Redaktioneller Journalismus

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Der redaktionelle Journalismus, prägend für das „Jahrhundert des Journalismus“ (Birkner 2010), stellt gewissermaßen den Fluchtpunkt von Dieter Paul Baumerts Werk Die Entstehung des deutschen Journalismus dar. In seiner Dissertation unterteilte er 1928 die ihm damals bekannte Geschichte des Journalismus in eine → präjournalistische Periode, eine Periode des → korrespondierenden und des → schriftstellerischen Journalismus sowie, als Kombination und Weiterentwicklung der beiden letzteren, schließlich des redaktionellen Journalismus.

Diese Periode beginnt für Baumert Mitte des 19. Jahrhunderts. Bis dahin waren die „Träger des referierenden und des räsonierenden Journalismus verschiedene Personen“ (Baumert 1928: 47). Er hatte die entsprechenden Vorformen als korrespondierenden und schriftstellerischen Journalismus benannt und in eine Reihenfolge gebracht. Beiden Perioden aber fehlte das jeweils andere, um tatsächlich Journalismus genannt werden zu können. Im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es dann zum „Zusammenwirken von Nachrichtenwesen und Tagesliteratur“ (Baumert 1928: 48) in der Redaktion.

Tatsächlich ist Baumerts redaktioneller Journalismus auch moderner Journalismus (Birkner 2012). Dabei meint Redaktion dreierlei: die Bearbeitung der Texte in Form des Redigierens als journalistisches Handeln, die in einer Redaktion versammelten Redakteure als journalistische Akteure und schließlich den Ort der Redaktion als journalistische Institution im Verlagshaus.

Die „Entstehung der besonderen Redaktion“ (Groth 1928: 378ff.) ist dann auszumachen, so der Forschungsstand heute, wenn sich auch auf der Ebene der Akteure die Integration von „Nachrichtenübermittlung und Nachrichtenbewertung zu einem neuen Beruf“ (Requate 1995: 118) vollziehen sollte. Als historische Rahmenbedingungen sind hierbei Umwälzungen in den Dimensionen Sozialstruktur und Kultur, Wirtschaft und Technologie sowie Politik und Recht zu betrachten (Birkner 2012). Hierzu gehörte unter anderem die Entstehung von urbanen Ballungszentren, die neue Formen der → Lokalberichterstattung provozierte. Ebenso entscheidend waren technologische Innovationen wie der elektrische Telegraph und die Setzmaschine Linotype. Zudem schuf in Deutschland erst das Reichspressegesetz von 1874 einen relativ sicheren → Rechtsrahmen für den Journalismus. Dennoch blieb das deutsche Kaiserreich ein schwieriger Ort für Journalisten, und die Redaktionen waren gezwungen, mit der Einrichtung des Sitzredakteurs zu arbeiten. Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 war es dann auch mit dieser labilen Pressefreiheit wieder vorbei.

Als außerordentlich stabil aber erwies sich die Redaktion für den Journalismus, und dies macht Baumerts Bezeichnung so treffend. Allerdings ist auch seine Beschreibung des redaktionellen Journalismus stark akteurszentriert, etwa bei seiner Typologisierung von Journalisten als „Trägern der Nachrichtenversorgung“ (Baumert 1928: 75). Nichtsdestotrotz hat seine Periodisierung gerade auch mit dem Begriff des redaktionellen Journalismus eine sehr lange Halbwertszeit bewiesen (Baumert 2013). Ob sich dagegen neuere Bezeichnungen wie → redaktionstechnischer Journalismus (Pürer/Raabe 2002) oder digitaler Journalismus (Hömberg 2013: 35) durchsetzen werden, bleibt abzuwarten.

Literatur:

Baumert, Dieter Paul: Die Entstehung des deutschen Journalismus. Eine sozialgeschichtliche Studie. München [Duncker & Humblot] 1928

Baumert, Dieter Paul: Die Entstehung des deutschen Journalismus. Eine sozialgeschichtliche Studie. Herausgegeben und eingeleitet von Walter Hömberg. Baden-Baden [Nomos] 2013

Birkner, Thomas: Das Jahrhundert des Journalismus. Ökonomische Grundlagen und Bedrohungen. In: Publizistik, 55(1), 2010, S. 41-54

Birkner, Thomas: Das Selbstgespräch der Zeit. Die Geschichte des Journalismus in Deutschland 1605-1914. Köln [Herbert von Halem Verlag] 2012

Groth, Otto: Die Zeitung. Ein System der Zeitungskunde (Journalistik). Band 1. Mannheim [Bensheimer] 1928

Hömberg, Walter: Zum Strukturwandel des Journalistenberufs. Dieter Paul Baumert: Leben, Werk und Wirkung. In: Baumert, Dieter Paul: Die Entstehung des deutschen Journalismus. Eine sozialgeschichtliche Studie. Herausgegeben und eingeleitet von Walter Hömberg. Baden-Baden [Nomos] 2013, S. 9-39

Requate, Jörg: Journalismus als Beruf. Entstehung und Entwicklung des Journalistenberufs im 19. Jahrhundert. Deutschland im internationalen Vergleich. Göttingen [Vandenhoeck & Ruprecht] 1995

Pürer, Heinz; Johannes Raabe: Zur Berufsgeschichte des Journalismus. In: Neverla, Irene; Elke Grittmann; Monika Pater (Hrsg.): Grundlagentexte zur Journalistik. Konstanz [UTB/UVK] 2002, S. 408-416

Stöber, Rudolf: Deutsche Pressegeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 2. Auflage. Konstanz [UTB/UVK] 2005

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Thomas Birkner
*1977, Prof. Dr., ist Professor für Journalistik im Fachbereich Kommunikationswissenschaft der Universität Salzburg. Er forscht insbesondere zum Journalismus, zu politischer Kommunikation, zu Kommunikationsgeschichte und Sportkommunikation. Er hat die DFG-Projekte „Medienbiografien der bundesdeutschen Kanzler und der Kanzlerin“ (2017-2019) und „Das Jahrhundert des Journalismus“ (2019-2023) geleitet.