Medialisierung

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Analog zu Begriffen wie Kommerzialisierung oder Globalisierung beschreibt Medialisierung Phänomene gesellschaftlichen Wandels. Medialisierung nimmt hierbei die Rolle von Medien als Triebfeder sozialen Wandels in den Blick. Hinsichtlich des Verständnisses von Medien sind im deutschsprachigen Raum zwei Konzepte zu unterscheiden: Die Medialisierungsforschung interessiert sich für die Bedeutung publizistischer Massenmedien und ist abzugrenzen vom Konzept der Mediatisierung, das Medientechnologien in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt.

Definition:
Medialisierung beschreibt die Tatsache, dass die Bedeutung von Medien in modernen Gesellschaften zunimmt. Diese manifestiert sich in der Anpassung von Handlungen und Strukturen an der Medienlogik. Als Medialisierungsfolgen (Marcinkowski/Steiner 2010) stellen solche Anpassungen den Kern des Konzepts dar.

Medialisierung skizziert folgendes Phänomen: Gesellschaftliche Teilbereiche wie Politik, Sport, Recht oder Wissenschaft ziehen journalistische Aufmerksamkeitskriterien ins Kalkül und verändern sich entsprechend, um mediale Bedürfnisse zu befriedigen: Wenn z. B. Sportarten ihr Regelwerk ändern, um die Attraktivität für die Medien zu erhöhen (bspw. größere Bälle im Tischtennis, veränderte Zählweisen im Volleyball oder das K.O.-System bei der Vierschanzentournee im Skispringen), ist dies ein Indiz für Medialisierung. Medialisierung findet auch dann statt, wenn Gerichte die Urteilsverkündung für Fernsehübertragungen öffnen oder Politiker Pseudo-Ereignisse in dem Glauben inszenieren, dass diese auf mediales Interesse stoßen (siehe auch → Politik und Journalismus).

Medialisierung beschreibt somit eine bestimmte Form von Medienwirkungen, die aber – im Gegensatz zum Gegenstand der klassischen Medienwirkungsforschung – überindividuell, langfristig und indirekt sind (Kepplinger 2008).

Geschichte und gegenwärtiger Zustand:
Das Konzept der Medialisierung wurde zu Beginn der 1980er Jahre in die Kommunikationswissenschaft eingeführt und hat nach und nach an Popularität gewonnen. Pioniere der Medialisierungsforschung waren insbesondere David L. Altheide und Robert P. Snow mit ihrem maßgeblichen Text zur Medienlogik (Altheide/Snow 1979). Die in letzter Zeit mitunter inflationäre Bezugnahme auf das Konzept wurde aber durchaus skeptisch beäugt (Deacon/Stanyer 2014).

In ihren Anfängen beschäftigte sich die Medialisierungsforschung insbesondere mit dem Verhältnis von Medien und Politik und sah aus demokratietheoretischer Perspektive die Gefahr, dass sich die Politik den Erfolgsbedingungen der Medien unterwerfe und somit die eigene Identität aufs Spiel setze. Es wurde eine Kolonialisierung der Politik durch die Medien konstatiert (Meyer 2002). Mit systemtheoretischen Argumenten wurde die Perspektive im Laufe der Zeit jedoch umgedreht und im Sinne einer Selbst-Medialisierung (Strömbäck/Esser 2014) die Eigenverantwortlichkeit der medialisierten Bereiche im Umgang mit den Medien betont.

Demnach handelt es sich bei Medialisierung um „keine diabolische Heimsuchung“ (Marcinkowski/Steiner 2010) seitens der Massenmedien, sondern um einen aktiven Umgang gesellschaftlicher Teilbereiche mit den Medien. Individuelle oder kollektive Akteure entscheiden sich aus freiem Willen dazu, medienbezogene Maßnahmen zu ergreifen, wenn sie sich hiervon eine Verbesserung der eigenen Leistungsfähigkeit versprechen. Dies beurteilen sie jeweils vor dem Hintergrund der eigenen Systemlogik. Entsprechend kommt es im Sport nur dann zur Medialisierung, wenn Sport Medien als relevant für den sportlichen Erfolg erachtet (siehe auch → Sportjournalismus); Voraussetzung für eine Medialisierung der Justiz ist die Ansicht im Rechtssystem, dass Medien Relevanz für die Rechtsprechung haben.

Die Ausgestaltung der medienbezogenen Maßnahmen beruht maßgeblich darauf, was diese Akteure für die Medienlogik halten (Nölleke/Scheu 2018). Aktuelle Medialisierungsforschung widmet sich folglich verstärkt auch der Antizipation von Medienwirkungen und Medienlogik. Erweitert wurde das Konzept zuletzt auch auf defensive Medialisierungsstrategien. Demnach ist auch eine bewusste Abschirmung als Facette von Medialisierung zu verstehen (Birkner/Nölleke 2016), etwa wenn sich Angeklagte im Gerichtssaal hinter Aktenordnern vor Kameras verstecken, wenn Fußballvereine Medienboykotts ausrufen oder Prominente Veranstaltungsorte durch den Hintereingang betreten, um den Fragen der Journalisten zu entgehen.

Forschungsstand:
Während zahlreiche konzeptionelle Beiträge vorliegen, ist der empirische Ertrag der Medialisierungsforschung vergleichsweise gering. Resümiert man den aktuellen Forschungsstand, fallen vor allem drei Desiderata auf: (1) Vorliegende Studien haben mitunter das Problem der Beweisführung, dass Strukturveränderungen auch tatsächlich auf medienbezogene Erwägungen zurückzuführen sind. (2) Medialisierung wird zwar als Prozess konzipiert, doch Längsschnittstudien fehlen weitgehend. (3) Es ist theoretisch plausibel, dass sich der Medialisierungsgrad je nach Bedarf an → öffentlicher Aufmerksamkeit unterscheidet. Komparative Studien, die mehrere Teilbereiche miteinander vergleichen, liegen bislang aber nicht vor. Die Vergleichbarkeit vorliegender Einzelstudien ist insofern schwierig, als sich die Operationalisierungen des Konzepts unterscheiden und jeweils verschiedene Indikatoren im Fokus des Interesses stehen (Verhalten individueller Akteure, Ressourcen für Öffentlichkeitsarbeit etc., vgl. dazu → PR und Journalismus).

Der Großteil der empirischen Medialisierungsforschung, die insbesondere mit qualitativen Interviews, standardisierten Befragungen und Dokumentenanalysen arbeitet, beschäftigt sich mit medienbezogenen Maßnahmen in Politik (z.B. Donges 2008; Schulz 2006), Sport (z.B. Birkner/Nölleke 2016; Dohle/Vowe/Wodtke 2009; Heinecke 2014; Meyen 2014) und Wissenschaft (z.B. Allgaier/Dunwoody/Brossard/Lo/Peters 2013; Marcinkowski/Kohring/Fürst/Friedrichsmeier 2014; Scheu/Olesk, 2018). Ergebnisse deuten darauf hin, dass in den untersuchten Bereichen die Relevanz von Medien zwar erkannt wird, dass sich die Medialisierungsgrade aber über die Bereiche hinweg und auch innerhalb der Bereiche (z.B. bei verschiedenen Sportarten) unterscheiden.

An die Journalismusforschung knüpft das Medialisierungskonzept insofern an, als es Auskunft über die wahrgenommene Relevanz von Journalismus gibt und zudem darüber informiert, was journalismusexterne Akteure als konstituierende Merkmale von Journalismus begreifen (antizipierte Medienlogik). Anhand des Medialisierungskonzepts können zudem Annahmen hinsichtlich des journalismusbezogenen Handelns von individuellen und kollektiven Akteuren in gesellschaftlichen Teilbereichen getroffen werden.

Literatur:

Allgaier, Joachim; Sharon Dunwoody; Dominique Brossard; Yin-Yieh Lo; Hans Peter Peters: Medialized science? In: Journalism Practice, 7(4), 2013, S. 413-429. doi:10.1080/17512786.2013.802477

Altheide, David L.; Robert P. Snow: Media Logic. Beverly Hills [Sage] 1979.

Birkner, Thomas; Daniel Nölleke: Soccer Players and Their Media-Related Behavior. A Contribution on the Mediatization of Sports. In: Communication & Sport, 4, 2016, S. 367-384. doi:10.1177/2167479515588719

Deacon, David; James Stanyer: Mediatization: key concept or conceptual bandwagon? In: Media, Culture & Society, 36(7), 2014, S. 1032-1044. doi:10.1177/0163443714542218

Dohle, Marco; Gerhard Vowe; Christian Wodtke: 2 Millimeter Unterschied. Eine Inhaltsanalyse von Regeländerungen zur Überprüfung von Mediatisierungstendenzen im Sport. In: Beck, Daniel; Steffen Kolb (Hrsg.): Sport & Medien. Aktuelle Befunde mit Blick auf die Schweiz. Chur [Rügger] 2009, S. 159-178.

Donges, Patrick: Medialisierung politischer Organisationen. Parteien in der Mediengesellschaft. Wiesbaden [VS Verlag für Sozialwissenschaften] 2008.

Heinecke, Stephanie: Fit fürs Fernsehen? Die Medialisierung des Spitzensports als Kampf um Gold und Sendezeit. Köln [Herbert von Halem Verlag] 2014.

Kepplinger, Hans Mathias: Was unterscheidet die Mediatisierungsforschung von der Medienwirkungsforschung? In: Publizistik, 53(3), 2008, S. 326-338.

Marcinkowski, Frank;, Matthias Kohring; Silke Fürst; Andres Friedrichsmeier: Organizational Influence on Scientists’ Efforts to Go Public. An Empirical Investigation. In: Science Communication, 36(1), 2014, S. 56-80. doi:10.1177/1075547013494022

Marcinkowski, Frank; Steiner, Adrian: Was heißt „Medialisierung“? Autonomiebeschränkung oder Ermöglichung von Politik durch Massenmedien? In: Arnold, Klaus; , Christoph Classen; Susanne Kinnebrock; Edgar Lersch; Hans-Ulrich Wagner (Hrsg.): Von der Politisierung der Medien zur Medialisierung des Politischen? Zum Verhältnis von Medien, Öffentlichkeiten und Politik im 20. Jahrhundert. Leipzig [Leipziger Universitäts-Verlag] 2010, S. 51-76.

Meyen, Michael: Medialisierung des deutschen Spitzenfußballs. Eine Fallstudie zur Anpassung von sozialen Funktionssystemen an die Handlungslogik der Massenmedien. In: Medien & Kommunikationswissenschaft, 62(3), 2014, S. 377-394.

Meyer, Thomas: Media democracy. How the media colonize politics. Cambridge/Malden [Polity Press/Blackwell] 2002.

Nölleke, Daniel; Andreas M. Scheu: Perceived Media Logic. A Point of Reference for Mediatization. In: Thimm, Caja; Mario Anastasiadis; Jessica Einspänner-Pflock (Hrsg.): Media Logic(s) Revisited. Modelling the Interplay between Media Institutions, Media Technology and Societal Change. Basingstoke [Palgrave Macmillan] 2018, S. 195-216.

Scheu, Andreas M.; & Olesk, Arko: National Contextual Influences on Mediatization. The Comparison of Science Decision Makers in Estonia and Germany. In: Science Communication, 40(3), 2018, S. 366-392. doi:10.1177/1075547018766917

Schulz, Winfried: Medialisierung von Wahlkämpfen und die Folgen für das Wählerverhalten. In: Imhof, Kurt; Roger Blum; Heinz Bonfadelli; Otfried Jarren (Hrsg.), Demokratie in der Mediengesellschaft. Wiesbaden [VS Verlag für Sozialwississenschaften] 2006, S. 41-57.

Strömbäck, Jesper; Frank Esser: Mediatization of politics. Towards a theoretical framework. In: Esser, Frank; Jesper Strömbäck (Hrsg.): Mediatizations of politics. Basingstoke/New York [Palgrave Macmillan] 2014, S. 3-28.

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*1978, Dr., ist seit 2017 Universitätsassistent (Post-Doc) am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien. Er hat 2012 an der Universität Münster zum Thema „Experten im Journalismus“ promoviert. Seine Forschungsschwerpunkte sind Medialisierung, Sportkommunikation und Wissenschaftskommunikation. Kontakt: daniel.noelleke (at) univie.ac.at