Reality TV

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Wortherkunft und Definition:
Die Bezeichnung Reality TV wurde zunächst im Produktionsbereich verwendet und dient der Kennzeichnung von Formen der faktenbasierten Unterhaltung. Der Begriff fungiert als Sammelbezeichnung, die unterschiedliche, thematisch vielfältige, mit dokumentarischen Stilmitteln operierende, unterhaltungsorientierte Formate erfasst (Bleicher 2017). Der Begriff Reality suggeriert den gleichen Abbildcharakter, den im Verlauf der Film- und Fernsehgeschichte unterschiedliche → Genres des Informations- (etwa Live-Übertragungen) und Dokumentationsbereichs etablierten.

Geschichte und gegenwärtiger Zustand:
Reality TV integriert Einflüsse der Dokumentarfilmentwicklungen ebenso wie kulturhistorische Grenzgänge zwischen Fakten und Fiktion. Die fernsehhistorischen Ursprünge des heute zum Programmalltag gehörenden Reality TV reichen in das Nachkriegsfernsehen der 1950er Jahre zurück. Generell kann diese Phase als nucleus der Entwicklung von aktuellen Sendungsformaten angesehen werden (vgl. Bleicher 1990). Programmverantwortliche experimentierten mit Angebotsformen in verschiedenen Programmschwerpunkten.

Die erste Phase des derzeitigen Angebotsspektrums des Realitätsfernsehens setzte bereits in den frühen 1990er Jahren ein. Zu dieser Zeit charakterisierte die Bezeichnung Reality TV zunächst Magazinsendungen wie Notruf (RTL), die nachgestellte oder direkt abgefilmte Katastrophen und Unfälle zeigten. Die Realitätsdarstellung wurde durch das Sensationsprinzip aufgewertet, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer*innen zu gewinnen. Doch sorgten von Rettungskräften gedrehte Aufnahmen für medienpolitische Kontroversen. Die im Vergleich zu Big Brother wenig beachtete Reality Soap Das wahre Leben (1994) lässt sich aus heutiger Sicht als Missing Link zwischen Phase 1 und 2 des heutigen Realitätsfernsehens werten. Diese von Markus Peichl, als einem der Hauptvertreter des deutschen New Journalism, für Premiere produzierte Serie, war ein Vorläufer vieler aktueller medialer Inszenierungen von Privatheit.

In Phase 2 ab 2000 gewann Reality TV senderübergreifend an Bedeutung. Die von RTL2 ausgestrahlte Reality Soap Big Brother sorgte mit täglichen Einblicken in das Leben der Kandidat*innen für Quotenerfolge. Das Prinzip nichtprominenter Kandidat*innen in außergewöhnlichen Bewährungs- und Spielsituationen kennzeichnete auch die Nachfolgeformate. Roger Silverstone konstatiert für diese Entwicklungsphase eine enger werdende Verknüpfung zwischen Fernsehvermittlung und Alltagsrealität (Silverstone 2007).

Das Formatspektrum hat sich stark ausdifferenziert und umfasst Themen wie u. a. Reisen, Kochen, Gesundheit, Überwachung, Auswandern, Natur oder Tiere. Hohe Quoten erzielen Formate wie Ich bin ein Star, holt mich hier raus (RTL), in denen sogenannte → Prominente mitwirken. Einen Kontrast bilden Formate wie Hartz und Herzlich (RTL2), die das Leben sozial benachteiligter Menschen beobachten.

Forschungsstand:
Seit dem Erfolg von Big Brother 1999/2000 intensivierte sich die Forschung zur Überwachungskultur und der Beziehung zwischen → Fernsehen und Alltag (Andrejevic 2004; Kavka 2012; Röser 2007). Weitere Studien befassten sich mit Kontexten des Formatfernsehens, Aspekten der Produktion, dem → Genrespektrum, Themenschwerpunkten, Dramaturgien und Inszenierungsformen des Reality TV (Ouellette 2014). Vertreter*innen der Forschung zu Stars erfassten Veränderungen der Aufmerksamkeitsökonomie (Franck 1998) mit begrifflichen Adaptionen wie Celebrity. Selbstinszenierungen im Reality TV wurden auch als Vorläufer der Selbstdarstellungen in sozialen Medien gewertet (Hill 2009) Es setzten auch Rezeptionsstudien ein, die sich mit den Nutzungsverhalten der Zuschauer*innen in verschiedenen Medienkulturen befassten (Hill 2009).

Literatur:

Andrejevic, Mark: Reality TV: The work of Being Watched (Critical Media Studies). Lanham [Rowman & Littlefield] 2004.

Biressi, Anita; Heather Nunn: Reality TV. Realism and Revelation. London [Wallflower] 2005.

Bleicher, Joan Kristin: Programmformen des Fernsehens der fünfziger Jahre. In: Knut Hickethier (Hrsg.): Der Zauberspiegel – Das Fenster zur Welt. Untersuchungen zum Fernsehprogramm der fünfziger Jahre. Arbeitshefte Bildschirmmedien 14. Siegen 1990, S. 33-46.

Bleicher, Joan Kristin: ‚Ich bin ein Star – holt mich hier raus als Medienwelttheater?‘ In: Eichner, Susanne; Elizabeth Pommer (Hrsg.): Fernsehen. Europäische Perspektiven. Festschrift Prof. Dr. Lothar Mikos. Konstanz [UVK], 2014, S. 73–90.

Bleicher, Joan Kristin: Reality TV in Deutschland. Geschichte, Themen Formate. Hamburg [Avinus Verlag] 2017.

Brunst, Klaudia (Hrsg.): Leben und leben lassen. Die Realität im Unterhaltungsfernsehen. Konstanz [UVK] 2003.

Carpentier, Nico; Sofie Van Bauwel (Hrsg.): Trans-Reality Television. The Transgression of Reality, Genre and Politics. Lanham [Lexington Books] 2010.

Franck, Georg: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München/Wien [Carl Hanser] 1998.

Heller, Dana: Makeover television. Realities remodelled. London [Tauris] 2007.

Hill, Annette: Reality TV: Factual Entertainment and Television Audiences. London [Routledge] 2009.

Hoffmann, Kay; Werner Barg; Richard Kilborn (Hrsg.): Spiel mit der Wirklichkeit. Zur Entwicklung doku-fiktionaler Formate in Film und Fernsehen. Konstanz [UVK] 2012.

Klaus, Elisabeth; Stephanie Lücke: Reality TV – Definition und Merkmale einer erfolgreichen Genrefamilie am Beispiel von Reality Soap und Docu Soap.  In: Medien und Kommunikationswissenschaft 2, 2003, S. 195–212.

Lünenborg, Margreth: Skandalisierung im Fernsehen: Strategien, Erscheinungsformen und Rezeption von Reality-TV-Formaten. Berlin [Vistas] 2011.

Murray, Susan; Laurie Ouellette (Hrsg.): Reality TV. Remaking Television Culture. New York/London: [New York University Press] 2004.

Ouellette, Laurie (Hrsg.): A Companion to Reality Television. Chichester [Wiley Blackwell] 2014.

Röser, Jutta (Hrsg.): MedienAlltag: Domestizierungsprozesse alter und neuer Medien. Wiesbaden [Verlag für Sozialwissenschaften] 2007.

Silverstone, Roger: Anatomie der Massenmedien. Ein Manifest. Frankfurt am Main [Suhrkamp] 2007.

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Joan Kristin Bleicher
*1960, Prof. Dr., ist seit 2001 Professorin für Medienwissenschaft an der Universität Hamburg. Sie studierte in Gießen, Siegen und Bloomington/Indiana Germanistik, Amerikanistik und Allgemeine Literaturwissenschaft. Nach dem Studium war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in medienwissenschaftlichen Forschungsprojekten beschäftigt. Forschungs-/Arbeitsschwerpunkte: Mediengeschichte, Medienpoetik, Grenzgänge Fakten und Fiktion, Aktuelle Fernseh- und Online Entwicklungen.