Konstruktivismus

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Gordon Pask
Karikatur: Gordon Pask

(Radikaler) Konstruktivismus: Konsequente Beobachterabhängigkeit als Herausforderung, Zumutung und Befreiung für die empirische Journalismusforschung

Wortherkunft: Der Begriff Konstruktivismus ist vom lateinischen Verb construere (= errichten) hergeleitet. Das Wort bezeichnet sowohl eine Richtung in der Bildenden Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts als auch einen wissenschaftlichen Ansatz, insbesondere in der Philosophie (Jensen 1999: 89-92). Für die Bezeichnung des wissenschaftlichen Ansatzes wird in philosophischen Standardwerken oft eine begriffliche Nachbarschaft des Konstruktivismus mit Skeptizismus, Anti-Realismus, Instrumentalismus, manchmal auch Subjektivismus oder Idealismus hergestellt, und zwar meist aus der Perspektive des Realismus, um diesen zu verteidigen (Schöndorf 2014: 198-200; 201-208). Auch innerhalb der → Kommunikationswissenschaft wird Unterschiedliches unter Konstruktivismus verstanden: Im Einleitungsaufsatz zum Sonderheft von Medien und Kommunikationswissenschaft über Konstruktivismus kommt ein sehr breites Verständnis zum Vorschein, das sowohl die grundlegenden geteilten Prämissen als auch die Unterschiede verschiedener Stränge oder konstruktivistischer Diskurse benennt (vgl. Hepp/Loosen/Hasebrink/Reichertz 2017: 196). Ich beziehe mich hier vorwiegend auf den Radikalen (und systemtheoretischen) Konstruktivismus (vgl. Jensen 1999), weil er in der Journalistik bedeutendere und nachhaltigere Spuren hinterlassen hat als die anderen konstruktivistischen Ansätze.

Geschichte:
Namensgeber des Radikalen Konstruktivismus ist Ernst von Glasersfeld, der das Attribut ‚radikal‘ eingeführt hat, um seinen konstruktivistischen Ansatz von trivialen, oberflächlichen Varianten abzugrenzen. Glasersfeld (1997: 56–97) führt eine philosophisch beeindruckende Ahnentafel konstruktivistischer Denkweisen auf, die bis zum Vorsokratiker Sextus Empiricus zurückreicht. In der weiteren Philosophiegeschichte bezieht sich Glasersfeld (1997: 98-131) auf erkenntnistheoretische Skeptiker, aber auch auf moderne naturwissenschaftliche Forscher als Vorläufer der heutigen konstruktivistischen Denkweise. Sein unmittelbarer Anknüpfungspunkt ist dabei der Entwicklungspsychologe Jean Piaget und dessen Theorie des Wissens und Lernens.

Trotz der philosophischen Referenzen hat sich der heutige Konstruktivismus nicht aus einer philosophischen Erkenntnistheorie heraus entwickelt, sondern hat naturwissenschaftliche, empirische Wurzeln (vgl. die Beiträge in Schmidt 1987). Zudem hat er sich innerhalb der Kommunikationswissenschaft selbst entwickelt, insbesondere forciert durch Winfried Schulz in seiner hauptsächlich methodischen Auseinandersetzung mit dem Realismus, welcher beansprucht, die mediale (journalistische) Berichterstattung an der Realität selbst (die durch Realweltindikatoren erschlossen wird) zu messen (vgl. zur Rekonstruktion und Kritik an dieser Position Völker/Scholl 2014).

Definition:
Grundlegendes psychologisches Merkmal des Radikalen Konstruktivismus von Ernst von Glasersfeld ist die Annahme, dass Wahrnehmung kein passiver Empfang von Signalen aus der Realität ist, die aufgrund unserer beschränkten Sinnesfähigkeiten nur mehr oder weniger exakt und korrekt sein kann, sondern dass Wahrnehmung ein aktives Erfahren ist. In und mit dieser Erfahrungswelt leben wir, sodass jeder Bezug auf eine ontisch gegebene Realität eine Schlussfolgerung aus dieser Erfahrungswelt ist, die vom erkennenden und erfahrenden Subjekt abhängt. Es ist deshalb sprachlich angemessener, von Subjektabhängigkeit und nicht von Subjektivität zu sprechen, um die Gegenüberstellung von Subjektivität und Objektivität zu vermeiden. Es kann philosophisch unentschieden bleiben, ob sich die Realität dem erfahrenden Subjekt zeigt (offenbart) oder ob sich das Subjekt seine Realität kognitiv selbst zusammensetzt (konstruiert). Alles, was wir wissen, ist unsere Erfahrungswirklichkeit; etwas Jenseitiges zu dieser Erfahrungswirklichkeit kann man weder beweisen noch widerlegen, ist also rein spekulativ. An dieser Kernannahme des Radikalen Konstruktivismus erkennt man auch die Abgrenzung zu trivialen konstruktivistischen Ansätzen, bei denen Subjektivität und Objektivität der Wahrnehmung oder Erfahrung eher addiert werden (Glasersfeld 1997: 310).

Die psychologische Herangehensweise passt gut zum kybernetischen Ansatz von Heinz von Foerster, der die Figur des Beobachters oder besser: des beobachtenden Systems einführt. Alle Wahrnehmung, Erfahrung, Beobachtung von etwas (z. B. von einem Objekt) ist notwendig abhängig von der beobachtenden Instanz selbst, von der Perspektive. So entsteht ein kybernetischer Kreislauf von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt, die nicht getrennt oder kausal aufeinander bezogen werden können. Eine solche Kybernetik zweiter Ordnung (oder: Kybernetik der Kybernetik) kommt durch die doppeldeutige Formulierung „observing systems“ zum Ausdruck: Systeme haben den Doppelcharakter als zugleich beobachtende und beobachtete Systeme (von Foerster 1979).

Einen neurobiologischen Zugang zum Konstruktivismus haben Humberto Maturana und Francisco Varela (1980) entwickelt: Sie beschäftigten sich mit der „Autopoiese“ der Zellen von Lebewesen. Sowohl einzelne Zellen als auch das Gehirn insgesamt operieren autonom, was nicht bedeutet, dass sie unabhängig von ihrer Umwelt wären, sondern dass ihr innerer Mechanismus die entscheidende Instanz der eigenen Operationsweisen ist. Die Wahrnehmung des Systems ist beobachterabhängig, sodass Objektivität bestenfalls ein Konsens verschiedener Beobachtungen oder Beobachtungsinstanzen sein kann („Objektivität in Klammern“) und nicht die Übereinstimmung zwischen Beobachtungskonstrukt und Objekt („Objektivität ohne Klammern“, also Objektivität im Sinn des philosophischen Realismus) (Maturana 1998: 231-237).

In der Medien- und Kulturwissenschaft hat Siegfried J. Schmidt unabhängig von der naturwissenschaftlichen eine philosophische Begründung entwickelt, die auf Hegels Logik zurückgeht. Danach wirkt ein Mechanismus von Setzung (Konstruktion von etwas, Denken, Kommunizieren, Handeln) und Voraussetzung (Bezug auf vorangegangene Setzungen) zirkulär, strikt komplementär (also einander notwendig bedingend) und sich selbst erzeugend. Aus dieser logischen Figur kann Schmidt (2003: 27-33) an das Theorem der Beobachtungsabhängigkeit, der Konstruktion von Wirklichkeit, an Selektivität, Reflexivität, Relationalität und Kontingenz anschließen und ein reichhaltiges Netzwerk von sozialen, kulturellen und medialen Prozessen analysieren.

Insgesamt sperrt sich der Radikale Konstruktivismus gegen ontologische Existenzaussagen (Es gibt X) oder metaphysische Annahmen (über die Beschaffenheit der Welt, der Realität, der Wirklichkeit) und argumentiert konsequent diskursintern. Dieser konsequente Bruch mit dem erkenntnistheoretischen Realismus wurde von dem Philosophen Josef Mitterer (1992) als non-dualisierende Philosophie bezeichnet, die keinerlei dualistische Trennung (zwischen Welt und Erfahrung, Wirklichkeit und Sprache oder Wirklichkeit und Diskurs, Objekt und Subjekt) akzeptiert, sondern stets diskursimmanent bleibt: Wenn verschiedene Konstruktionen von Wirklichkeit um ihre Richtigkeit streiten, ist dieser Streit Teil eines Diskurses, findet also kommunikativ statt.

Forschungsstand:
In der Journalismusforschung hat sich der konstruktivistische Ansatz insbesondere kritisch mit dem Konzept → Objektivität in theoretischer und mit → ethischen Fragen in praktischer Hinsicht beschäftigt (Weischenberg 1993; Weber 2000; Weischenberg/Scholl 1995; Pörksen 2006). Die journalistische Berichterstattung und ihre Qualität wird nicht durch den Vergleich mit (Ausschnitten aus) der Realität bestimmt, sondern durch eine Analyse der professionellen Strukturen (→ Ausbildung, professionelles Rollenverständnis, redaktionelle → Unabhängigkeit usw.), der Anwendung professioneller Regeln (Trennungsnorm, Prüfung von → Quellen, → Recherche usw.). Die konstruktivistische Vorgehensweise ist also auf den Prozess hin orientiert, wie Wissen generiert wird, und nicht am Ergebnis orientiert, ob das Wissen richtig ist, also mit der Wirklichkeit übereinstimmt (Realismus), weil auch diese Messung der Übereinstimmung wiederum ein Prozess der Wissensgenerierung ist (vgl. Völker/Scholl 2014). Überhaupt ist aus konstruktivistischer Perspektive keine normative Instruktion des Journalismus vorgesehen, sondern eher eine Sensibilisierung für bestimmte Probleme und eine Inspiration für praktische Lösungen (Pörksen 2006: 20).

Dass der Konstruktivismus und seine epistemologischen Fragen immer wieder relevant werden, belegen jüngere Debatten um algorithmische Konstruktionen von Wirklichkeit, im Journalismus zum Beispiel um → Roboterjournalismus. Der Konstruktivismus sensibilisiert für die Frage, wie Algorithmen durch ihre Programmierung Wirklichkeit konstruieren. Wenn von Bias die Rede ist, stellt sich die Frage, ob es eine unverzerrte Programmierung gibt. Jedenfalls ist die programmierende Instanz und der Algorithmus der Software im konstruktivistischen Sinn ein beobachtendes System, das nicht neutralisiert werden kann. Eine kritische Perspektive auf gesellschaftliche Wirkung algorithmischer Wirklichkeitskonstruktionen verweist im praktischen Sinn zurück auf die Verantwortung des Einsatzes von Algorithmen (Loosen/Scholl 2017).

Für die konstruktivistische Journalismusforschung erweisen sich folgende Kriterien als erkenntnisleitend:

1) Der Gegenstand der Forschung sind Erkenntnisfragen (theoretisch-wissenschaftlich wie praktisch-journalistisch).

2) Der Blickwinkel der Forschung ist die Perspektive der Beobachtung zweiter Ordnung.

3) Der Fokus der Forschung liegt auf den konkreten, praktischen, operativen Prozeduren der (wissenschaftlichen wie journalistischen) Erkenntnisgewinnung, geht also von der strikten Abhängigkeit jeglicher Beobachtung von der beobachtenden Instanz aus.

4) Forschung und journalistische Praxis sind kontingent in ihrer jeweiligen Erkenntnisgewinnung und Erkenntnisvermittlung. Realitätskonstruktionen sind folglich weder notwendig (alternativlos) noch willkürlich (beliebig, gleichwertig), sondern müssen jeweils vor dem Hintergrund möglicher Alternativen analysiert werden.

Literatur:
Foerster, Heinz von: Observing Systems. Seaside (CA): [Intersystems] 1979.

Glasersfeld, Ernst von: Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme. Frankfurt/Main [Suhrkamp] 1997.

Hepp, Andreas; Wiebke Loosen; Uwe Hasebrink; Jo Reichertz: Konstruktivismus in der Kommunikationswissenschaft. Über die Notwendigkeit einer (erneuten) Debatte. In: Medien und Kommunikationswissenschaft, 65(2), 2017, S. 181-206.

Jensen, Stefan: Erkenntnis – Konstruktivismus – Systemtheorie. Einführung in die Philosophie der Konstruktivistischen Wissenschaft. Opladen, Wiesbaden [Westdeutscher Verlag] 1999.

Loosen, Wiebke; Armin Scholl: Journalismus und (algorithmische) Wirklichkeitskonstruktion. Epistemologische Beobachtungen. In: Medien und Kommunikationswissenschaft, 65(2), 2017, S. 348-366.

Maturana, Humberto R.: Biologie der Realität. Frankfurt/Main [Suhrkamp] 1998.

Maturana, Humberto R.; Francisco J. Varela: Autopoiesis and cognition: The realization of the living. Dordrecht [Reidel] 1980.

Mitterer, Josef: Das Jenseits der Philosophie. Wider das dualistische Erkenntnisprinzip. Wien [Passagen Verlag] 1992.

Pörksen, Bernhard: Die Beobachtung des Beobachters. Eine Erkenntnistheorie der Journalistik. Konstanz [UVK] 2006.

Schmidt, Siegfried J. (Hrsg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Frankfurt/Main [Suhrkamp] 1987.

Schmidt, Siegfried J.: Geschichten & Diskurse. Abschied vom Konstruktivismus. Reinbek [Rowohlt] 2003.

Scholl, Armin: Die Wirklichkeit der Medien. Der Konstruktivismus in der Kommunikations- und Medienwissenschaft. In: Bernhard Pörksen (Hrsg.): Schlüsselwerke des Konstruktivismus. Mit einem Nachwort von Siegfried J. Schmidt. 2. Auflage. Wiesbaden [Springer VS], 2015, S. 431-449.

Schöndorf, Harald: Erkenntnistheorie. Stuttgart [Kohlhammer] 2014.

Schulz, Winfried: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien. Analyse der aktuellen Berichterstattung. Freiburg, München [Alber] 1976 [1990].

Völker, Julia; Armin Scholl: Do the Media Fail to Represent Reality? A Constructivist and Second-Order Critique of the Research on Environmental Media Coverage and Its Normative Implications. In: Constructivist Foundations, 10(1), 2014, S. 140-149; 157-162.

Weber, Stefan: Wie journalistische Wirklichkeiten entstehen. Salzburg [Kuratorium für Journalistenausbildung] 1999.

Weber, Stefan: Was steuert Journalismus? Ein System zwischen Selbstreferenz und Fremdsteuerung. Konstanz [UVK] 2000.

Weischenberg, Siegfried (1992): Die Verantwortung des Beobachters. In: Rundfunk und Fernsehen, 40(4), 1992, S. 507-527.

Weischenberg, Siegfried: Die Medien und die Köpfe. Perspektiven und Probleme konstruktivistischer Journalismusforschung. In: Bentele, Günter; Manfred Rühl (Hrsg.): Theorien öffentlicher Kommunikation. Problemfelder, Positionen, Perspektiven. München [Ölschläger] 1993, S. 126-136.

Weischenberg, Siegfried; Armin Scholl: Konstruktivismus und Ethik im Journalismus. In: Rusch, Gebhard; Siegfried J. Schmidt (Hrsg.): Konstruktivismus und Ethik. Frankfurt/Main [Suhrkamp] 1995, S. 214-240.

 

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Armin Scholl
* 1962, apl. Prof. Dr., ist seit 1998 Akademischer Oberrat und dann außerplanmäßiger Professor am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Münster. Er studierte Publizistik, Politikwissenschaft, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Germanistik in Mainz und Münster. Nach der Promotion war er wissenschaftlicher Mitarbeiter der Studie "Journalismus in Deutschland" (Leiter: Siegfried Weischenberg) und danach wissenschaftlicher Assistent an der FU Berlin (bei Hans-Jürgen Weiß). Forschungs-/Arbeitsschwerpunkte: Theorien, Methoden, Journalismusforschung, Alternativmedien und Gegenöffentlichkeit.