Third-Person-Effekt

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Definition:
Der Ursprung des Third-Person-Effekts (TPE) liegt in W. Philipps Davisons 1983 erschienenem Aufsatz „The Third-Person Effect in Communication“. Eine deutsche Übersetzung (etwa: „Andere-Personen-Effekt“) dieses Kernkonzeptes der kommunikationswissenschaftlichen Rezeptions- und Wirkungsforschung ist nicht geläufig.

Nach dem TPE nehmen (1) Menschen (First Persons) in der Regel wahr, dass andere Menschen (Third Persons) stärker von medialen Inhalten beeinflusst werden als sie selbst (Wahrnehmungskomponente), was (2) ihre Vorstellungen, Einstellungen, Verhaltensabsichten und ihr Verhalten beeinflusst (Effektkomponente).

Genereller sozialwissenschaftlicher Hintergrund des TPE ist das ,Thomas-Theorem‘, welches besagt, dass (korrekte oder falsche) Annahmen über soziale Tatsachen reale Konsequenzen haben (Thomas/Thomas: 1928: 572). Es ist also nicht (nur) entscheidend, welchen Einfluss mediale Inhalte tatsächlich auf Menschen ausüben, sondern vielmehr, welcher Einfluss medialen Inhalten unterstellt wird.

Geschichte:
Zahlreiche Anekdoten aus der Geschichte bestätigen den Third-Person-Effekt. Davison (1983) weist beispielsweise auf die Wirkung von Flugblättern im Zweiten Weltkrieg hin: 1945 warf die japanische Luftwaffe Flugblätter über der auf einer Pazifikinsel stationierten US-amerikanischen Einheit ab, die aus vielen schwarzen Soldaten und weißen Offizieren bestand. Die Soldaten wurden in den Flugblättern aufgefordert, nicht ihr Leben für „den weißen Mann“ zu riskieren und aufzugeben oder zu desertieren. Am nächsten Tag wurde die Einheit verlegt, obwohl es keinerlei Anzeichen gab, dass die Flugblätter die Einstellungen der Soldaten beeinflussten. Sie beeinflussten aber die Entscheidungen der Offiziere, die einen starken Effekt der Flugblätter auf die Soldaten vermuteten und handelten.

Forschungsstand:
Wissenschaftliche Studien zum TPE gibt es seit den 1980er-Jahren. Dabei wurde (1) die Wahrnehmungskomponente und (2) die Effektkomponente untersucht.

(1) Cohen, Mutz, Price und Gunther (1988) haben die Wahrnehmungskomponente des TPE erstmals experimentell nachgewiesen. Gunther (1991) zeigte, dass die Wahrnehmungsdifferenz eher darauf zurückzuführen ist, dass Personen den medialen Einfluss auf andere Personen überschätzen und nicht etwa, weil sie den medialen Einfluss auf sich selbst unterschätzen.

Kurz darauf gab es die ersten dem TPE widersprechenden Ergebnisse. So haben Gunther und Mundy (1993) gezeigt, dass positiv bewertete Medieninhalte dazu führen, dass Menschen stärkere Einflüsse auf sich selbst wahrnehmen als auf andere. Das Phänomen hat sich als ,First-Person-Perception‘ etabliert (im Überblick: Golan/Day 2008). Werden mediale Inhalte und deren unterstellte Wirkungen dagegen als unerwünscht bewertet (z. B. gewalttätige oder pornographische Inhalte), steigt der wahrgenommene mediale Einfluss auf andere Personen im Vergleich zur eigenen Person an (z. B. Scharrer/Leone 2008). Zudem steigt die Wahrnehmungsdifferenz, je größer die (räumliche, soziale, politische) Distanz zu anderen Personen wahrgenommen wird. Der wahrgenommene mediale Einfluss auf die eigene Person (First Persons) ist also geringer als der auf Freunde, die Familie oder Bekannte (Second Persons), welcher wiederum geringer ist als auf die Allgemeinheit oder Fremde (Third Persons; z. B. Meirick 2005).

Auch die Bewertung der Quelle hat einen Einfluss auf die Wahrnehmungsdifferenz: Je skeptischer Personen gegenüber dem Medium sind, welches mediale Inhalte verbreitet, desto größer ist der wahrgenommene Einfluss dieses Mediums auf andere im Vergleich zum wahrgenommenen Einfluss auf sich selbst (z. B. Tsay-Vogel 2016).

(2) Die Forschung zur Effektkomponente des TPE begann später und war zunächst weniger intensiv. Da Menschen den Effekt von medialen Inhalten als besonders stark empfinden, wenn sie den Inhalt als gefährlich einschätzen, liegt es nahe, dass diese Personen fordern, die Verbreitung dieser Medieninhalte zu beschränken. Die Befürwortung zu Zensurforderungen ist daher auch die am häufigsten untersuchte und am besten bestätigte Konsequenz der Wahrnehmungsdifferenz (Feng/Guo 2012): Je schädlicher Personen den Einfluss medialer Inhalte auf andere im Vergleich zu sich selbst einschätzen, desto eher befürworten sie Zensurmaßnahmen. Ebenso beeinflusst die Wahrnehmungsdifferenz die Forderung, unfair empfundene Wahlkampfwerbung zu verbieten (Salwen 1998). In dieser Studie – und in vielen weiteren Studien danach – konnte gezeigt werden, dass Zensurforderungen oder andere Konsequenzen insbesondere vom wahrgenommenen Einfluss auf andere Personen beeinflusst werden und nicht von der Wahrnehmungsdifferenz.

Neuere Studien untersuchen daher lediglich, welche Folgen der wahrgenommene Einfluss medialer Inhalte auf andere Personen hat. Dieser eng mit dem TPE verbundene Ansatz wird auch als ,Influence of Presumed Influence‘-Ansatz bezeichnet (Gunther/Storey 2003). Studien zu diesem Ansatz konnten zeigen, dass auch Politiker und Journalisten Zensurmaßnahmen befürworten, etwa, wenn sie von einem starken Einfluss von Online-Medien auf andere Personen ausgehen (Bernhard/Dohle, 2016; Dohle/Bernhard, 2014). Politiker steigern zudem ihre öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten, je stärker sie davon ausgehen, dass die Öffentlichkeit von Medien beeinflusst wird (Cohen/Tsfati/Sheafer, 2008). Studien unter Bürgern konnten unter anderem zeigen, dass Bürger eher strategisch wählen (Cohen/Tsfati 2009) oder stärker die → Öffentlichkeit beeinflussen wollen (‚Corrective Actions‘; Rojas 2010), je stärker sie davon ausgehen, dass andere Bürger von Medien beeinflusst werden.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Wahrnehmungskomponente des TPE als größtenteils bestätigt gelten kann. Die Effektkomponente des TPE wurde von dem ‚Influence of Presumed Influenc‘“-Ansatz als dominante Forschungslogik abgelöst.

Literatur:

Bernhard, Uli; Marco Dohle: Constructive or repressive? Journalists’ reactions to the presumed political influences of online media. In: Studies in Communication | Media, 5, 2016, S. 31-51.

Cohen, Jeremy; Diana Mutz; Vincent Price; Albert Gunther: Perceived Impact of Defamation: An Experiment on Third-Person Effects. In: Public Opinion Quarterly, 52, 1988, S. 161-173.

Cohen, Jonathan, Yariv Tsfati: The Influence of Presumed Media Influence on Strategic Voting. In: Communication Research, 36, 2009, S. 359-378.

Cohen, Jonathan, Yariv Tsfati; Tamir Sheafer: The Influence of Presumed Media Influence in Politics: Do Politicians’ Perceptions of Media Power Matter? In: Public Opinion Quarterly, 72, 2008, S. 331-344.

Davison, W. Philipps: The Third-Person Effect in Communication. In: Public Opinion Quarterly, 47, 1983, S. 1-15.

Dohle, Marco. Third-Person-Effekt. 2. Auflage. Baden-Baden [Nomos] 2017.

Dohle, Marco; Uli Bernhard: Presumed Online Media Influence and Support for Censorship: Results from a Survey among German Parliamentarians. In: International Journal of Public Opinion Research, 26, 2014, S. 256-268.

Feng, Guangchao Charles; Steve Zhongshi Guo: Support for Censorship: A Multilevel Meta-Analysis of the Thrid-Person Effect. In: Communication Reports, 25, 2012, S. 40-50.

Golan, Guy J.; Anita G. Day: The First-Person Effect and Its Behavioral Consequences: A New Trend in the Twenty-Five Year History of Third-Person Effect Research. In: Mass Communication and Society, 11, 2008, S. 539-556.

Gunter, Albert C.: What We Think Others Think: Cause and Consequence in the Third-Person Effect. In: Communication Research, 18, 1991, S. 355-372.

Gunther, Albert C.; Paul Mundy: Biased Optimism and the Third-Person Effect. In: Journalism Quarterly, 78, 1993, S. 58-67.

Gunther, Albert C.; J. Douglas Storey: The Influence of Presumed Influence. In: Journal of Communication, 53, 2003, S. 199-215.

Meirick, Patrick C.: Rethinking the Target Corollary: The Effects of Social Distance, Perceived Exposure, and Perceived Predispositions on First-Person and Third-Person Perceptions. In: Communication Research, 32, 2005, S. 822-843.

Rojas, Hernando: “Corrective” Actions in the Public Sphere: How Perceptions of Media and Media Effects Shape Political Behaviors. In: International Journal of Public Opinion Research, 22, 2010, S. 343-363.

Salwen, Michael B.: Perceptions of Media Influence and Support for Censorship: The Third-Person Effect in the 1996 Presidential Election. In: Communication Research, 25, 1998, S. 259-285.

Scharrer, Erica; Ron Leone: First-Person Shooters and the Third-Person Effect. In: Human Communication Research, 34, 2008, S. 210-233.

Sun, Ye; Zhongdang Pan; Lijiang Shen: Understanding the Third-Person Perception: Evidence From a Meta-Analysis. In: Journal of Communication, 58, 2008, S. 280-300.

Thomas, William I.; Dorothy Swaine Thomas: The Child in America. Behavior Problems and Programs. New York [Knopf] 1928.

Tsay-Vogel, Mina: Me versus Them. Third-Person Effects among Facebook Users. In: New Media & Society, 18, 2016, S. 1956-1972.

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Ole Kelm
*1990, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Studium an der Universität Greifswald und der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Promotion in der Kommunikationswissenschaft. Forschungsschwerpunkte: Politische (Online-)Kommunikation, Wahrnehmungsforschung, politischer Konsum. Kontakt: ole.kelm [at] hhu.de