffen. Politisch wird damit Status-quo-Sicherung gewährleistet. Mehrheitsfähigkeit ist der ökonomische Imperativ.
Ökonomisch und publizistisch zielen Boulevardformate so auf ein möglichst breites → Publikum und gewinnen damit publizistische Macht. Die Medienforschung wendet sich diesem Phänomen aus zwei entgegengesetzten Richtungen zu: Auf der einen Seite wird insbesondere in der politischen Kommunikationsforschung die manipulative Macht von Boulevardmedien und unterhaltungsorientierter Kommunikation herausgearbeitet, wobei der Trend fortschreitender Boulevardisierung als zunehmender Qualitätsverlust betrachtet wird (bspw. Berg 2018; Landmeier/Daschmann 2011; Donsbach/Büttner 2005). Auf der anderen Seite fragen Arbeiten in der Tradition der Cultural Studies nach dem Integrationspotenzial populärer Medienangebote (bspw. Bruck/Stocker 1996; Hartley 1996; Bird 1992, 2009). Brichta (2011) macht in ihrer Analyse deutscher und britischer Leser*innen von Boulevard-Zeitungen sichtbar, wie britische und deutsche Identität in der Lektüre hergestellt wird. Dabei entsteht Zugehörigkeit und Abgrenzung mit Blick auf soziale, nationale und kulturelle Dimensionen. Deutlich wird dabei, dass die Suche nach Informationen und Unterhaltungsorientierung nicht alternative, sondern komplementäre Nutzungsweisen populärer Medienangebote sind.

Literatur:

Berg, Helena: Wissenschaftsjournalismus zwischen Elfenbeinturm und Boulevard. Eine Langzeitanalyse der Wissenschaftsberichterstattung deutscher Zeitungen. Wiesbaden [Springer] 2018.

Bird, S. Elizabeth: For Enquiring Minds: A Cultural Study of Supermarket Tabloids. Knoxville [University of Tennessee Press] 1992.

Bird, S. Elizabeth: Tabloidization: What is it and does it really matter? In: Barbie Zelizer (Hg.): The changing faces of journalism: tabloidization, technology and truthiness. London [Routledge] 2009, S. 40-50.

Brichta, Mascha K.: „Love it or loathe it“. Audience responses to Tabloids in the UK and Germany. Bielefeld [Transcript] 2011.

Bruck, Peter A.; Günther Stocker: Die ganz normale Vielfältigkeit des Lesens. Zur Rezeption von Boulevardzeitungen. Münster [Lit] 1996.

Donsbach, Wolfgang; Katrin Büttner: Boulevardisierungstrends in deutschen Fernsehnachrichten. Darstellungsmerkmale der Politikberichterstattung vor den Bundestagswahlen 1983, 1990 und 1998. In: Publizistik, 50, 1, 2005, S. 21-38.

Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt a. M. [Suhrkamp] 1990.

Hartley, John: Popular reality: journalism, modernity, popular culture. London u. a. [Arnold] 1996.

Landmeier, Christine; Gregor Daschmann: Im Seichten kann man nicht ertrinken? Boulevardisierung in der überregionalen deutschen Qualitätspresse. In: Roger Blum et al. (Hg.): Krise der Leuchttürme öffentlicher Kommunikation. Vergangenheit und Zukunft der Qualitätsmedien. Wiesbaden [VS] 2011, S. 177-191.

Langer, John: Tabloid television: Popular journalism and the „other news“. London [Routledge] 1998.

Lünenborg, Margreth: Boulevardisierung im Journalismus. In: Meier, Klaus; Christoph Neuberger (Hg.): Journalismusforschung: Stand und Perspektiven. Baden-Baden [Nomos Verlagsgesellschaft] 2016, S. 319-338.

Lünenborg, Margreth; Tanja Maier: Analyzing Affective Media Practices by the Use of Video Analysis. In: Kahl, Antje (Hg.): Analyzing Affective Societies. Methods and Methodologies. New York [Routledge] 2019, S. 140-161.

Peters, Chris; Kim Christian Schrøder; Josephine Lehaff; Julie Vulpius: News as They Know It: Young Adults’ Information Repertoires in the Digital Media Landscape, Digital Journalism, 2021. DOI: 10.1080/21670811.2021.1885986

Renger, Rudi: Populärer Journalismus: Nachrichten zwischen Fakten und Fiktion. Innsbruck u.a. [Studienverlag] 2000.

Reinemann, Carsten; James Stanyer; Sebastian Scherr; Guido Legnante: Hard and soft news: A review of concepts, operationalizations and key findings. In: Journalism, 13, 2, 2012, S. 221-239.

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Margreth Luenenborg
*1963, Prof. Dr., ist seit 2009 Professorin für Kommunikationswissenschaft mit dem Schwerpunkt Journalistik an der Freien Universität Berlin. Nach ihrem Journalistik-Studium an der Universität Dortmund arbeitete sie als Journalistin und in der politischen Öffentlichkeitsarbeit. Als Wissenschaftlerin arbeitete sie u.a. an der Uni Leipzig und der Uni Siegen bevor sie den Ruf an die FU Berlin annahm. Forschungsschwerpunkt liegen neben der Journalismusforschung in den Bereichen populäre Medienformate, Gender Media Studies, Migration und Medien sowie der Bedeutung von Emotionen im öffentlichen Diskurs. Foto: Miriam Klingl