Objektivitätsnorm

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Definition:
Die Funktion des Journalismus ist aus Sicht der → Systemtheorie die aktuelle und universelle Selbstbeobachtung der Gesellschaft. Das journalistische Erkenntnisinteresse richtet sich daher auf das Beschreiben und Erklären aktueller Ereignisse in Nachrichtenform. Der Journalismus, der Faktenwissen über Ereignisse produziert, unterscheidet sich von den meisten wissenschaftlichen Disziplinen, die nach allgemeinem (Kausal-)Wissen streben. Während im Labor Ereignisse künstlich herbeigeführt und auch wiederholt werden können, um Hypothesen zu testen, hat es der Journalismus mit einzigartigen Ereignissen zu tun. Bei ihrer Rekonstruktion muss er sich häufig auf Wissen ‚aus zweiter Hand‘, also auf → Quellen stützen.
Wissen soll nicht nur wahr sein, sondern dieser Anspruch soll auch begründet sein. Dafür ist die Objektivitätsnorm von entscheidender Bedeutung. Sie operationalisiert die Norm durch Verifizierungspraktiken, deren Beachtung den journalistischen Wahrheitsanspruch legitimieren soll (Kovach/Rosenstiel 2007: 78-112). Zu diesen Praktiken zählen z. B. das ‚Vier-Augen-Prinzip‘ oder die Regel, eine zweite, unabhängige Quelle zur Gegenprüfung heranzuziehen.
Zwar ist die Objektivität die zentrale Norm des Journalismus, dennoch besteht ein erstaunlich hohes Maß an Unklarheit über ihre Bedeutung (für eine detaillierte Darstellung der folgenden Ausführungen vgl. Neuberger 2017). Außerdem wird häufig bezweifelt, dass Journalist*innen die Norm überhaupt erfüllen können. Zunächst fällt auf, dass in der journalistischen Praxis die Bedeutung von Objektivität deutlich weiter gefasst ist, als dies üblicherweise in der Wissenschaft der Fall ist. In journalistischen Lehrbüchern und Fachdiskussionen werden der Norm neben dem Aspekt der Wahrheit von Aussagen über die Realität – darauf beschränkt sich die Definition in der Wissenschaft – eine Reihe weiterer Qualitätskriterien zugeordnet wie z. B. Wichtigkeit, → Vollständigkeit, → Vielfalt, Ausgewogenheit, Neutralität und Transparenz. Die ersten vier Kriterien betreffen jedoch nicht die Frage der objektiven Erkenntnis, sondern vielmehr die Einschätzung der Relevanz von → Nachrichten und Meinungen.

Abgrenzung von Objektivität und Relevanz:
Dagegen wird hier vorgeschlagen, die Erkenntnisfrage („Was ist wirklich?“) strikt von der → Relevanzfrage („Was ist wichtig?“) zu trennen (Neuberger 1997; Neuberger 2017: 414). Dies entspricht auch einer in der philosophischen Erkenntnistheorie verbreiteten Auffassung. Die Frage, welche Nachrichten eine → Redaktion aufgrund ihrer ‚Wichtigkeit‘ auswählt, lässt sich nicht objektiv beantworten. Dafür ist jeweils eine wertende Entscheidung notwendig, die unterschiedlich ausfallen kann – abhängig von den Zielen einer Redaktion, den Erwartungen des jeweiligen → Publikums oder den Funktionen, welche die Medien in einer bestimmten Gesellschaft erfüllen sollen. Kurz gesagt: Die Wirklichkeit sagt nicht selbst, was an ihr wichtig ist, sondern Menschen tragen ihre Maßstäbe an sie heran. Wertungen über die Wichtigkeit von Ereignissen sind immer relativ zum Standpunkt der Beobachtenden.
‚Vollständigkeit‘ ist – streng genommen – ein unerreichbares Ziel, weil die Realität stets unter unendlich vielen Aspekten betrachtet werden kann. Die Kapazität zur Wahrnehmung der Umwelt ist aber begrenzt. Daher ist notwendigerweise jede Beobachtung und jede Beschreibung selektiv, subjektiv und perspektivenabhängig. Dies gilt nicht nur für Individuen, sondern auch für Medien: Druckseiten und Sendezeit sind knapp. Daher herrscht auch im Journalismus ein Zwang zur Selektion, zur Reduktion von Komplexität. Auch eine ‚vielfältige‘ und ‚ausgewogene‘ Auswahl von Themen und Meinungen macht das Gesamtbild nicht objektiver. Beide Kriterien lassen sich besser unter Verweis auf andere demokratische Werte (wie Freiheit und Gleichheit) legitimieren.
Werden dem Objektivitätsbegriff trotzdem Selektionskriterien zugeordnet, dann wird seine Bedeutung überdehnt. Dies führt entweder zu unangemessenen Erwartungen über den Bereich des Erkennbaren. Oder man stellt fest, dass ganz unterschiedlich gewertet wird, und zieht daraus den Schluss, dass Objektivität nicht erreichbar und damit die Norm unerfüllbar ist. Ein solcher Schluss ist aber voreilig, da die eigentliche Frage der Erkenntnis damit noch gar nicht berührt ist.
Warum wird im Journalismus ein breiter Objektivitätsbegriff verwendet? Ein Grund dafür ist sicherlich, dass der Glanz des Objektiven auch auf die – stets angreifbaren – wertenden Entscheidungen fallen soll. Dadurch lassen sich redaktionelle Urteile leichter gegen Kritik immunisieren: Eine besondere Begründung scheint nicht mehr notwendig zu sein, wenn implizite Wertungen (Auswahl) und auch explizite Wertungen (Kommentare) als ‚wahr‘ deklariert werden. In dieser Weise erheben auch Ideologien Anspruch auf Objektivität. Dass der ideologische Standpunkt des → Marxismus-Leninismus der einzig richtige sei, wurde in der DDR behauptet. So heißt es in einem Lehrbuch: „Es gibt in der sozialistischen Journalistik keinen Widerspruch zwischen Objektivität und Parteilichkeit“ (Budzislawski 1966: 135).

Erfüllbarkeit der Objektivitätsnorm:
Hat man das eigentliche Objektivitätsproblem erst einmal eingegrenzt, so stellt sich die Frage: Ist Erkenntnis möglich? ‚Objektiv‘ heißt zunächst, dass unsere Wahrnehmung ein verlässliches Bild der Umwelt liefert, also beide miteinander korrespondieren. Diese Korrespondenztheorie ist von philosophischer Seite vielfach kritisiert worden. Denn niemand weiß, ob die Bilder in unseren Köpfen etwas mit der Außenwelt zu tun haben, da wir – neben unseren Sinnesorganen – keinen weiteren Zugang zur Realität besitzen, der uns zuverlässige Bilder als Vergleichsmaßstab liefern könnte. Deshalb ist absolute Gewissheit unerreichbar.
Vor diesem Hintergrund sind in der → Kommunikationswissenschaft prinzipielle Zweifel an der Erfüllbarkeit der Objektivitätsnorm erhoben worden. So geht der → Radikale Konstruktivismus (Bentele/Rühl 1993; Merten/Schmidt/Weischenberg 1994) davon aus, dass das Gehirn kognitiv geschlossen ist. Er stützt sich auf Ergebnisse der Neurophysiologie, wonach neuronale Erregungen unspezifisch sind. Erst das Gehirn weise ihnen nach eigenen Regeln Bedeutung zu. Die individuellen Wirklichkeitskonstruktionen seien dennoch nicht willkürlich, weil sie gesellschaftlich – und zwar vor allem mit Hilfe der Medien – parallelisiert werden.
Kritiker*innen des Radikalen Konstruktivismus (Neuberger 1996: 185-240; Neuberger 2017: 408-415) gestehen zwar zu, dass es keinen übergeordneten, quasi göttlichen Standpunkt gibt, von dem aus das Verhältnis zwischen den Repräsentationen im Kopf und der Realität überblickt werden. Dass ein solcher Vergleich nicht möglich ist, schließt aber nicht aus, dass Aktivationsmuster des Gehirns die Umwelt repräsentieren. Außerdem verwickelt sich der Radikale Konstruktivismus in Widersprüche: Einerseits unterstellt er das Gelingen von Kommunikation, weil darüber Wirklichkeitsvorstellungen abgestimmt werden. Andererseits erklärt er aber die Realität für unzugänglich. Dem ist entgegenzuhalten, dass auch Kommunikation Erkenntnis umfasst, nämlich von Zeichen, die interpretiert werden. Wenn Erkennen scheitert, dann zwangsläufig auch Kommunikation. Die Konsequenz wäre: Jeder erfindet seine eigene Welt und bleibt in ihr gefangen. Dass der Radikale Konstruktivismus seine Theorie durch Ergebnisse empirischer Studien über die Funktionsweise des Gehirns stützt, überzeugt ebenfalls nicht. Denn damit will er belegen, dass solche Forschung über reale Vorgänge gar nicht möglich ist.
Die Gegenposition zum Radikalen Konstruktivismus vertritt der Naive Realismus. Dieser entspricht der Alltagshaltung, in der fraglos angenommen wird, dass Wahrnehmungen in der Regel zutreffend sind. Eine mittlere Position zwischen diesen beiden Positionen nimmt die Erkenntnistheorie des Kritischen Rationalismus ein, die auf den Philosophen Karl R. Popper (1994) zurückgeht. Sie ist in erster Linie eine Theorie über Erkenntnis in der Wissenschaft, doch ist sie nach seiner Auffassung auf andere Lebensbereiche wie die Politik übertragbar. Popper geht davon aus, dass nur hypothetische, d. h. vorläufig anerkannte Aussagen über die Realität möglich sind, die stets einer erneuten Prüfung unterzogen werden können und sollen. Die Forschung soll sich bemühen, bislang gültige Annahmen zu widerlegen (und nicht zu bestätigen), also möglichst kritisch zu prüfen (Falsifikationismus). Gegenstand der Prüfung ist nicht das Ergebnis, sondern die Anwendung der anerkannten Methoden (Wissenschaft) und Verifizierungspraktiken (Journalismus). Die Transparenz über z. B. die verwendeten Quellen und das Vorgehen bei der → Recherche erlaubt die intersubjektive Nachprüfbarkeit. Mit ‚Neutralität‘ ist gemeint, dass sachfremde Interessen ausgeschlossen sein sollen.

Geschichte:
Die Objektivitätsnorm ist im Journalismus erst relativ spät in Lehrbüchern und Kodizes festgeschrieben worden. Nach Michael Schudson (2001) sind für die Etablierung der Norm in den 1920er-Jahren das Bemühen um Professionalität und die Orientierung an der Wissenschaft ausschlaggebend gewesen, um sich damit gegenüber Propaganda und → Public Relations abzugrenzen und die Autonomie zu sichern. Der professionelle Journalismus vermittelt Nachrichten für sämtliche Teilsysteme, und zwar sowohl im intrasystemischen (zwischen den Akteuren in Leistungs- und Publikumsrollen) als auch im intersystemischen Verhältnis (zwischen den Teilsystemen, z. B. Politik, Wirtschaft, Kunst und Sport). Damit liegt er im Schnittpunkt der Teilsystemrationalitäten sowie der Expert*innen- und Laienrationalität, zwischen denen er übersetzt. Die professionell-journalistische Objektivität muss daher ein gesellschaftsweit akzeptierter Standard für die Produktion und Prüfung von Wissen sein. Nachrichten sollen für Expert*innen und Laien in den teilsystemspezifischen Kontexten anschlussfähig sein.

Gegenwärtiger Zustand:
Bis Mitte der 1990er-Jahre haben Redaktionen der traditionellen → Massenmedien – gestützt auf gemeinsame professionelle Standards – relativ einheitlich die Realität beobachtet und beschrieben. In der → digitalen Öffentlichkeit hat der professionelle Journalismus seine machtvolle Rolle als → Gatekeeper weitgehend verloren. Wegen der erweiterten Möglichkeiten der Partizipation, Interaktion und Transparenz pluralisieren sich Wissensansprüche und Verfahren des Wirklichkeitszugangs. Die bisherige Wissensordnung löst sich tendenziell auf (Neuberger et al. 2019): Es kommt zur Entgrenzung der Wissenskontexte, zur Schwächung der epistemischen Autoritäten Wissenschaft und Journalismus (durch Konkurrenz und öffentliche Kritik), zur Auflösung der bisherigen Phasenfolge im Wissensprozess (‚erst publizieren, dann prüfen‘ wie im Fall der → Wikipedia) sowie zu einem erweiterten Zugang zu professionellen Rollen bzw. zur Entstehung von Hybridrollen (wie Citizen Journalist und Citizen Scientist). Folgen sind u. a. die wachsende Verbreitung falscher und ungeprüfter Nachrichten (Desinformation) sowie die Unsicherheit im Publikum über die Vertrauenswürdigkeit von Angeboten (Bennett/Livingston 2021; Ha/Perez/Ray 2021). Der professionelle Journalismus muss nicht nur seine Verifizierungspraktiken an die neuen Bedingungen in der digitalen Öffentlichkeit anpassen, sondern erhält auch neue Aufgaben wie das → Fact-Checking, also die Prüfung fremdpublizierter Inhalte.

Literatur:

Bennett, W. Lance; Steven Livingston: A brief history of the Disinformation Age: Infor-mation wars and the decline of institutional authority. In: Bennett, W. Lance; Steven Livingston (Hrsg.): The Disinformation Age: Politics, technology, and disruptive communication in the United States. Cambridge [Cambridge University Press] 2021, S. 3-40.
Bentele, Günter; Manfred Rühl (Hrsg.): Theorien öffentlicher Kommunikation. Prob-lemfelder, Positionen, Perspektiven. München [Ölschläger] 1993.
Budzislawski, Hermann: Sozialistische Journalistik. Eine wissenschaftliche Einführung. Leipzig [Bibliographisches Institut] 1966.
Ha, Louisa; Loarre Andreu Perez; Rik Ray: Mapping recent development in scholarship on fake news and misinformation, 2008 to 2017: Disciplinary contribution, topics, and impact. In: American Behavioral Scientist, 65, 2021, S. 290-315.
Kovach, Bill; Tom Rosenstiel: The elements of journalism. New York [Three Rivers Press] 2007.
Merten, Klaus; Siegfried J. Schmidt; Siegfried Weischenberg (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Opladen [West-deutscher Verlag] 1994.
Neuberger, Christoph: Journalismus als Problembearbeitung. Objektivität und Relevanz in der öffentlichen Kommunikation. Konstanz [UVK Medien] 1996.
Neuberger, Christoph: Journalistische Objektivität. Vorschlag für einen pragmatischen Theorierahmen. In: Medien & Kommunikationswissenschaft, 65, 2017, S. 406-431.
Neuberger, Christoph: Was ist wirklich, was ist wichtig? Zur Begründung von Quali-tätskriterien im Journalismus. In: Bentele, Günter; Michael Haller (Hrsg.): Aktuelle Entstehung von Öffentlichkeit. Akteure – Strukturen – Veränderungen. Konstanz [UVK Medien] 1997, S. 311-322.
Neuberger, Christoph; Anne Bartsch; Carsten Reinemann; Romy Fröhlich; Thomas Hanitzsch; Johanna Schindler: Der digitale Wandel der Wissensordnung. Theorierahmen für die Analyse von Wahrheit, Wissen und Rationalität in der öffentlichen Kommunikation. In: Medien & Kommunikationswissenschaft, 67, 2019, S. 167-186.
Popper, Karl R.: Alles Leben ist Problemlösen. Über Erkenntnis, Geschichte und Politik. München [Piper] 1994.
Schudson, Michael: The objectivity norm in American journalism. In: Journalism, 2, 2001, S. 149-170.

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Christoph Neuberger
*1964, Professor für Publizistik- und Kommunikations­wis­senschaft an der Freien Universität Berlin und geschäftsführender Direktor des Weizenbaum-Instituts für die vernetzte Gesellschaft, Berlin. Zuvor lehrte er als Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München (2011-2019) und der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (2002-2011). Vertretung einer Professur an der Universität Leipzig (2001-2002). Studium, Promotion und Habilitation an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Er ist ordentliches Mit­glied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech). Forschungs­schwerpunkte: digitaler Wandel von Medien, Journalismus und Öffentlichkeit, Qualität öffentlicher Kommunikation.