lokal herunterbrechen

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Der umgangssprachliche Begriff „lokal herunterbrechen“ meint die journalistische Methode, sich überregionale oder regionale → Nachrichten für die lokale Berichterstattung zunutze zu machen und ihnen dadurch eine lokale Relevanz zu verleihen.

Der metaphorische Ausdruck „herunterbrechen“ steht dabei für das Verfahren, ein bedeutsames Ereignis oder eine gesellschaftliche Entwicklung auf ihren Gehalt für die Lokalberichterstattung zu reduzieren, sich quasi ,ein Stück davon abzuschneiden‘. Mit diesem Vorgehen lässt sich der Nachrichtenfaktor der räumlichen, mitunter auch emotionalen Nähe erzeugen. So porträtierte das Campus-Magazin pflichtlektüre der Technischen Universität Dortmund Teilnehmer der Olympischen Sommerspiele 2016 in Rio de Janeiro, die an der TU Dortmund studieren (pflichtlektüre 2016: 20-25). Dadurch gab die Redaktion dem weit entfernten Großereignis eine lokale Bedeutung. Dies kann auch sinnvoll sein, um komplexe Themen verständlicher aufzubereiten, indem sie auf das direkte Lebensumfeld der Leser projiziert werden. Entsprechend ist diese Form der Themengenerierung im → Lokaljournalismus von Tageszeitungen oder in anderen lokal begrenzten Publikationen gebräuchlich.

Für die Methode ist überwiegend einer der folgenden Untersuchungsansätze üblich:

1) Tragweite: Was bedeutet die Nachricht für den lokalen Berichterstattungsraum, in dem die Publikation erscheint? (z.B. Welche Auswirkungen haben die Terroranschläge auf das Sicherheitskonzept der Stadt? Welche Folgen hätten die Handelsabkommen TTIP und CETA für die Verbraucher und Firmen der Stadt?)

2) Situationsvergleich: Welche Situation ist im lokalen Berichterstattungsraum vorhanden und wie lässt sie sich mit der Situation vergleichen, die in der bestehenden Nachricht geschildert wird? (z.B. Mangel an Fachärzten, Pflegenotstand in Seniorenheimen)

3) Meinungsbildung: Welche persönliche Auffassung hat die heimische Bevölkerung zu dem überregionalen Geschehen? Je nach Thema wird sich die journalistische Recherche auf eine Straßen- oder Expertenumfrage konzentrieren. (z.B. Was halten Sie von einem Verbot von Plastiktüten im Einzelhandel? Was halten Sie von der Hygiene-Ampel für Gaststätten? Brauchen wir mehr Videoüberwachung im öffentlichen Raum?)

Cynthia Hardy nennt diesen Vorgang im Kontext der Diskursanalyse „bearing down“ (dt. etwas niederdrücken) und weist darauf hin, dass er auch in umgekehrter Richtung möglich ist – als „scaling up“: Hierbei werden lokale Nachrichten adaptiert und generalisiert, wodurch sie eine institutionalisierte Bedeutung gewinnen (vgl. Hardy 2004: 422; Hardy 2011: 195, zit. n. Zschiesche 2015: 154).

Das Herunterbrechen ist nicht nur innerhalb der Redaktionen etabliert, sondern wird auch von offiziellen Einrichtungen unterstützt: So veranstaltete die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) im März 2017 eine Konferenz mit dem Titel „Jede Stimme zählt“. Zuhören, berichten, bewegen – die Bundestagswahl 2017 im Lokalen. Darin erarbeiteten Redakteure u.a., wie Bundesthemen auf die lokale Ebene kommen: „Wie hoch die Steuern ausfallen, wie viele Betreuungsplätze es für Kinder gibt, ob schnelles Internet vorhanden ist oder in welchem Zustand die Fernstraßen sind – die Bundespolitik wirkt sich auf jeden von uns aus. Wie lässt sich über die Auswirkungen vor Ort berichten? Und wie lassen sich Parteiprogramme ins Lokale übersetzen?“ (Bundeszentrale für politische Bildung 2017: 3).

Zudem stellt die drehscheibe, das Forum für Lokaljournalisten der bpb, in Zusammenarbeit mit der Deutschen Presse-Agentur auf ihrer Website kontinuierlich Möglichkeiten vor, wie sich überregionale Nachrichten lokal aufgreifen lassen – von der deutschlandweit steigenden Geburtenrate über die Frauenquote in der Unternehmensführung bis zur Präsenz des Extremismus.

Literatur:

Bundeszentrale für politische Bildung: „Jede Stimme zählt“. Zuhören, berichten, bewegen – die Bundestagswahl 2017 im Lokalen. Redaktionskonferenz für Lokaljournalistinnen und Lokaljournalisten von Tageszeitungen. Flyer, 2017. (Hier als PDF-Datei verfügbar.)

Hardy, Cynthia: Scaling Up and Bearing Down in Discourse Analysis: Questions Regarding Textual Agencies and Their Context. In: Organization, 11(3), 2004, S. 415-425.

Hardy, Cynthia: How Institutions Communicate; or How Does Communication Institutionalize? In: Management Communication Quarterly, 25(1), 2011, S. 191-199.

pflichtlektüre: Rio! Zehn Studierende aus Dortmund und Bochum über ihren Weg zu den Olympischen Spielen in Brasilien. In: pflichtlektüre. Studierendenmagazin für Dortmund, 4, 2016, S. 20-25. (Die Ausgabe ist hier online abrufbar.)

Pöttker, Horst; Anke Vehmeier (Hrsg.): Das verkannte Ressort. Probleme und Perspektiven des Lokaljournalismus. Wiesbaden [VS Verlag für Sozialwissenschaften] 2013.

Zschiesche, Sandra Morticia: Kulturorganisationen und Corporate Cultural Responsibility. Eine neoinstitutionalistische Analyse am Beispiel der Festivalregion Rhein-Neckar. Wiesbaden [VS Verlag für Sozialwissenschaften] 2015.

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Martin Gehr
*1979, hat Diplom-Journalistik und Germanistik an der Technischen Universität Dortmund studiert. Er arbeitet als freier Journalist und Autor mit den Schwerpunkten Print und Online und war von 2016 bis 2019 redaktioneller Leiter des Journalistikons. Seine Diplomarbeit über Metaphern und Redewendungen im politischen Kommentar erschien 2014 im Verlag Springer VS (Wiesbaden). Zudem gehört er zu den Autoren des Lehrbuchs Stilistik für Journalisten (2010), das ebenfalls bei Springer VS veröffentlicht wurde. Neuerscheinung: Wer nicht alle Tassen im Schrank hat, sollte mal in der Spülmaschine nachschauen (2021) bei tredition und als E-Book bei tolino media.