Cancel Culture

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Wortherkunft: Der Begriff ‚Cancel Culture‘ beruht auf dem englischen Verb ‚to cancel‘, was mit ‚absagen‘, ‚löschen‘ übersetzt werden kann. Wie ‚Political Correctness‘ gehört ‚Cancel Culture‘ zu den zuerst im US-amerikanischen Kontext verwendeten Begriffen. Während ‚Political Correctness‘ seit den 1990er Jahren in Deutschland als „ideologischer Code, Feindbild und Stigmawort der Rechten“ (Auer 2002) etabliert ist, taucht ‚Cancel Culture‘ erst seit 2019 häufiger in deutschsprachigen Medien auf und wird seitdem kontrovers diskutiert.

Für die USA spielen populärkulturelle Erfahrungen, die bis in die 1980er Jahre zurückreichen, eine wesentliche Rolle für die Etablierung und Verwendung des Begriffes. So sei der Song ‚Your love is cancelled‘ der Band Chic von 1981 inspirierend gewesen für eine Szene des zehn Jahre später erscheinenden Films New Jack City, in der der Hauptdarsteller auf die Vorwürfe, ein Mörder zu sein, mit „Cancel that bitch“ reagiert. Der 2014 in einer Reality Show regelmäßig fallende Satz „You´re canceled“ verbreitete sich alsbald auch via Social Media. Verwendet wurde er ironisierend in Anspielung an die Film- und Fernseh-Vorläufer, doch auch um bestimmte Aussagen zu kritisieren oder aber den Umgang mit Personen, die sie getroffen haben.

Für seine weitere Verbreitung sorgten sowohl in den USA als auch in Deutschland neben → Social Media etablierte journalistische Medien, in denen anhand einzelner Fälle und Personen grundsätzlich danach gefragt wurde, was öffentlich ‚sagbar‘ ist und wie weit Freiheitsrechte in einer liberalen Demokratie gehen. Der Metadiskurs über die Debattenkultur und eine möglicherweise zunehmende Polarisierung der Gesellschaft fragt jedoch selten nach dem Ursprung des Begriffs und nach der Verbindung von ‚canceln‘ und ‚culture‘.

Ursprünglich im linken Milieu entstanden und in der Absicht verwendet, gegen Ausgrenzung und sexuelle wie rassistische Diskriminierung vorzugehen, hat Cancel Culture ähnlich wie Political Correctness eine Umdeutung bzw. Aneignung durch rechtskonservative und -extreme Politiker:innen und Publizist:innen erfahren. Cancel Culture steht aus ihrer Sicht gerade nicht für Kultur, sondern für eine ‚Unkultur‘ sich moralisch überlegen dünkender ‚Gutmenschen‘ (zur Karriere dieses Begriffes siehe Auer 2002), so wie Political Correctness für eine ‚Überkorrektheit‘ stehe, die letztlich einschränkend wirke. Diejenigen, die der Verwendung des Begriffs skeptisch gegenüberstehen und ihn als „Kampfbegriff“ (Geier 2020) sehen, halten dem entgegen, dass sich hinter jener Argumentation Ängste und Ablehnung verbergen, oder wie Danielle Butler (2018) formuliert: „… discomfort with the kinds of people who now have a voice and their audacity to direct it towards figures with more visibility and power.“ Für Semíramis (2019) geht es dabei auch um die bewusste oder unbewusste Verteidigung männlicher, weißer Privilegien. Tatsächlich gecancelt worden – Semíramis präzisiert: „enslaved, abused, and erased“ – seien über Jahrhunderte die Menschen, die jetzt ihre Stimmen erheben: „… black, or female, trans, or gay, or all of the above“.

Definition:
In der Antwort der Bundesregierung vom 23. April 2021 auf die Kleine Anfrage der AfD-Fraktion zu „Cancel Culture als mögliche Bedrohung der Meinungsfreiheit“ findet sich folgende Aussage: „Bei ‚cancel culture‘ handelt es sich um einen weder klar abgrenzbaren noch unumstrittenen Begriff, den die Bundesregierung sich nicht zu eigen macht und zu dem sie nicht verallgemeinernd Stellung nimmt.“ (Drucksache 19/28966) Ähnlich äußert sich Pippa Norris (2021: 4): „Some feel that the term has become so over-loaded in partisan rhetoric as a catch-all term of abuse for stuff people do not like, and so confused and contradictory in popular usage, that it cannot and should not be redeemed.”

Dennoch lässt sich festhalten, dass es bei Cancel Culture um das gezielte Nicht-zu-Wort-kommen-Lassen von Personen aufgrund ihrer Handlungen und/oder Meinungen geht. Eve Ng (2020: 623) bezeichnet Cancel Culture als „the withdrawal of any kind of support (viewership, social media follows, purchases of products endorsed by the person, etc.) for those who are assessed to have said or done something unacceptable or highly problematic”. Dieser Entzug der Unterstützung und das Verwehren einer öffentlichen Bühne geschehen nach Handlungen und Aussagen, die als sexistisch, homophob, rassistisch, antisemitisch, also letztlich diskriminierend gelten.

In der deutschsprachigen medialen Debatte wird der Begriff Cancel Culture zumeist beibehalten, da es keine passende Übersetzung gibt. ‚Lösch-Kultur‘ trifft es nicht ganz, und so versuchen Autor:innen, anhand konkreter Fälle zu erklären, worum es geht.

Geschichte und gegenwärtiger Zustand:
Fraglich aber ist: „Wann wird aus Einzelfällen eine ‚Kultur‘?“ (Meierfrankenfeld 2021) Zudem: Hat es Boykottaufrufe nicht schon immer gegeben? So erinnert Martina Thiele (2021) an das ‚Lüth-Urteil‘ des Bundesverfassungsgerichts von 1958, dem der Aufruf Erich Lüths vorausgegangen war, den aktuellen Film des Regisseurs und Nazi-Kollaborateurs Veit Harlan zu boykottieren. Ein früher Fall von Cancel Culture? Das höchste deutsche Gericht sah Lüths Äußerungen durch das Grundrecht auf → Meinungsfreiheit gedeckt.

Trotz ähnlicher Vorkommnisse in der Vergangenheit wird der Begriff ‚Cancel Culture‘ in Deutschland erst seit einigen Jahren verwendet. Einzelne Fälle aus den Bereichen Kunst und Kultur, Wissenschaft und Politik gelten als Beleg für das Verdrängen missliebiger Personen und Positionen sowie eine zunehmende Moralisierung öffentlicher Debatten. Wiederholt verwiesen wird auf das Entfernen des Gedichts Avenidas von Eugen Gomringer am Gebäude der Alice Salomon Hochschule in Berlin, auf Aussagen von Wissenschaftler:innen, Kabarettist:innen und Schauspieler:innen, die zu Kritik und Ausladungen führten, oder auch auf mögliche Parteiausschlussverfahren gegen prominente Politiker:innen wie zuletzt Sahra Wagenknecht, Boris Palmer oder Gerhard Schröder. Die Fälle sind sehr unterschiedlich und es geht häufig ‚nur‘ um Meinungen und Haltungen, nicht um strafrechtlich relevante Aussagen und Handlungen. Doch auch im Zusammenhang mit Anzeigen wegen sexualisierter Gewalt, zuletzt gegen Johnny Depp oder Luke Mockridge, ist die Rede von Cancel Culture und ‚Berufsverboten‘, was Kritiker:innen des Cancel-Culture-Vorwurfs wiederum als Reaktion auf erfolgreichen, feministischen Hashtag-Aktivismus à la #metoo und #aufschrei deuten.

Seit 2019 ist ein deutlicher Anstieg der Beiträge zu Cancel Culture in deutschsprachigen, journalistischen Medien wie auch in Social Media zu verzeichnen. Im Zuge der Corona-Pandemie hat die Debatte darüber, was öffentlich sagbar und politisch geboten ist, noch einmal an Heftigkeit zugenommen. Offenbar zahlt sich das Thematisieren von Cancel Culture aus, führt Skandalisierung zu höheren Auflagen, Quoten, Klickzahlen und (Dis)likes. Cancel Culture ist kein Fremdwort, der Cancel-Culture-Diskurs kein Spezialdiskurs mehr, sondern Mainstream.

Als besondere Herausforderung für den Journalismus betrachtet Tanjev Schultz (2021) die Debatte über Cancel Culture, denn der Journalismus sei in mehrfacher Hinsicht involviert: zum einen, weil er über die Debatten angemessen berichten muss, zum anderen, weil journalistische Inhalte und Akteure häufig Auslöser der Debatten und shitstorms sind und sich Redaktionen wie → Herausgeber:innen positionieren (müssen). Schultz analysiert verschiedene Fälle von Cancel Culture und identifiziert mit ‚Kurs halten‘, ‚Beharren‘, ‚Einlenken‘ und ‚Kehrtwende‘ vier Grundmuster möglicher Reaktionen von → Redaktionen auf moralische Kritik.

Forschungsstand:
Mit der Thematisierung in den Medien einher geht die wissenschaftliche Befassung mit Cancel Culture. Vor allem juristische Aspekte werden diskutiert, doch auch sozialpsychologische, kultur- und kommunikationswissenschaftliche. Es geht um Meinungsäußerungsfreiheit, um kulturelle Hegemonie und politische wie diskursive Teilhabe, letztlich um die Macht, öffentlich gehört und gesehen zu werden. Rechtskonservative bis -extreme, bürgerlich-liberale und progressiv-linke bis linksextreme Positionen kollidieren miteinander in der Debatte um Cancel Culture. Die Beteiligten werfen einander vor, systematisch den sozialen Ausschluss Anderer zu betreiben und missliebige Personen wie Meinungen auszugrenzen.

Desöfteren beziehen sich Autor:innen auf die in der Medien- und → Kommunikationswissenschaft anhaltend diskutierte und kritisierte ‚Theorie der Schweigespirale‘ (Noelle-Neumann 1980). Was den Einsatz des Schweigespiralen-Narrativs anbelangt, sind es vor allem die Gegner:innen der Cancel Culture, die behaupten, „,man‘ könne ja heutzutage nicht mehr sagen, dass …“. Diese Auffassung reicht bis ins bürgerlich-liberale Lager. Dem halten Kritiker:innen des Begriffs und seiner strategischen Verwendung durch Rechtspopulist:innen entgegen, dass es sich hier um eine klassische Täter-Opfer-Umkehrung handelt.

Fraglich ist daher, wer gefühlt, behauptet oder tatsächlich zu denen zählt, die aus Isolationsfurcht schweigen? Ob der ‚Raum des Sagbaren‘ sukzessive eingeschränkt wird oder durch Social Media und die Vervielfältigung der Kommunikationskanäle erweitert ist und mehr → Partizipation ermöglicht?

Hier fehlt es an über Einzelfälle hinausgehender, vergleichender Forschung zum Medienzugang und zur medialen Präsenz, zu denjenigen, die canceln, die gecancelt werden, oder die behaupten, Opfer einer Cancel Culture zu sein. Letztere sind möglicherweise gerade diejenigen, die über publizistische Macht verfügen und die sehr wohl medial vernehmbar sind, aber das Ausmaß, in dem früher nicht-gehörte, marginalisierte Gruppen nun ihre Stimme erheben, überschätzen. Hinzu kommt, dass – je nach kulturellem und politischem Kontext – unterschiedliche Auffassung darüber besteht, wer von Cancel Culture bedroht ist, wie die Politikwissenschaftlerin Pippa Norris (2021) durch ihre internationale Vergleichsstudie belegt.

Insgesamt stehen Untersuchungen zum Medienzugang, zu Privilegiertheit und ökonomischer Macht, Inklusion und Exklusion in und durch Medien aus. Sie könnten den Cancel-Culture-Diskurs erweitern und ihm eine bislang zu wenig beachtete Richtung geben.

Literatur:

Auer, Katrin: ‚Political Correctness‘ – Ideologischer Code, Feindbild und Stigmawort der Rechten. In: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 3, 2002, S. 291-303.

Butler, Danielle: The Misplaced Hysteria About a ‚Cancel Culture’ That Doesn’t Actually Exist. In: The Root, 23.10.2018. https://www.theroot.com/the-misplaced-hysteria-about-a-cancel-culture-that-do-1829563238 [01.07.2022]

Drucksache Deutscher Bundestag: Antwort der Bundesregierung, Drucksache 19/28966, 23.04.2021.  https://dserver.bundestag.de/btd/19/289/1928966.pdf [01.07.2021]

Geier, Andrea: Debatte über Cancel Culture. Wie Kampfbegriffe den Diskurs prägen. In: Deutschlandfunk Kultur, 24.09.2020. https://www.deutschlandfunkkultur.de/debatte-ueber-cancel-culture-wie-kampfbegriffe-den-diskurs-100.html [01.07.2022]

Meierfrankenfeld, Beate: Wann wird aus Einzelfällen eine „Kultur“? In: BR KulturBühne, 16.02.2021. https://www.br.de/kultur/debatte-um-cancel-culture-und-netzwerk-wissensfreiheit-100.html

Ng, Eve: Cancel Culture. A Critical Analysis. Cham [Palgrave Macmillan/Springer Nature] 2022.

Ng, Eve: No Grand Pronouncements Here …: Reflections on Cancel Culture and Digital Media Participation. In: Television & New Media, 6, 2020, S. 621-627.

Noelle-Neumann, Elisabeth: Theorie der Schweigespirale. Öffentliche Meinung – unsere soziale Haut. München/Zürich [Piper] 1980.

Norris, Pippa: Cancel Culture: Myth or Reality? In: Political Studies, 2021, S. 1-30. doi.org/10.5771/2568-9185-2021-1-6 [01.07.2022]

Semíramis: The Untold Thruth about ‘Cancel Culture’. In Medium.com, 10.04.2019. https://medium.com/@vcasaisvila/the-untold-truth-about-cancel-culture-3675cac983c3 [01.07.2022]

Schultz, Tanjev: Moralisierung und Meinungsfreiheit. Gefährdet eine ‚Cancel Culture‘ den Journalismus? Analytische Annäherung an eine heikle Frage. In: UFITA – Archiv für Medienrecht und Medienwissenschaft, 1, 2021, S. 6-37 https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/2568-9185-2021-1-6/moralisierung-und-meinungsfreiheit-jahrgang-85-2021-heft-1?page=1 [01.07.2022]

Thiele, Martina: Political Correctness und Cancel Culture – eine Frage der Macht! Plädoyer für einen Perspektivwechsel. In: Journalistik – Zeitschrift für Journalismusforschung, 1, 2021, S. 72-79, https://doi.org/10.1453/2569-152X-12021-11259-de [01.07.2022]

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Martina Thiele
*1967, Professorin für Medienwissenschaft an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Nach dem Studium der Slavischen Philologie, Publizistik und Politikwissenschaft und der Promotion zu Publizistischen Kontroversen über Holocaustfilme an der Georg-August-Universität Göttingen forschte und lehrte sie am Dortmunder Institut für Journalistik sowie am Fachbereich Kommunikationswissenschaft der Paris-Lodron Universität Salzburg. Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind Digitalisierung und gesellschaftliche Verantwortung, Kommunikationstheorien und Öffentlichkeiten, Gender Media Studies, Stereotypen- und Vorurteilsforschung. Martina Thiele ist Mitherausgeberin der auf deutsch und englisch erscheinenden Fachzeitschrift Journalistik/Journalism Research.