Oft verläuft eine journalistische → Recherche nicht wie geplant, ein → Interview kommt nicht oder käme nur unter riesigem Aufwand zustande, für den Besuch einer Veranstaltung bleibt keine Zeit. Dann ist die Versuchung groß, einen Beitrag kalt zu schreiben, also mithilfe anderer Materialien (z. B. aus dem Internet oder dem eigenen Archiv) zu verfassen, obwohl man eigentlich vor Ort hätte recherchieren müssen.
Bundesweit sorgte 2011 René Pfister für Aufsehen: Der Spiegel-Journalist hatte mit einem Porträt über den bayrischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer den Henri-Nannen-Preis für die beste Reportage erhalten. Sie begann mit einer plastischen Schilderung von Seehofers Modelleisenbahn. Bei der Preisverleihung räumte Pfister dann ein, nie in Seehofers Eisenbahnkeller gewesen zu sein. Das hatte er allerdings auch nie behauptet.
Kalt geschriebene Texte müssen keine Täuschung der Leser sein, sofern die Urheber klarmachen, welche Quellen ihren Schilderungen zugrunde liegen oder wo sie sich gar der Fiktion bedienen. Verschleiern sie dies alles, ist freilich die Grenze zum Leserbetrug überschritten. Dafür steht das Beispiel Tom Kummer: Der Schweizer Journalist machte zwischen 1990 und 2000 mit Künstler-Interviews in Qualitätsmedien Furore, bis aufflog, dass er mit den Stars nie selbst gesprochen, sondern die Interviews aus anderen Texten collagiert hatte.
In der Geschichte des → Feuilletons gibt es wiederholt Beispiele dafür, dass Kritiker über Konzerte schrieben, die gar nicht stattgefunden hatten, oder dass sie Programmteile rezensierten, die am Abend der Aufführung kurzfristig gestrichen worden waren. Die Rezensenten hatten kalt geschrieben, weil sie zum Beispiel von anderen Tourneestationen und aus Archivtexten zu wissen glaubten, wie der Abend ablaufen werde.
Kalt zu schreiben kann aber auch redlich und sinnvoll zu sein – zum Beispiel, wenn man vor einem anstrengenden Abendtermin schon einmal sachliche Bestandteile (Vorgeschichte, faktische Zusammenhänge, Parallelen etc.) zusammenschreibt, um diese Bausteine später schnell in den Beitrag einfügen zu können. Auch Routinebeiträge zum Beispiel über Jubiläen, Gedenk- oder Geburtstage werden oft vorgeschrieben. Selbst Nekrologe (Nachrufe) liegen mitunter schon ‘in der Schublade’, um im Falle des bald zu erwartenden Todes einer Persönlichkeit rasch und doch fundiert reagieren zu können (vgl. auch → journalistischer Jargon).