Definition und Geschichte:
Die Medienethik gehört neben der Wirtschaftsethik, der Medizinethik und der Technikethik zu den Formen und Ausprägungen der angewandten oder praktischen Ethik (vgl. Thurnherr 2000). Sie setzt sich mit Rechten und Pflichten von Akteuren und Organisationen ebenso auseinander wie mit Vertragsmodellen und allgemeinen Prinzipien. Dabei werden auch Verantwortungsfragen sowie Gerechtigkeits- und Freiheitsaspekte diskutiert (vgl. Heesen 2016).
Die medienethische Diskussion in Deutschland hat sich seit Mitte der 1980er Jahre (Jackob 2018) konsequent entwickelt. Boventer (1984) prägte zunächst die individualethische Debatte, die eine Verantwortung einzelner Medienakteure ins Zentrum rückt. Es schlossen sich Beiträge über strukturelle Rahmenbedingungen von Medienbetrieben an, in denen auch Medienorganisationen und Instanzen der → Selbstkontrolle wie der Deutsche Presserat, der Werberat oder PR-Rat mit einbezogen wurden. Darüber hinaus wurden auch Verantwortlichkeiten in Medienunternehmen (Institutionenethik), die Rolle von Berufsverbänden (Professionsethik) und Verantwortungsdimensionen der Rezipientinnen und Rezipienten (Publikumsethik) thematisiert (vgl. Schicha 2019).
Im Medienkontext haben sich eine Reihe von ausdifferenzierten Bereichsethiken entwickelt.
- Die Informationsethik, die auch als Computer-, Netz- und Neue-Medien-Ethik klassifiziert wird, setzt sich mit normativen Aspekten von Informations- und Kommunikationstechnologien auseinander (vgl. Bendel 2016).
- Die Maschinenethik reflektiert Problemfelder, die bei der → künstlichen Intelligenz und im Zusammenhang mit autonomen Waffensystemen, Pflegerobotern und autonomen Fahrzeugen stehen (vgl. Misselhorn 2018).
- Die digitale Ethik beschäftigt sich u. a. mit → Fake News und Cybermobbing (vgl. Grimm/Keber/Zöllner 2019; Spiekermann 2019), während sich
- die Bildethik (vgl. Schicha 2021) mit Formen und Ausprägungen der visuellen Bearbeitung von Aufnahmen ebenso auseinandersetzt wie mit dem angemessenen Umgang bei Bildern von Kriegs- und Krisenopfern.
Die Ethik oder Moralphilosophie generell bezieht sich auf Handlungen oder Unterlassungen einer Person, Personengruppe oder Organisation und den daraus resultierenden argumentativen Begründungen von Entscheidungen. Sie beschäftigt sich speziell als Medienethik aus einer normativen Perspektive mit den Strukturen und den Funktionen sowie möglichen Wirkungen von → Medieninhalten. Sie besitzt die Aufgabe, das mediale Handeln und das → Mediensystem unter ethischen Gesichtspunkten zu reflektieren und medienethische Werte sowie Normen zu begründen (vgl. Schicha 2019).
Medienethik fungiert als Oberbegriff für die normative Reflexion im Umgang mit analogen und digitalen Medientechnologien im Rahmen diverser Kommunikationsberufe wie dem Journalismus, der → Presse- und Öffentlichkeitsarbeit und der Werbung. Dabei werden die Prozesse bei der Erstellung (Produktion), der Bereitstellung (Distribution) und der Nutzung ( → Rezeption) medienvermittelter Mitteilungen in den klassischen → Massenmedien und bei den → digitalen Angeboten reflektiert und diskutiert (vgl. Funiok 2011).
Gegenwärtiger Zustand:
Es haben sich zahlreiche Organisationen und Institutionen herausgebildet, die den medienethischen Diskurs bis heute prägen. So arbeitet das 1997 gegründete Netzwerk Medienethik daran, den medienethischen Diskurs im deutschsprachigen Raum zusammenzuführen. Die Initiative erfüllt als Austauschplattform medienethischer Organisationen relevante gesellschaftliche Aufgaben. Das Ziel besteht darin, zu einer ethischen Orientierung im Medienbereich beizutragen und die Sichtbarkeit und Wirksamkeit der Medienethik in der Gesellschaft zu verbessern.
Weiterhin werden Medienethik-Seminare an zahlreichen Universitäten und Fachhochschulen angeboten. Institutionell ist die Medienethik in Deutschland bereits an mehreren Hochschulen und Universitäten fest verankert.
- An der Universität Erlangen Nürnberg existiert eine Professur für Medienethik am Institut für Theater und Medienwissenschaft. Im Studiengang Medien-Ethik-Religion ist der Lehrstuhl Medienkommunikation, Medienethik und digitale Theologie eingerichtet worden.
- An der Hochschule der Medien ist das Institut für Digitale Ethik gegründet worden, das in diesem Bereich in der Forschung, Lehre und Beratung tätig ist. Neben Projekten, Schriften, Seminaren, Tagungen und Lehrmaterialien werden auch medienethische Expertisen angeboten. In der Schriftenreihe des Instituts finden sich u. a. Publikationen zur Ethik im Netz, zu Computerspielen und Menschenbildern in den Medien (vgl. Schicha 2019).
- An der Universität Tübingen leitet Jessica Heesen (2016) den Forschungsschwerpunkt Medienethik und Informationstechnik. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören Probleme der Meinungsfreiheit in sozialen Medien, ethische Dimensionen der künstlichen Intelligenz sowie Sicherheitsaspekte von Onlinemedien bei Kindern und Jugendlichen.
- An der Hochschule für Philosophie in München liegt ein Schwerpunkt im Bereich der Medien- und Digitalisierungsethik. Dort ist mit Claudia Paganini auch eine Professur für Medienethik angesiedelt (vgl. Schicha 2019).
Das Zentrum für Ethik der Medien und der digitalen Gesellschaft (zem:dg) – eine Kooperation der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und der Hochschule für Philosophie München – arbeitet im Bereich der ethischen Digitalisierungsforschung und hat Forschungspapiere u. a. zu ethischen Grenzen journalistischer Berichterstattung, zum Klimajournalismus, politischen Interviews und Boulevardmedien herausgegeben (vgl. Lilienthal 2023) und bereichert so die öffentliche Debatte. Das zem:dg engagiert sich in der Weiterbildung: Partner sind Unternehmen, Universitäten, Schulen, Bildungswerke und NGOs. Zusammen mit der Universität Erlangen-Nürnberg wurden beispielsweise virtuelle Unterrichtsmaterialien erstellt: So bietet die virtuelle Hochschule Bayern im Rahmen dieser Kooperation Onlinekurse mit den Schwerpunkten ‚Medienethik‘, ‚Ethik der digitalen Kommunikation‘ und ‚Werbeethik‘ für Studierende an (vgl. Schicha 2019).
Mit seinen Aktivitäten setzt sich das Zentrum für eine zeitgemäße Medien-, Kommunikations- und Digitalisierungsethik ein. Dabei stehen die menschlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen der Digitalisierung im Fokus.
Forschungsstand:
Das Spektrum medienethischer Diskurse ist breit gefächert. Medienskandale in Form von Fälschungen sowie erfundenen Meldungen, → Berichten und → Interviews werden ebenso kritisiert wie Spielshows und Real-Live-Formate, in denen die Menschenwürde verletzt wird.
Der Boulevardjournalismus erhält regelmäßig Rügen vom Presserat aufgrund der Vermittlung falscher Fakten, bei Verletzungen des Persönlichkeitsschutzes sowie der Verquickung von Werbung und redaktionellen Inhalten bis hin zur → Schleichwerbung. Oft wird bemängelt, dass Opferbilder immer wieder ohne das Einverständnis der betroffenen Angehörigen publiziert worden sind.
Seit Ende der 1980er Jahre hat sich die Forschung zum Thema Medienethik kontinuierlich erweitert. Ein erstes Schlüsselwerk war der Band Medienethik – die Frage der Verantwortung (vgl. Funiok/Schmälzle/Werth 1988), der bei der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen ist. Dort sind systematische Zugänge zur Medienethik ebenso reflektiert worden wie ethische Aspekte von Medienunternehmen und Debatten über die journalistische Ethik in der Informationsgesellschaft.
Im Handbuch Medienethik wurden u. a. systematische Zugänge zur Medienethik vorgelegt und die Ethik von Medienunternehmen analysiert. Begründungen, Institutionen, Anwendungs- und Spannungsfelder der Medienethik wurden ebenso untersucht wie medienethische Grenzbereiche und Länderperspektiven (vgl. Schicha/Brosda 2010).
Im Handbuch Medien- und Informationsethik wurden Kontexte und Leitwerte sowie Steuerungsmaßnahmen und informationstechnische Herausforderungen reflektiert (vgl. Heesen 2016).
Die Jahrestagungen vom Netzwerk Medienethik zusammen mit der Fachgruppe Kommunikations- und Medienethik der Deutschen Gesellschaft für Publizistik und Kommunikationswissenschaft werden aktuell im Nomos Verlag publiziert. In der Schriftenreihe Kommunikations- und Medienethik, die auch weitere Sammelbände, Promotionen und Habilitationen umfasst, sind inzwischen 20 Bände erschienen. Dort finden sich u. a. Publikationen über Medien und Wahrheit (Schicha/Stapf/Sell 2021), Streitkulturen (Gürtler/Prinzing/Zeilinger 2022), zur Verantwortung von Medienunternehmen (Bracker 2017) sowie über Menschenwürde und Reality-TV (Krämer 2020).
Eine Monografie widmet sich zahlreichen Fällen von journalistischen Normverletzungen (Jackob 2018). Konkret werden die journalistischen Veröffentlichungen über einen angeblichen rechtsextremistischen Mord an einem Kind in einem Schwimmbad, der sich als Badeunfall herausstellte, ebenso kritisiert wie die übergriffige Berichterstattung beim Amoklauf in Winnenden und die unreflektierte Veröffentlichung von Gewaltbildern.
Die Zeitschrift Communicatio Socialis beschäftigt sich aus einer medienethischen Perspektive mit Trends und Problemen der medienvermittelten Kommunikation. Dabei bilden die Folgen der Digitalisierung für die Öffentlichkeit und das Gemeinwohl einen zentralen Bezugspunkt. Inhaltlich geht es von Themen wie Kriegsberichterstattung, die Sozialisierung in der digitalen Welt bis hin zur Fragmentierung des Journalismus (vgl. Schicha 2019).
Aktuelle medienethische Debatten beschäftigen sich aus einer normativen Perspektive mit den möglichen Auswirkungen der künstlichen Intelligenz auf die Arbeitswelt, den Einfluss von → Algorithmen und Social Bots auf die öffentliche Meinungs- und Willensbildung sowie dem Verantwortungshorizont der Betreiberinnen und Betreiber → sozialer Netzwerke in Bezug auf den Datenschutz und die Datensicherheit.
Literatur:
Bendel, Oliver: 300 Keywords Informationsethik. Wiesbaden [Springer] 2016.
Boventer, Hermann: Ethik des Journalismus. Zur Philosophie der Medienkultur. Konstanz [UVK] 1984.
Bracker, Isabel: Verantwortung von Medienunternehmen. Selbstbild und Fremdwahrnehmung in der öffentlichen Kommunikation. Baden-Baden [Nomos] 2017.
Funiok, Rüdiger: Medienethik – Verantwortung in der Mediengesellschaft. 2., aktualisierte und überarbeitete Auflage. Stuttgart [Kohlhammer] 2011.
Funiok, Rüdiger; Udo F. Schmälzle; Christoph H. Werth: Medienethik – die Frage der Verantwortung. Bonn [Bundeszentrale für politische Bildung] 1988.
Gürtler, Christian; Marlis Prinzing; Thomas Zeilinger (Hrsg.): Streitkulturen. Medienethische Perspektiven auf gesellschaftliche Diskurse. Baden-Baden [Nomos] 2022.
Grimm, Petra; Tobias O. Kerber; Oliver Zöllner (Hrsg.): Digitale Ethik. Leben in vernetzten Welten. Stuttgart [Reclam] 2019.
Heesen, Jessica (Hrsg.): Handbuch Medien- und Informationsethik. Stuttgart [Metzler] 2016.
Jackob, Nickolaus: Die Mediengesellschaft und ihre Opfer. Grenzfälle journalistischer Ethik im frühen einundzwanzigsten Jahrhundert. Berlin [Peter Lang] 2018.
Krämer, Carmen: Menschenwürde und Reality TV. Baden-Baden [Nomos] 2020.
Lilienthal, Volker: Medienethik bei BILD. Eine Befragung, eine Inhaltsanalyse und eine Bibliografie zu BILD (1967-2022). München/Eichstätt [Zentrum für Ethik der Medien und der digitalen Gesellschaft] 2023.
Misselhorn, Catrin: Grundfragen der Maschinenethik. Stuttgart [Reclam] 2018.
Schicha, Christian: Medienethik. Grundlagen – Anwendungen – Ressourcen. München [UVK] 2019.
Schicha, Christian: Bildethik. Grundlagen – Anwendungen – Bewertungen. München [UVK] 2021.
Schicha, Christian; Ingrid Stapf; Saskia Sell (Hrsg.): Medien und Wahrheit. Medienethische Perspektiven auf Desinformationen, Lügen und „Fake News“. Baden-Baden [Nomos] 2021.
Schicha, Christian; Carsten Brosda (Hrsg.): Handbuch Medienethik. Wiesbaden [VS Verlag für Sozialwissenschaften] 2010.
Spiekermann, Sarah: Digitale Ethik. Ein Wertesystem für das 21. Jahrhundert. München [Droemer Verlag] 2019.
Thurnherr, Urs: Angewandte Ethik zur Einführung. Hamburg [Junius] 2000.