Hostile-Media-Effekt

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Wortherkunft: engl. hostile = feindselig, feindlich

Definition:
Als Hostile-Media-Effekt (alternativ: Hostile-Media-Wahrnehmung oder Hostile-Media-Bias) wird in der → kommunikationswissenschaftlichen Forschung das Phänomen bezeichnet, demzufolge journalistische Berichterstattung von Rezipient:innen unter bestimmten Umständen als zuungunsten der eigenen Meinung verzerrt wahrgenommen wird (Vallone et al. 1995; im Überblick: Gunther 2017; Perloff 2015). Ein Beitrag, in dem beispielsweise auf ausgewogene Weise die Gründe für oder gegen die Einführung eines Tempolimits auf Autobahnen genannt werden, wird von Befürworter:innen eines Tempolimits als eher kritisch gegenüber Geschwindigkeitsbegrenzungen aufgefasst.

Gegner:innen eines Tempolimits kommen dagegen zu dem Schluss, dass im Beitrag vorrangig eine Pro-Tempolimit-Haltung vertreten werde. Gleiches kann geschehen, wenn die Tendenz der gesamten Berichterstattung zum Thema beurteilt wird. Medienberichterstattung wird von → Rezipient:innen somit weder als ausgewogen noch als die eigene Meinung befürwortend eingeschätzt, sondern als ablehnend oder gar feindselig gegenüber der eigenen Meinung.

Das Auftreten von Hostile-Media-Wahrnehmungen ist an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. Zum einen entstehen diese Wahrnehmungen primär als Folge der Rezeption von Berichterstattung über konflikthaltige Themen. Dabei sollten sich unterschiedliche Gruppen identifizieren lassen, die sich mit ihren Einstellungen zum jeweiligen Thema gegenüberstehen (z. B. in der Migrationsdebatte die Befürworter:innen und Gegner:innen einer Willkommenskultur; Merten/Dohle 2019). Zum anderen muss es sich um Berichterstattung handeln, in der für das jeweilige Thema relevante Positionen und Argumente benannt werden.

Darüber hinaus treten Hostile-Media-Effekte bei solchen Rezipient:innen auf, die an dem in der Berichterstattung behandelten Thema interessiert und von dem mit dem Thema verbundenen Konflikt möglicherweise sogar betroffen sind, die sich mit dem Thema auskennen (oder zumindest glauben, dies zu tun) und die eine eindeutige Meinung zum Thema vertreten. Je eindeutiger die Voreinstellung zum Thema, desto intensiver sollte die Wahrnehmung ausfallen, dass in der Berichterstattung die gegenteilige Position positiver dargestellt wird.

Geschichte:
Als Startpunkt der Hostile-Media-Forschung wird gemeinhin ein 1985 erschienener Artikel von Vallone, Ross und Lepper betrachtet. Sie führten dort den Begriff des ‚Hostile Media Phenomenon‘ (S. 577) ein und entwickelten die bis heute geltende Grundannahme einer verzerrten rezipient:innenseitigen Wahrnehmung journalistischer Berichterstattung. Zudem präsentierten sie die Ergebnisse der wohl ersten systematischen Studie zu dem Phänomen. Basis der Untersuchung war der arabisch-israelische Konflikt. Pro-israelisch eingestellte Rezipient:innen meinten, in den ihnen vorgeführten journalistischen Berichten würde eine negative Haltung gegenüber Israel eingenommen. Pro-arabische Rezipient:innen betrachteten genau diese Berichte indes als freundlich gegenüber Israel

Ausgehend von der durch Vallone et al. (1985) beschriebenen Grundannahme und häufig auch in Anlehnung an das methodische Vorgehen in ihrer Studie wurde in den folgenden Jahrzehnten eine Vielzahl weiterer Untersuchungen in unterschiedlichen Ländern und zu ganz unterschiedlichen Berichterstattungsthemen durchgeführt. Dort bestätigte sich in der Regel die Annahme, dass in ein Thema involvierte Rezipient:innen ausgewogene Berichterstattung als feindlich gegenüber der von ihnen vertretenen Meinung auffassen. Sind Berichte nicht ausgewogen, so eine weitere Erkenntnis der Forschung, lässt sich ebenfalls eine verzerrte Wahrnehmung beobachten: Anhänger:innen unterschiedlicher Positionen in einem Konflikt nehmen solche eher einseitigen Berichte zwar gleichermaßen als in eine Richtung verzerrt wahr, aber jede der in den Konflikt involvierten Gruppen beurteilt diese Berichte im Vergleich zur jeweils anderen Gruppe als deutlich feindlicher bzw. weniger freundlich gegenüber der eigenen Position. Dies wird als relativer Hostile-Media-Effekt bezeichnet (Gunther et al. 2001).

Gegenwärtiger Zustand:
Mit der Zeit hat die Forschung zunehmend die Ursachen sowie die Konsequenzen von Hostile-Media-Wahrnehmungen in den Blick genommen. Zudem werden Verknüpfungen zwischen dem Hostile-Media-Effekt und anderen Wahrnehmungsprozessen im Kontext von Medienrezeption hergestellt. Wenn Menschen, so ein Beispiel, meinen, journalistische Berichterstattung würde ihre Meinung zu einem Thema abqualifizieren und die Gegenposition positiv hervorheben, und wenn eben diese Menschen glauben, dass die Berichterstattung einen starken Einfluss auf andere Menschen ausübe (→ Third-Person-Effekt; Davison 1983; Dohle 2017), dann sollten sie auch fürchten, dass die von den Medien hervorgehobene Gegenposition von der Mehrheit der Bevölkerung vertreten wird (persuasive press inference; Gunther 1998). Damit einhergehend wird zudem diskutiert, inwiefern Hostile-Media-Wahrnehmungen in einem Zusammenhang damit stehen, dass Teile der Bevölkerung journalistische Leistungen generell als qualitativ minderwertig bewerten oder ein großes → Misstrauen gegenüber Journalismus empfinden (Fawzi et al. 2021; McLeod et al. 2017; Tsfati/Cohen 2013).

Forschungsstand:
Die grundlegende Annahme des Hostile-Media-Effekts kann als durch die Forschung gut bestätigt gelten (Hansen/Kim 2011).
Darauf aufbauend konnten unterschiedliche Ursachen für die Entstehung von Hostile-Media-Wahrnehmungen identifiziert werden (im Überblick: Gunther 2017; Perloff 2015). Wie dargestellt spielen das Involvement und die themenbezogenen Einstellungen der Rezipient:innen eine wichtige Rolle: Je höher Interesse bzw. Betroffenheit mit Blick auf das in der Berichterstattung behandelte Thema und je eindeutiger die themenbezogene Einstellung, desto intensiver die Wahrnehmung einer feindseligen Berichterstattung.

Die kontroverse Berichterstattung über ein Thema, das sich als Konflikt zwischen verschiedenen Gruppen auffassen lässt (z. B. Arbeitnehmer:innen vs. Arbeitgeber:innen), kann zudem bei involvierten Rezipient:innen das Bewusstsein verstärken, Teil einer der betroffenen Gruppen zu sein.
Je intensiver die Identifikation mit dieser sogenannten In-Group (und je stärker die Ablehnung der gegnerischen Gruppe, der Out-Group), desto stärker die Hostile-Media-Wahrnehmung (Hartmann/Tanis 2003). Berichterstattung, die auch Argumente für die gegnerische Position in einem Konflikt enthält, wird als bedrohlich für die eigene Gruppe interpretiert und daher – so die These – auf dünnhäutige Weise wahrgenommen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn angenommen wird, dass die Berichterstattung eine hohe Reichweite hat. Ein Grund kann hierbei die Befürchtung involvierter Rezipient:innen sein, dass die Berichterstattung einen aus ihrer Sicht unerwünschten Einfluss auf diejenigen ausübt, die zu einem streitbaren Thema (noch) eine neutrale Meinung haben (Dohle/Hartmann 2008; Gunther/Schmitt 2004). Intensiver ausfallen können Hostile-Media-Wahrnehmungen außerdem dann, wenn das generelle Vertrauen in den Journalismus schwach ausgeprägt ist (Hwang et al. 2008).

Umgekehrt können Hostile-Media-Wahrnehmungen zur Folge haben, dass Rezipient:innen empört auf journalistische Berichterstattung reagieren oder ihr Vertrauen in den Journalismus weiter sinkt (Hwang et al. 2008; Tsfati/Cohen 2005, 2013). Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass Hostile-Media-Wahrnehmungen ein Problem für den Journalismus darstellen. Selbst wenn in Berichten das → Qualitätskriterium der Ausgewogenheit erfüllt ist, wird dies von einem Teil der Rezipient:innen nicht (an)erkannt und führt zu negativen Reaktionen.

Weitere Konsequenzen lassen sich vor allem dann feststellen, wenn Hostile-Media-Wahrnehmungen mit der Annahme von Rezipient:innen einhergehen, dass die aus ihrer Sicht feindselige Berichterstattung starke Auswirkungen auf anderen Menschen hat. Eine konkrete Folge können beispielsweise verstärkte kommunikative Aktivitäten sein, die ausgeübt werden, um dem (vermeintlich) starken Einfluss der unwillkommenen Berichterstattung etwas entgegenzusetzen (corrective actions; Rojas 2010). Ebenso kann sich aber auch ein Gefühl der sozialen Ausgrenzung der eigenen Gruppe entwickeln (social alienation; Tsfati 2007). Hostile-Media-Wahrnehmungen können im Zusammenspiel mit anderen Faktoren sogar eine Rolle bei Radikalisierungsprozessen von Gruppen spielen (Neumann et al. 2018). Dies verdeutlicht, dass die Wahrnehmung von Menschen, Medien würden bei einem für sie individuell wichtigen Thema eine feindselige Haltung einnehmen, auch in gesellschaftlicher Hinsicht folgenreich sein kann.

Literatur:

Davison, W. Phillips: The third-person effect in communication. In: Public Opinion Quarterly, 47, 1983, S. 1-15.

Dohle, Marco: Third-Person-Effekt. 2. Auflage. Baden-Baden [Nomos] 2017.

Dohle, Marco; Tilo Hartmann: Alles eine Frage hoher Reichweite? Eine experimentelle Untersuchung zur Ursache der Entstehung von Hostile-Media-Effekten. In: Medien & Kommunikationswissenschaft, 56, 2008, S. 21-41.

Fawzi, Nayla; Nina Steindl; Magdalena Obermaier; Fabian Prochazka; Dorothee Arlt; Bernd Blöbaum; Marco Dohle; Katherine M. Engelke; Thomas Hanitzsch; Nikolaus Jackob; Ilka Jakobs; Tilman Klawier; Senja Post; Carsten Reinemann; Wolfgang Schweiger; Marc Ziegele: Concepts, causes and consequences of trust in news media – a literature review and framework. In: Annals of the International Communication Association, 45, 2021, S. 154-174.

Gunther, Albert C.: The persuasive press inference: Effects of mass media on perceived public opinion. In: Communication Research, 25, 1998, S. 486-504.

Gunther, Albert C.: Hostile media effect. In: Rössler, Patrick; Cynthia A. Hoffner; Liesbet van Zoonen: The international encyclopedia of media effects. Hoboken, NJ [Wiley-Blackwell] 2017, S. 1-10.

Gunther, Albert C.; Cindy T. Christen; Janice L. Liebhart; Stella Chih-Yun Chia: Congenial public, contrary press, and biased estimates of the climate of opinion. In: Public Opinion Quarterly, 65, 2001, S. 295-320.

Gunther, Albert C.; Kathleen Schmitt: Mapping boundaries of the hostile media effect. In: Journal of Communication, 54, 2004, S. 55-70.

Hansen, Glenn J.; Hyunjung Kim: Is the media biased against me? A meta-analysis of the hostile media effect research. In: Communication Research Reports, 28, 2011, S. 169-179.

Hartmann, Tilo; Martin Tanis: Examining the hostile media effect as an intergroup phenomenon: The role of ingroup identification and status. In: Journal of Communication, 63, 2013, S. 535-555.

Hwang, Hyunseo; Zhongdang Pan; Ye Sun: Influence of hostile media perception on willingness to engage in discursive activities: An examination of mediating role of media indignation. In: Media Psychology, 11, 2008, S. 76-97.

McLeod, Douglas M.; David Wise; Mallory Perryman: Thinking about the media: A review of theory and research on media perceptions, media effects perceptions, and their consequences. In: Review of Communication Research, 5, 2017, S. 35-83.

Merten, Milena; Marco Dohle: Wie beurteilen unterschiedliche Meinungslager die Medienberichterstattung zur ‚Flüchtlingskrise‘? Ergebnisse einer Untersuchung zu Hostile-Media-Wahrnehmungen. In: Studies in Communication and Media, 8, 2019, S. 272-285.

Neumann, Katharina; Florian Arendt; Philip Baugut: News and Islamist radicalization processes: Investigating Muslims’ perceptions of negative news coverage of Islam. In: Mass Communication and Society, 21, 2018, S. 498-523.

Perloff, Richard M.: A three-decade retrospective on the hostile media effect. In: Mass Communication and Society, 18, 2015, S. 701-729.

Rojas, Hernando: ‚Corrective‘ actions in the public sphere: How perceptions of media and media effects shape political behaviours. In: International Journal of Public Opinion Research, 22, 2010, S. 343-363.

Tsfati, Yariv: Hostile media perceptions, presumed media influence, and minority alienation: The case of Arabs in Israel. In: Journal of Communication, 57, 2007, S. 632-651.

Tsfati, Yariv; Jonathan Cohen: Democratic consequences of hostile media perceptions: The case of Gaza settlers. In: The Harvard International Journal of Press/Politics, 10, 2005, S. 28-51.

Tsfati, Yariv; Jonathan Cohen: Perceptions of media and media effects: The third-person effect, trust in media and hostile media perceptions. In: Valdivia, Angharad N.; Erica Scharrer: The international encyclopedia of media studies: Media effects/media psychology. Hoboken, NJ [Blackwell] 2013, S. 1-19.

Vallone, Robert P.; Lee Ross; Mark R. Lepper: The hostile media phenomenon: Biased perception and perception of bias in coverage of the Beirut massacre. In: Journal of Personality and Social Psychology, 49, 1985, S. 577-585.

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Marco Dohle
PD Dr., Studium am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung der Hochschule für Musik und Theater Hannover. Seitdem Mitarbeiter in der Abteilung für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Forschungsschwerpunkte: Politische Online-Kommunikation, Wahrnehmung von Medieneinflüssen, Hostile-Media-Wahrnehmungen und Bewertungen journalistischer Leistungen, Berichterstattung über Flucht, Migration und Integration. Kontakt: marco.dohle [at] hhu.de