Geschichte der Zeitung

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Wortherkunft: Vom mittelniederdeutschen ‚tidinge‘ stammend, entwickelt sich das Wort zu zîdinge, zîdunge. Es bezeichnet noch das ganze 17. Jahrhundert die Nachricht selbst, danach zunächst parallel das die → Nachrichten vermittelnde Medium.

Definition:
Ab dem frühen 16. Jahrhundert wurden als ‚Neue Zeitungen‘ handschriftlich oder durch den Druck vervielfältigte Nachrichten – zumeist von Einzelereignissen – bezeichnet. Unter einer Zeitung versteht man heute ein regelmäßig periodisch erscheinendes, allgemein zugängliches, der Aktualität verpflichtetes und universell berichtendes Druckwerk, wobei zunehmend auch Online-Publikationen mit Zeitungscharakter existieren.

Geschichte:
Die Zeitung erschien anfänglich im Rhythmus der Post mindestens einmal, bald mehrfach wöchentlich, ab 1650 in Leipzig täglich. Ihre Bezeichnung als Ordinari‑Zeitung erhielt sie von der – gewöhnlichen, quasi fahrplanmäßig erscheinenden – Ordinari‑Post. Sie berichtete öffentlich über alle aktuellen Ereignisse, insbesondere aber über politische und militärische Vorgänge. Eine erste gedruckte deutschsprachige Zeitung erschien als Relation 1605 in Straßburg. Wie das gesamte gedruckte Nachrichtenwesen entstand sie aus den handgeschriebenen Wochenzeitungen, die seit der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts zuerst in Norditalien von professionellen Nachrichtensammlern und -schreibern, den sogenannten Novellanten, sowie von Privatpersonen im Umfeld der Höfe und des Militärs gesammelt und an Abonnenten verkauft wurden. Sie waren bereits jedem Zahlungsfähigen zugänglich. Die Zeitung als Instrument politischer Kommunikation entstand aus dem diplomatischen Milieu, wo in der Regel Nachrichten von Fachleuten für Fachleute verfasst wurden.

Ihre flächendeckende Ver­brei­tung im deutschen Sprachgebiet ver­­­danken Zeitungen dem Dreißig­jährigen Krieg. 1620 erhielt Frankfurt am Main als erste Stadt eine zweite Zeitung. 1630 waren bis zu 30 Zeitungen gleich­zeitig erhältlich, mit dem schwedischen Kriegseintritt sorgte eine zwei­te Grün­dungswelle da­für, dass Zeitungen überall im deut­schen Sprachraum er­schien. Als Initialzündung wirkte der Krieg auch in an­de­ren euro­­päischen Län­dern. 1618 gab es Zeitungen in Am­ster­­­dam, 1620 in Antwer­pen, 1631 in Paris, 1641 in Lis­sa­bon und London, 1645 in Stockholm.

Im 17. Jahrhundert entwickelte sich Deutschland zum bedeutendsten Zeitungsland Europas und die Zeitung zur wichtigen Nachrichtenquelle eines schnell wachsenden → Publikums. Kein anderes Druckmedium hatte eine solche Reich­weite, die Zeitung war zum auflagen­stärksten weltlichen Lese­stoff ge­worden. In einer Stadt wie Hamburg hatte das Zei­tunglesen sich Mitte des 17. Jahrhunderts unter jenen Bevöl­ke­rungsteilen durch­gesetzt, die für das politische, wirt­schaft­li­che, kul­tu­relle und kirchliche Le­ben maßgebend wa­ren.

Territoriale Zersplitterung, konfessionelle Spaltung und günstige Verkehrslage führten zu einer besonders vielfältigen Zeitungslandschaft. Um 1700 konkurrierten etwa 60, am Ende des 18. Jahrhunderts bereits mindestens 200 Zeitungen mit beträchtlichen Auflagen miteinander; einige – beispielhaft die Staats- und gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten – entwickelten sich zu in ganz Europa geschätzten Informationsquellen. Am Ende des 18. Jahrhunderts war es zu einer beträchtlichen quantitativen und sozialen Ausweitung des Lesepublikums für Zeitungen gekommen. Gemeinschaftslektüre und ‑bezug, Lesegesellschaften und das Vorlesen im Wirtshaus, in den Schulen oder nach dem Gottesdienst sorgten für eine Vergrößerung der Leserschaft über die Abonnenten hinaus. Schon die handgeschriebenen Zeitungen waren im Abonnement bezogen worden, so blieb es auch bei den gedruckten, sodass sich in Deutschland eine Zeitungslandschaft entwickelte, die von festen Abonnements geprägt war.

Die Zeitung erwies sich als lohnendes Unternehmen, obgleich zumeist noch die Einnahmen aus Anzeigen fehlten. Mit dem 19. Jahrhundert kam es durch die Verbesserung der Drucktechnik und Verringerung der Preise, durch die Erhöhung der allgemeinen Bildung und seit 1848 nach der Durchsetzung der Pressefreiheit zur Gründung zahlloser lokaler Zeitungen zu einer Explosion des Pressewesens; es entstand die Partei‑, Arbeiter‑ und Generalanzeigerpresse; die Zeitung begann sich zu ihrer heute bekannten Gestalt zu entwickeln. Das Zeitunglesen war im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts inzwischen allgemein verbreitet, nachdem es bereits während der Aufklärung zu zahlreichen Versuchen gekommen war, spezielle Zeitungen für die unteren Stände zu etablieren.

Früh zeigte sich die Lei­stungsfähigkeit der öffentlichen Be­richt­erstattung über die po­li­tisch-dip­lo­ma­tisch-militärischen Konflikte. Bereits während des Dreißigjährigen Krieges findet sich eine erstaunliche Qualität der Informationen und Berichterstattung, bemerkenswert in ihrer Zuverlässigkeit, Anschaulichkeit und De­tail­treue. Berichtet wurde in einer jedermann verständlichen Sprache, in der Berichterstattung gab es nur wenige Tabus, man kann von einer ersten Rohfassung der Ge­schichtsschreibung sprechen.

Die Zeitung, aber auch das gesamte der Information und Diskussion über Politik dienende Schrift­tum in der er­sten Hälfte des 17. Jahrhunderts, widersprechen jeder Vorstellung, Politik sei aus­schließlich hin­ter ver­schlos­senen Türen gemacht worden, tatsächlich existierte bereits eine→ Öffentlichkeit der umfassenden ak­tu­el­len Information. Während des Krie­ges nutzten die Kriegs­herren erstmals bewusst Zeitungen, um auf die Öffentlichkeit und den Gegner einzuwirken: Tatsächlich wurden z. B. Nachrichten lanciert, die höhere als die tatsächlichen Truppenstärken angaben.

Am Ende des Krieges ging von Zeitungen und anderen Druck­me­dien bereits ein Recht­­fer­tigungsdruck auf die Po­litik aus. Die Verhandlungspartner während der Friedensverhandlungen nahmen nachweislich Rücksicht auf die publizierten Nachrichten. Kom­mu­ni­kations- und men­ta­litäts­ge­schicht­lich hat die Zeitung einen wichtigen Beitrag zur Säkulari­sie­rung in der Wahrnehmung des Politischen geleistet. Durch sie ent­stand ein ganz neues Moment, das die Wahrnehmung des Krieges ver­änderte und das militärische Ge­sche­hen anders als ein un­beeinflussbares Natur­ereignis wahrzunehmen erlaubte. Wichtig ist das kritische Potential der Zeitungs­be­richt­erstattung, das Handeln der Mächtigen erschien durchaus nicht im­mer in schmeichelhaftem Licht.

Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts herrschte seitens der Zeitungsredakteure in der Berichterstattung ein Selbstverständnis des ‚unpartheyischen‘ Referierens der von Korrespondenten gelieferten Nachrichten vor, die selbst aber durchaus nicht immer auf Kommentare verzichteten. Ein gebildetes Zeitungspublikum erwartete die Lieferung von Nachrichten aus unterschiedlichen Perspektiven und erhob den Anspruch, sich auf dieser Grundlage ein eigenes Urteil zu bilden. Die Zeitungen leisteten ihren Beitrag zur Entwicklung einer politischen Öffentlichkeit, indem sie jene Informationen lieferten, die Grundlage der Diskussionen besonders in den Zeitschriften wurden, insofern waren die Zeitungen früh ein Medium der Aufklärung.

Die ersten Anfänge einer kommentierenden Berichterstattung seit den 1740er Jahren waren die Folge zunehmender Konkurrenz und des Bemühens, der Zeitung neue Leserschichten zu erschließen. Aufgehoben wurde die Trennung von Nachricht, Diskussion und Meinung durch die seit 1780 schnell in größerer Zahl erscheinenden Zeitungen für das Volk, insbesondere für die bäuerliche Bevölkerung, die eine neuartige Verbindung von Zeitung und Zeitschrift darstellten. Das berühmteste Beispiel ist die von dem Pfarrer Hermann Werner Dietrich Braess herausgegebene Zeitung für Städte, Flecken und Dörfer, insonderheit für die lieben Landleute, alt und jung. Eine regelrechte Meinungspresse entstand erstmals vor und während der Befreiungskriege.

Für das literarische Leben und die Literatur spielte die Zeitung mit ihren ‚Gelehrten Teilen‘ und feuilletonartigen Beiträgen seit dem 18. Jahrhundert eine bedeutende Rolle, das Zeitungsgedicht ist eine frühe Erscheinung, Verlagsanzeigen und Rezensionen informierten schnell über Neuerscheinungen und trugen zur Entstehung eines nationalen Buchmarktes und einer literarischen Öffentlichkeit bei; daneben waren die Zeitungen für die Herausbildung einer einheitlichen modernen Sprache im deutschen Sprachraum mitverantwortlich. Früh waren bedeutende Dichter Herausgeber, → Redakteure oder Beiträger von Zeitungen. Für die durch Literatur vermittelte gesellschaftliche und politische Sozialisation breiter Bevölkerungsschichten hatte sie früh eine große Bedeutung, sie nahm, u. a. durch die Entstehung der Arbeiterpresse, im 19. Jahrhundert weiter zu; an dessen Ende fanden jährlich Hunderte von Fortsetzungsromanen in Zeitungen ihren Platz.

Wichtig ist die Zeitung für die ‚Geburt des Journalisten‘ und die Entstehung freier Schriftsteller. Zahlreichen Dichtern bot sie nicht nur ein Forum, sondern als Redakteur, Korrespondent oder Herausgeber schon im 17. Jahrhundert eine Existenzgrundlage. Bereits vor 1850 begann sich das Feuilleton zu einer eigenen redaktionellen Abteilung zu entwickeln, die für Erfolg und Beliebtheit von Zeitungen zunehmend wichtig wurde.

Forschungsstand:
Die bibliographische Erfassung der handgeschriebenen wie der gedruckten Zeitung ist für das 17. bis 19. Jahrhundert ebenso unbefriedigend wie deren Erforschung. Schneisen schlagen einzelne Bibliographien, Pressegeschichten einzelner Städte und Regionen sowie Studien zu einzelnen Zeitungen.

Literatur:

Bibliographien:

Bogel, Else; Elger Blühm: Die deutschen Zeitungen des 17. Jahrhunderts. Ein Be­stands­verzeichnis mit histori­schen und bibliographischen Angaben zusammengestellt von Else Bogel und Elger Blühm. Bd. 1–2, Bd. 3 – Nachtrag. Bremen [Schünemann] [Bd. 3: München u. a.: Saur] 1971 [Bd. 3: 1985]

Böning, Holger (Hrsg.): Deutsche Presse. Biobi­bliographische Handbücher zur Geschichte der deutschsprachigen periodischen Presse von den Anfängen bis 1815. Kommentierte Bibliographie der Zeitungen, Zeit­schriften, Intelligenzblätter, Kalender und Almanache sowie biographische Hinweise zu Herausgebern, Verlegern und Druckern periodischer Schriften. Bände 1.1, 1.2, 1.3: Holger Böning, Emmy Moepps (Bearb.): Hamburg; Band 2: Holger Böning, Emmy Moepps (Bearb.): Altona, Bergedorf, Harburg, Schiff­­bek, Wandsbek. Bd. 3.1, 3.2: Britta Berg, Peter Albrecht (Bearb.): Regionen Braunschweig / Wolfenbüttel – Hil­des­heim – Goslar – Blankenburg – Braunschweig – Clausthal – Goslar – Helmstedt – Hildesheim – Holzminden – Schöningen – Wolfenbüttel. Stuttgart‑Bad Cannstatt: Frommann‑Holzboog 1996, 1996, 1996, 1997.

Überblicksdarstellungen und Studien:

Bauer, Volker; Hol­ger Bö­ning (Hrsg.): Die Entstehung des Zeitungs­we­sens im 17. Jahr­hundert: Ein neues Medium und seine Folgen für das Kommunikationssystem der Frühen Neuzeit. Bremen [edition lumière] 2011.

Böning, Holger: Dreißigjähriger Krieg und Öffentlichkeit. Zeitungsberichte als Roh­fassung der Geschichtsschreibung. 2., vermehrte Auflage. Bremen [edition lumière] 2019.

Böning, Holger: Geschichte der Hamburger und Altonaer Presse. Von den Anfängen bis zum Ende des Alten Reichs. Bd. 1: Periodische Presse und der Weg zur Aufklärung; Bd. 2: Periodische Presse, Kommunikation und Aufklärung. Bremen [edition lumière] 2020.

Groth, Otto: Die Zeitung. Ein System der Zeitungskunde (Journalistik). Bd. 1‑4. Mannheim/Berlin/Leipzig [Bensheimer] 1928‑1930.

Jentsch, Irene: Zur Geschichte des Zeitungslesens in Deutschland am Ende des 18. Jhdts. Mit bes. Berücksichtigung der gesellschaftlichen Formen des Zeitungslesens. Dissertation, Leipzig, 1937.

Lindemann, Margot: Deutsche Presse bis 1815. Geschichte der deutschen Presse. Teil 1. Berlin [Colloquium Verlag] 1969.

Koszyk, Kurt: Deutsche Presse im 19. Jahrhundert. Berlin [Colloquium Verlag] 1958.

Kutsch, Arnulf; Johannes Weber (Hrsg.): 350 Jahre Tageszeitung. For­schun­gen und Dokumente. 2., durchgesehene Auflage. Bremen [edi­tion lumière] 2010.

Salomon, Ludwig: Geschichte des Deutschen Zeitungswesens. Von den ersten Anfängen bis zur Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches. Bd. 1‑3, Oldenburg/Leipzig [Schulze] 1900ff. Neudruck in 2 Bänden. Aalen [Scientia-Verlag] 1973.

Stöber, Rudolf: Deutsche Pressegeschichte. Von den Anfängen bis zur Ge­genwart. Konstanz: UVK Medien, 2., verbesserte u. vermehrte Auflage, Kon­stanz 2005.

Stöber, Rudolf: Neue Medien. Geschichte: Von Gutenberg bis Apple und Google. Me­dien­inno­va­tion und Evolution. Bremen [edition lumière] 2013.

Weber, Johannes: Straßburg 1605: Die Geburt der Zeitung. In: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte, 7, 2005, S. 1–26.

Welke, Martin; Jürgen Wilke (Hrsg.): 400 Jahre Zeitung. Die Entwicklung der Zeitung im internatio­nalen Kontext. 1605 – 2005. Bremen [edition lumière] 2008.

Wilke, Jürgen: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien [Böhlau Verlag] 2000, 2. durchgesehene und ergänzte Auflage 2008.

Wilke, Jürgen: Von der frühen Zeitung zur Medialisierung. Ge­sam­melte Studien II. Bremen [edition lumière] 2011.

 

 

 

 

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Holger Böning
* 1949 in Delmenhorst, Prof. Dr. phil. habil., Lehre als Starkstromelektriker, Abitur am Oldenburg-Kolleg. Studium der Germanistik, Geschichte und Pädagogik. Dissertation 1982 mit einer Arbeit über die Volksaufklärung in der Schweiz. Habilitation 1991 mit einer Arbeit über „Volk“ und Alltag in Presse und Gebrauchsliteratur der deutschen Aufklärung. Mitbegründer und -herausgeber des Jahrbuches für Kommunikationsgeschichte. Professor für Neuere Deutsche Literatur und Geschichte der deutschen Presse an der Universität Bremen. Bis 2015 Sprecher des Instituts Deutsche Presse­for­schung an der Universität Bremen, bis 2018 dort als Forschungsprofessor tätig. Hauptforschungsinteressen: Deutsche und Schweizer Geschichte, Literatur und Presse. Populäre Aufklärung im deutschsprachigen Raum. Geschichte des politischen Liedes und der politischen Lyrik, Musikgeschichte. Foto: Andreas Amann.