Europäische Öffentlichkeit

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Wortherkunft und Definition:
Das Konzept der Öffentlichkeit ist zunächst im nationalen Rahmen entstanden (zur Wortherkunft und Definition von → Öffentlichkeit siehe dort). Mit dem Begriff der europäischen Öffentlichkeit wird dieses Konzept von nationalen auf eine supranationale Ebene übertragen, und es umfasst dann die Strukturen und Prozesse öffentlicher Kommunikation in Europa, also auch die Rolle der Medien darin. Europa beginnt im Westen am Atlantik, die Lage der Grenze im Osten und Südosten ist dagegen nicht so eindeutig zu bestimmen. Häufig ist das Europa der EU gemeint, wenn von Europa die Rede ist; aber natürlich lassen sich auch die Schweiz, Großbritannien oder die Länder Südosteuropas zu europäischer Öffentlichkeit zählen.

Geschichte:
Das Konzept der europäischen Öffentlichkeit ist durch die Erweiterung der Europäischen Union in die politische Debatte und in die Forschung gekommen. Drei Entwicklungen haben die normative Vorstellung von der Notwendigkeit einer europäischen Öffentlichkeit befördert:

  • Der Ort der politischen Entscheidungen hat sich zunehmend vom Nationalstaat auf die europäische Ebene verlagert.
  • Während die Europäische Union und die Europäische Kommission lange relativ undemokratisch agierten, war das Europäische Parlament als demokratischer Kontrolleur zu schwach.
  • Die ökonomische Sphäre transnationalisierte sich zunehmend, ohne dass ihr politische Strukturen bislang entsprochen haben.

Dass die Europäische Union ein Öffentlichkeitsdefizit hat, gehörte spätestens seit der Diskussion über die Maastrichter Verträge zu den Selbstbeschreibungen der Institutionen der EU (Tumber 1995: 512) und wurde seitdem zu verschiedenen Anlässen wiederholt – entweder aus Anlass der Verabschiedung entscheidender Verträge oder Gipfeltreffen oder beim Auftreten grenzüberschreitender Themen oder Skandale.

Gleichzeitig waren die Einschätzungen zur Frage der Existenz einer europäischen Öffentlichkeit immer ambivalent. So wurde nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Maastricht, der die Europäische Union begründete, konstatiert, dass es „auf längere Sicht weder eine europäische Öffentlichkeit noch einen europäischen politischen Diskurs geben wird“ (Grimm 1995: 44), und es hieß: „Europa fehlen die politischen Diskurse“ (Scharpf 1999: 674). Aber es wurden auch Gegenstimmen laut, die alternative Interpretationen des vermeintlichen Öffentlichkeitsdefizits der EU lieferten. Eder/Kanther kritisierten: „Die pauschale Unterstellung eines Öffentlichkeitsdefizits ist empirisch nicht gedeckt und theoretisch unfruchtbar“ (Eder/Kanther 2000: 307). Ihrer Gegenthese nach waren bereits mehrere öffentliche Debatten auf europäischer Ebene geführt worden; es gebe also empirische Anzeichen für eine Europäisierung der nationalen Öffentlichkeiten.

Da Medien für die Konstituierung von Öffentlichkeit eine zentrale Funktion zukommen, wurde von politischen Akteuren zu Beginn des europäischen Integrationsprozesses gehofft, im Umkehrschluss könnten europäische Medien eine europäische Öffentlichkeit herstellen. Dass dies ein Fehlschluss ist, haben viele Versuche gezeigt, solche Medien zu gründen. Ob The European, Euronews oder Arte – Medien von wahrhaft europäischem Anspruch oder Tenor sind entweder wieder eingestellt worden oder erreichen nur ein kleines, elitäres Publikum. Als wichtiger Motor europäischer Öffentlichkeiten haben sie nicht funktioniert.

Gegenwärtiger Zustand:
Mit The European lag ein anspruchsvolles Blatt vor, das europäische Themen für ein europäisches Publikum aufbereitete, doch es konnte sich nicht am Markt halten; nun erscheint nur noch die Wochenzeitung European Voice mit ähnlicher Ausrichtung. The Herald Tribune wird von der politischen und wirtschaftlichen Elite in Europa gelesen, kann aber nicht als genuin europäische Publikation gelten. Mit Arte und Euronews (und auch Eurosport) werden Spartenprogramme mit europäischer Ausrichtung ausgestrahlt, doch sie senden durchweg mit sehr geringer Reichweite. Gemeinsam verantwortete Beilagen der Tageszeitungen taz, Le Monde und El Pais oder Kooperationen zwischen Die Zeit und Le Monde können als Angebote für eine europäische Öffentlichkeit betrachtet werden. Relevante digitale europäische Medien sind → Euronews, → Europe elects, → EU Observer, → Euractiv, → Politico Europe  und → The European. Insgesamt aber werden in Europa noch keine Medien publiziert, die breite Publikumsschichten außerhalb politischer und wirtschaftlicher Eliten bedienen.

Weil europäische Öffentlichkeit unter dem kommerziellen Druck globaler digitaler Medienkonzerne zunehmend zu einem Zustand degeneriert, den Pfetsch et al. (2018) als ‚dissonante Öffentlichkeiten‘ umschreiben, mehren sich Aktivitäten, die in Wiederbelebung des normativen Konzeptes von Öffentlichkeit eine lebendige, innovative und vielfältige europäische Öffentlichkeit und dafür eine digitale Infrastruktur fordern, die sich an europäischen Werten orientiert – dazu gehören u. a. → PublicSpaces , → European Public Open Spaces (EPOS), Public Open Space, → Beyond Patforms Initiative und das → Cultural Broadcasting Archive (CBA).

Forschungsstand:
Zwei Modelle werden diskutiert, wie die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit gedacht werden kann (Gerhards 2001):
– das Modell einer länderübergreifenden europäischen Öffentlichkeit, i. S. eines einheitlichen Mediensystems, dessen Informationen und Inhalte in den verschiedenen Ländern der EU rezipiert werden;
– die Vorstellung einer Europäisierung der nationalen Öffentlichkeit (van de Steeg 2000; Trenz 2000). Sie entwickelt sich in dem Maße, wie eine Öffnung der nationalen Öffentlichkeiten hin zu Europa stattfindet. Dazu gehört notwendigerweise das Zusammenwirken von Journalisten, politischen Akteuren und dem Publikum bzw. den Bürgern. Dieses Modell wird empirisch für wahrscheinlicher gehalten, weil es entstehen könnte, wenn in den nationalen Öffentlichkeiten zunehmend von den europäischen Entscheidungen und den die Entscheidung treffenden Eliten berichtet würde.

Dass sich die Berichterstattung in den jeweils nationalen Medien zunehmend europäischen Themen widmet – sei es, dass über die Vorgänge in Brüssel, dass über die Verhältnisse in anderen Ländern, die den eigenen Themen ähneln berichtet wird, oder dass große Krisenthemen, die alle Länder betreffen, aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden, ließ sich empirisch immer wieder beobachten – zuletzt anlässlich der COVID-19-Pandemie. Brüggemann et al. (2009) sahen fünf Treiber einer so sich europäisierenden transnationalen Öffentlichkeit: (1) transnationale Medien in Europa, (2) verschiedene Akteursgruppen als Sprecher einer europäischen Öffentlichkeit, (3) die Europäisierung nationaler Mediendebatten, (4) die Ausprägung europäischer Medienevents und (5) die Entstehung europäisierter Medien- und → Bürgerpublika.

So wie der Begriff einer einheitlichen oder nationalen Öffentlichkeit infrage gestellt wird und vielmehr von mehrfach segmentierten Öffentlichkeiten die Rede ist, wird auch europäische Öffentlichkeit als vielfach segmentierter Kommunikationsraum gedacht bzw. im Plural als europäische Öffentlichkeiten gefasst.

Literatur:

Brüggemann, Michael; Andreas Hepp; Katharina Kleinen-von Königslöw; Hartmut Wessler: Transnationale Öffentlichkeit in Europa: Forschungsstand und Perspektiven. In: Publizistik, 2009, 54, 391-414, DOI 10.1007/s11616-009-0059-4

Eder, Klaus; Cathleen Kantner: Transnationale Resonanzstrukturen in Europa. In: Maurizio Bach (Hrsg.): Die Europäisierung nationaler Gesellschaften. Sonderheft 40 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Springer VS [Köln] 2000, S. 306-331.

Gerhards, Jürgen: Das Öffentlichkeitsdefizit der EU im Horizont normativer Öffentlichkeitstheorien, Vortrag gehalten auf der Tagung ‚Bürgerschaft, Öffentlichkeit und Demokratie in Europa‘ im Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin, 6. und 7. Juli 2001. In: Kaelble, Hartmut; Martin Kirsch; Alexander Schmidt-Gernig (Hrsg): Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert [Frankfurt] 2002.

Grimm, Dieter: Braucht Europa eine Verfassung? In: JuristenZeitung 50. Jahrg., Nr. 12, 1995, S. 581-591.

Scharpf, Fritz W.: Demokratieprobleme in der europäischen Mehrebenenpolitik. In: Merkel Wolfgang; Andreas Busch (Hrsg.): Demokratie in Ost und West. Für Klaus von Beyme, Suhrkamp [Frankfurt am Main] 1999, S. 672-694.

Pfetsch, Barbara; Maria Löblich, Christiane Eilders: Dissonante Öffentlichkeiten als Perspektive kommunikationswissenschaftlicher Theoriebildung. In: Publizistik, 2018, 63, S. 477-495, DOI 10.1007/s11616-018-0441-1

Trenz, Hans-Jörg: Korruption und politischer Skandal in der EU. Auf dem Weg zu einer europäischen, politischen Öffentlichkeit? In: Maurizio Bach (Hrsg.): Die Europäisierung nationaler Gesellschaften. Sonderheft 40 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Springer VS [Köln] 2000, S. 332-359.

Tumber Howard: Marketing Maastricht: the EU and news management. In: Media, Culture and Society, 1995, 17, S. 511-519.

van de Steeg, Marianne: An Analysis of the Dutch and Spanish Newspaper Debates on EU Enlargement with Central and Eastern European Countries: Suggestions for a transnational European Public Sphere. In: Baerns, Barbara; Juliana Raupp (Hrsg.): Information und Kommunikation in Europa. Transnational Communication in Europe. Vistas [Leipzig] 2000, S. 61-87.

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Barbara Thomaß
*1957, Professorin im Ruhestand und Senior Researcher am Institut für Medienwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum sowie am Leibniz-Institut für Medienforschung│Hans-Bredow-Institut. Forschungsschwerpunkte im Themenfeld „Internationaler Vergleich von Mediensystemen“: internationale Kommunikation, Medien und Kommunikation unter politischen und ökonomischen Aspekten, Medien in Demokratisierungs- und Transformationsprozessen, europäische Medienpolitik, Medienethik und journalistische Ethik sowie Medienentwicklungszusammenarbeit. Barbara Thomaß ist zweite stellvertretende Vorsitzende des ZDF-Verwaltungsrates und Vorstandsvorsitzende der Akademie für Publizistik in Hamburg. Sie studierte in Berlin und Grenoble Publizistik, Politische Wissenschaft und Volkswirtschaftslehre und promovierte 1998 an der Universität Hamburg zum Thema „Journalistische Ethik“. Vor ihrer wissenschaftlichen Laufbahn absolvierte sie ein Zeitungsvolontariat und arbeitete mehrere Jahre als Journalistin.