Eine Einführung von Horst Pöttker
Wortherkunft: ahd. scehan = sich ereignen, vermengt mit ags. sciftan = verteilen; frz. Journal = Tagebuch
Definition:
Entstehung und Entwicklung des Journalistenberufs und deren wissenschaftliche Rekonstruktion. Als Journalistenberuf wird dabei nach den Berufsdefinitionen Max Webers das auf die gesellschaftlich bedeutsame Aufgabe des Herstellens von Öffentlichkeit, des Vermittelns von möglichst richtigen und wichtigen Informationen an möglichst viele Menschen spezialisierte Bündel von Selbstverständnis, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Regeln und Leistungen verstanden, das mit der Chance auf ein kontinuierliches Einkommen verbunden ist.
Die Geschichte des Journalismus ist von der Geschichte der Medien (Mediengeschichte) zu unterscheiden. Einerseits sind Medien (Presse, Rundfunk, Internet) als technisch-organisatorische Kanäle von (öffentlicher) Kommunikation eine Sphäre der Voraussetzungen, die Entstehung und Entwicklung des Journalistenberufs beeinflusst haben und noch beeinflussen; andererseits stellen Mediengeschichte und Medienanalyse auch Fragen, die für den Journalistenberuf kaum relevant sind.
Geschichte:
Ein früher Titel zur Geschichte des deutschen Journalismus liegt seit 1845 vor. Das 1971 nachgedruckte Buch von Robert Eduard Prutz enthält bereits eine Definition des Journalismus als Selbstgespräch, „welches die Zeit über sich selbst führt“, die der Auffassung der modernen Systemtheorie vom Journalismus als „permanente Selbstbeobachtung der Gesellschaft als Fremdbeobachtung“ sehr nahe kommt. Noch heute lesenswert ist aber vor allem Dieter Paul Baumerts Dissertation zur Entstehung des deutschen Journalismus von 1928. Baumert schlägt eine Phaseneinteilung der Journalismusgeschichte (→ Präjournalismus bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts, → korrespondierender Journalismus bis zur Aufklärungsepoche, → schriftstellerischer Journalismus bis zum Professionalisierungsschub im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und seitdem → redaktioneller Journalismus) vor, die seit des digitalen Medienumbruchs an der Wende zum 21. Jahrhundert zwar der Erweiterung um eine neue Phase bedarf, aber bis zu dieser Zäsur mit Einschränkung nach wie vor brauchbar ist.
Die zwischen 1966 und 1986 erschienene, vierbändige, im Wesentlichen von Kurt Koszyk verfasste, in ihrem Material- und Detailreichtums bis heute nicht ersetzte Rekonstruktion der Entwicklung zwischen Anfang des 17. und Mitte des 20. Jahrhunderts ist zwar als Presse-, also Medien-Geschichte angelegt, aber gleichwohl als Quellenreservoir für die Geschichte des Journalistenberufs unverzichtbar, ähnlich wie die kurz vor und nach der NS-Zeit erschienenen zeitungswissenschaftlichen Kompendien Otto Groths. Jörg Requate hat in seiner Dissertation Journalismus als Beruf (1995) die Professionalisierungsphase im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts analysiert. Die internationale Verbreitung des in dieser Phase in den USA entstandenen Nachrichtenparadigmas wurde 2005 in einem von Svennik Høyer und Horst Pöttker herausgegebenen Sammelband rekonstruiert.
2011 hat eine von Horst Pöttker und Christina Kiesewetter herausgegebene Sammelpublikation unterschiedliche Antworten auf die Frage „Wann beginnt der Journalismus?“ präsentiert, die von der Antike bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts reichen. Und 2012 ist mit Thomas Birkners Dissertation der vorläufig aktuellste Überblick über die Entwicklung des Journalistenberufs in Deutschland bis zum Ersten Weltkrieg erschienen. Er zeigt, dass es auch hier mit der üblichen Verspätung gegenüber den westlichen Demokratien die Tendenz zur Lösung des Journalismus von Politik, Literatur und anderen Teilsystemen gab, die allerdings zwischen 1914 und 1945 durch einen deutschen Sonderweg unterbrochen worden ist. Trotz Lücken und Sprüngen ist also eine gewisse Traditionslinie der Geschichtsschreibung zur Entwicklung des Journalistenberufs erkennbar.
Gegenwärtiger Zustand:
Auch wenn sich zu zentralen Aspekten der Journalismusgeschichte wie der Phaseneinteilung, der führenden Rolle der angelsächsischen Länder mit ihrer Tradition der Pressefreiheit oder dem Professionalisierungsschub an der Wende zum 20. Jahrhundert Übereinstimmungen abzeichnen, zeigen sich vor dem Hintergrund der Entwicklung des Journalistenberufs bei der Beurteilung seiner gegenwärtigen Lage in der digitalen Medienwelt Unsicherheiten. Während Journalismusforscher wie Siegfried Weischenberg in den durch rapide Anzeigen- und Auflagenrückgänge bedingten Tendenzen einer Deprofessionalisierung eine existentielle Gefährdung sehen, betrachten andere Beobachter die gegenwärtige Krise vor allem als Herausforderung, die Chancen für eine grundlegende Erneuerung im Sinne der notwendigen Anpassung an fundamental veränderte technologische, ökonomische und kulturelle Bedingungen mit sich bringt.
Diese Sichtweise setzt voraus, dass der Begriff des Journalistenberufs nicht an das konkrete, vor einem Jahrhundert in einem mittlerweile historischen Kontext entstandene, von Nachrichtenfunktion, Anzeigenfinanzierung, redaktioneller Organisation in Großbetrieben und dem Selbstbild des unbeteiligten Beobachters geprägte Modell gebunden wird, sondern allein an die verlässliche Spezialisierung auf die Öffentlichkeitsaufgabe, die in gewandelten sozio-ökonomischen Kontexten ebenfalls gewandelte Mentalitäten, Arbeitstechniken und Regeln erfordert. Ungeklärt in der gegenwärtigen Phase ist vor allem, ob die bisher vorrangige Nachrichtenfunktion mit ihrer Fixierung auf Fakten und ‘news’ sowie die darauf zugeschnittene → Redaktionsorganisation in Großbetrieben hinter die bisher nachrangige Orientierungsfunktion zurücktreten wird, was mit einem Bedeutungszuwachs z. B. von Hintergrundrecherchen, literarischen Darstellungsformen oder einer Renaissance der publizistischen Persönlichkeit verbunden wäre.
Forschungsstand:
Geschichte des Journalistenberufs als Rekonstruktion seines Wandels in Vergangenheit und Gegenwart ist auf Selbstverständnis und Arbeitsweise der „Historisch-hermeneutischen Disziplinen“ (Jürgen Habermas) angewiesen. Die anthropogene, durch den Menschen beeinflusste Kulturwelt ist im Gegensatz zu den Naturgesetzen dem Wandel unterworfen und von Geschichtlichkeit geprägt, weshalb ihre Erforschung eine Perspektive verlangt, die sich an der Dynamik ihrer Objekte, der Methode des Verstehens und dem Erkenntnisinteresse an Verständigung orientiert.
Im Wissenschaftsbetrieb, nicht zuletzt in der kommunikationswissenschaftlichen Forschung, setzen sich dagegen zunehmend Selbstverständnis und Arbeitsweisen der Natur- und Technikwissenschaften durch. Hinzu kommt, dass in der aus der Literaturwissenschaft hervorgegangenen Medienwissenschaft, die die dynamische Sicht auf den Wandel der anthropogenen Kulturwelt bewahrt hat, das Interesse an der gesellschaftlichen Bedeutung des Journalistenberufs fehlt. So gerät die Geschichte des Journalismus ins Hintertreffen. Kenntnis- und aufschlussreiche Dissertationen wie die von Requate oder Birkner sind Einzelstücke, die kaum in eine kontinuierliche Forschungstradition eingebettet sind. An einer geschlossenen Geschichte des Journalismus in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart einschließlich der mittlerweile abgeschlossenen Phase zwischen 1950 (Pressefreiheit) und 2000 (digitaler Umbruch) fehlt es bis heute, von einer internationalen Gesamtdarstellung zu schweigen. Aus diesem Mangel ist u. a. zu erklären, warum die Hochschulforschung kaum fähig scheint, dem Journalistenberuf zu helfen, seine gegenwärtige Krise zu überwinden.
Literatur:
Baumert, Dieter Paul: Die Entstehung des deutschen Journalismus. Eine sozialgeschichtliche Studie. Herausgegeben und eingeleitet von Walter Hömberg. Baden-Baden [Nomos] 2013
Birkner, Thomas: Das Selbstgespräch der Zeit. Die Geschichte des Journalismus in Deutschland 1605-1914. Köln [Herbert von Halem Verlag] 2012
Groth, Otto: Die Zeitung. Ein System der Zeitungskunde (Journalistik). 4 Bände. Mannheim/Berlin/Leipzig [J. Bensheimer] 1928
Groth, Otto: Die Geschichte der deutschen Zeitungswissenschaft. Probleme und Methoden. München [Weinmayer] 1948
Groth, Otto: Die unerkannte Kulturmacht. Grundlegung der Zeitungswissenschaft (Periodik). 7 Bände. Berlin [De Gruyter] 1960-1972
Habermas, Jürgen: Erkenntnis und Interesse. In: Habermas, Jürgen: Technik und Wissenschaft als „Ideologie“. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 1968, S. 146-169
Høyer, Svennik; Horst Pöttker (Hrsg.): Diffusion of the News Paradigm 1850-2000. Göteborg [Nordicom] 2005
Kiesewetter, Christina; Horst Pöttker (Hrsg.): Wann beginnt der Journalismus? medien & zeit. Kommunikation in Vergangenheit und Gegenwart, Ausgabe 2/2011. Wien [Arbeitskreis für historische Kommunikationsforschung] 2011
Koszyk, Kurt: Deutsche Presse im 19. Jahrhundert. Geschichte der deutschen Presse. Band 2. Berlin [Colloquium] 1966
Koszyk, Kurt: Deutsche Presse 1914-1945. Geschichte der deutschen Presse. Band 3. Berlin [Colloquium] 1972
Koszyk, Kurt: Pressepolitik für Deutsche 1945-1949. Geschichte der deutschen Presse. Band 4. Berlin [Colloquium] 1986
Lindemann, Margot: Deutsche Presse bis 1815. Geschichte der deutschen Presse. Teil 1. Berlin [Colloquium] 1969
Prutz, Robert Eduard: Geschichte des deutschen Journalismus. Göttingen [Vandenhoeck & Ruprecht] 1971
Requate, Jörg: Journalismus als Beruf. Entstehung und Entwicklung des Journalistenberufs im 19. Jahrhundert. Deutschland im internationalen Vergleich. Göttingen [Vandenhoeck & Ruprecht] 1995
Weischenberg, Siegfried: Das Jahrhundert des Journalismus ist vorbei. Rekonstruktionen und Prognosen zur Formation gesellschaftlicher Selbstbeobachtung. In: Bohrmann, Hans; Gabriele Toepser-Ziegert (Hrsg.): Krise der Printmedien: Eine Krise des Journalismus? Dortmunder Beiträge zur Zeitungsforschung, Band 64. Berlin/New York [De Gruyter Saur] 2010, S. 33-60