Leserbrief

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Der Leserbrief – ein Medienecho besonderer Art

„Leserbriefschreiben gehört zu den wenigen
Möglichkeiten, Einsamkeit und Geselligkeit zu verbinden.“

Nach Lord Byron (1778-1824)

Definition:
Ein Leserbrief im ursprünglichen Sinn ist ein Schreiben, das Leser:innen einer Zeitung oder Zeitschrift per Post an deren Redaktion richten. Durch spätere Techniken der Übermittlung, etwa durch Fax oder E-Mail, hat sich dabei einiges verändert. Im Kern geht es aber weiter um eine Meinungsäußerung aus dem → Publikum gegenüber einer Redaktion. Das geschieht meist aufgrund eines konkreten Textes, den das Blatt veröffentlicht hat.

Dabei kann es sich um Kritik und/oder Lob, um Richtigstellungen und zusätzliche Informationen handeln. Als eine Art → Ressort erscheinen die Zuschriften unter Titeln wie ‚Leserpost‘, ‚Eingesandt‘, ‚Leserforum‘, ‚Post für uns‘, ‚Lesermeinung‘, ‚Dialog-Seite‘ und ‚Briefe an die Herausgeber‘. Zuständig dafür kann jemand aus der Redaktion sein – entweder ausschließlich dafür oder zusammen mit Kolleg:innen.

Neben Leserbriefen in der Tages-, Wochen- und Fachpresse gibt es im → Hörfunk Hörerpost und Ähnliches für das Fernsehen, in der Regel ohne festen Sendeplatz und nur zu einzelnen → Programmen und Sendungen. Die Unterschiede, was vor allem die Kanäle, den Zugang, den Umfang, den → Stil, die → Rezeption und die Resonanz (z. T. bei unmittelbarem Kontakt mit Expert:innen und/oder → Journalist:innen betrifft), sind beträchtlich. Sie weichen von den hier behandelten Leserbriefen stark ab.

Die Praxis in der gedruckten Presse:
Grundsätzlich ist zu beachten, dass nur ein Teil der Zuschriften abgedruckt werden kann. Es würde zu erheblichen Problemen führen, gäbe es keine Beschränkungen. Wie oft Briefe veröffentlicht werden, ist sehr unterschiedlich; das kann in jeder Ausgabe, aber auch in größeren Abständen geschehen.

Wie lang ein einzelner Brief ausfällt, ist nicht festgelegt. Es empfiehlt sich aber, nicht zu ausführlich zu werden – es sollen und wollen ja auch andere zu Wort kommen. Die meisten Foren enthalten dazu den Hinweis, dass sich die Redaktion das Recht auf Kürzungen vorbehält. Der Kommunikationswissenschaftler Louis Bosshart vertritt pauschal die Meinung, dass solche knappen redaktionellen Anmerkungen für eine „Abschreckung, Distanzierung und Relativierung“ sprechen; auch „werden Leserbriefe in der Praxis nicht immer mit viel Begeisterung aufgenommen“ (Bosshart 1974: 45).

Das Publikum liest solche Seiten im Allgemeinen gern. Für Redaktionen sind sie ein aufschlussreicher, wenn auch nicht repräsentativer Spiegel der Standpunkte von Rezipienten. Das schließt nicht aus, dass das Image der Schreiber:innen äußerst negativ sein kann mit Zuschreibungen wie Oberlehrer, Querulant, Besserwisser, Dauernörgler, Außenseiter, Gewohnheitsschwätzer u. ä.

Meist kann eine Redaktion nicht voraussagen, welche Art Post zu einem Beitrag kommt. Ratsam ist es, den Eingang der Briefe – meistens in standardisierter Form – mit einem Dank zu bestätigen und je nach Lage darauf zu verweisen, dass über deren Abdruck noch nicht entschieden ist.

Presserecht:
Der → Pressekodex des Deutschen Presserates enthält in der Richtlinie 2.6. mehrere Punkte zu Leserbriefen:

„Es entspricht der journalistischen Sorgfaltspflicht, bei der Veröffentlichung von Leserbriefen die publizistischen Grundsätze zu beachten. (…) Eine Einwilligung (des Absenders zur Veröffentlichung) kann unterstellt werden, wenn sich die Zuschrift zu Veröffentlichungen des Blattes oder zu allgemein interessierenden Themen äußert. Der Verfasser hat keinen Rechtsanspruch auf Abdruck seiner Zuschrift.“

Weiter ist dort zu lesen: „Es entspricht einer allgemeinen Übung, dass der Abdruck mit dem Namen des Verfassers erfolgt. Nur in Ausnahmefällen kann auf Wunsch des Verfassers eine andere Zeichnung erfolgen. Bestehen Zweifel an der Identität des Absenders, soll auf den Abdruck verzichtet werden. Die Veröffentlichung fingierter Leserbriefe ist mit der Aufgabe der Presse unvereinbar.“

Wichtig für die Praxis ist auch dies: „Änderungen oder Kürzungen von Zuschriften namentlich bekannter Verfasser ohne deren Einverständnis sind grundsätzlich unzulässig. Kürzungen sind möglich, wenn die Rubrik Leserzuschriften einen ständigen Hinweis enthält, dass sich die Redaktion bei Zuschriften, die für diese Rubrik bestimmt sind, das Recht der sinnwahrenden Kürzung vorbehält. Verbietet der Einsender ausdrücklich Änderungen oder Kürzungen, so hat sich die Redaktion, auch wenn sie sich das Recht der Kürzung vorbehalten hat, daran zu halten oder auf den Abdruck zu verzichten.“

Abschließend heißt es im Pressekodex: „Alle einer Redaktion zugehenden Leserbriefe unterliegen dem Redaktionsgeheimnis. Sie dürfen in keinem Fall an Dritte weitergegeben werden.“

Geschichte:
Eine spezielle Rolle für die Anfänge dieser Briefe spielt Hermann Werner Dietrich Bräss, geboren 1738 in Braunschweig, gestorben 1797 in Dettum bei Wolfenbüttel. Er war Pastor und Zeitungsherausgeber. 1786 gründete er die Zeitung für Städte, Flecken und Dörfer, insonderheit für die lieben Landleute alt und jung.

Deren erste Ausgabe erschien in der Wolfenbütteler Druckerei Bindseil am 25. November 1786. Sie wurde wegen des rot gedruckten Titels auch „Rothe Zeitung“ genannt und erschien zwölf Jahre lang mit zwei Ausgaben wöchentlich. Die Auflage belief sich zeitweise auf etwas über 1000 Exemplaren. Die heutige Wolfenbütteler Zeitung (eine Lokalausgabe der Braunschweiger Zeitung) geht sich auf Bräss‘ Gründung zurück.

Bräss‘ Arbeit haben Pressehistoriker und Philologen positiv bewertet, darunter Martin Welke, Holger Böning und Peter von Polenz. So urteilt Böning, dass diese Zeitung „als eine der journalistischen Pionier- und Meisterleistungen des 18. Jahrhunderts gilt“. Welke stellt fest: „Von Anfang an tritt Bräß seinen Lesern nicht als Prediger, was er stets und mit Erfolg zu verbergen sucht, sondern als Landwirt entgegen.“ (Zit. nach Roloff 2012: 190)

Generell wird daran erinnert, dass Bräss sich kundig und mit Erfolg um lesernahe und lebenspraktische Themen bemühte, ebenso um ein übersichtliches Layout, um verständlichen Stil, solide Aufklärung und eine deutliche Leser-Blatt-Bindung. Dazu gehört auch, dass er als erster Zeitungsmann um Leserbriefe bat und sie häufig veröffentlichte. Von den Einsendern forderte er mit wenigen Ausnahmen, dass sie ihren Namen und ihre Adresse nannten. Ab und zu fügte er von sich aus Bemerkungen an.

Grundsätzlich muss man wissen, dass damals „innenpolitische → Nachrichten aufgrund rigider → Zensurpolitik fast gänzlich fehlten und → Kommentierungen nicht zugelassen waren“, so Andrea Mlitz (Mlitz 2008: 174). Es dauerte, bis sich das Schritt für Schritt änderte, etwa – in Maßen – unter Friedrich dem Großen.

Für Pfarrer Bräss wird der Leserbrief zu ‚seiner‘ kleinen Revolution. In den ersten Wochen, von November bis Silvester 1786, waren vier dieser Schreiben zu lesen, in den nächsten drei Jahren insgesamt schon 16, 27 und 24. Durchschnittlich sind es später etwa zehn pro Jahr. Beim geringen Umfang der „Rothen Zeitung“ ist das nicht wenig.

Um sein Publikum zum noch ungewohnten Schreiben zu animieren, hat Bräss vermutlich die ersten Zuschriften selbst verfasst, wenn auch anonym. Erst nach seinem Tod wurde dies samt seiner Rolle als Gründer und → Herausgeber bekannt.

Der erste Brief, zu lesen erstaunlicherweise – wenn auch nach mehreren Nullnummern – bereits in der ersten Ausgabe vom 25. November 1786, stammte von einer Jeremia Friedlieb. Nach der Anrede „Herr Zeitungsschreiber!“ geht es um einen Ehestreit in des „Nachbarn Haus“. Debattiert wird, man lese und staune, um die Zeitungslektüre. Obgleich der Mann stets mehrere Blätter liest, seine Frau Jeremia aber nur die „Rothe“, weiß sie allein dadurch viel mehr, „wie es in der Welt hergeht“ (Mlitz 2008: 165 ff.). Ist das nicht eine passable Werbung in eigener Sache?

Gegenwärtiger Zustand:
Generell lässt sich sagen, dass die meisten Periodika Leserbriefe veröffentlichen, wenn auch nicht immer in jeder Ausgabe und nicht immer am selben Platz. Eine Pflicht zu solch einem Forum existiert nicht. Ein Echo auf Pressebeiträge gibt es seit einigen Jahren nicht allein in der Presse selbst, sondern auch in den sogenannten → ‚sozialen‘ Medien. Während der klassische Leserbrief ein vollständig durch eine Redaktion → kuratiertes Format ist, treten Leser:innen wegen der niedrigeren Zugangshürden nun direkt – und vor allem schneller – mit anderen Leser:innen in Dialog. Das Prinzip des Leserbriefs wird so zwar durch die Möglichkeiten → digitaler Kommunikation erweitert, aber nicht grundsätzlich verändert: Das Publikum nutzt nach wie vor die Möglichkeiten zur kritischen Auseinandersetzung mit publizierten → Inhalten und zur → Partizipation an öffentlicher Debatte. Mehr oder weniger engagierte Redakteur:innen betreuen dabei den Austausch und stellen die Einhaltung von allgemeinen Kommunikationsregeln, der Netiquette, sicher.

Auffallend ist seit Längerem, dass wesentlich mehr Männer als Frauen – und dies unabhängig vom Thema – solche Briefe schreiben. Das belegen zumindest die veröffentlichten Zuschriften.
Die Hörfunk- und → Fernsehprogramme bieten in der Regel keine feste Sparte für Post von Hörer:innen und Zuschauer:innen, auch wenn für manche Sendungen um Reaktionen gebeten wird. Diese werden aber, wenn überhaupt, nur höchst selten zitiert.

Forschungsstand:
In den Medienwissenschaften wird das Thema gegenwärtig nicht vorrangig, aber doch immer wieder einmal bearbeitet. Andrea Mlitz verweist in ihrer Dissertation auf mehrere deutsche Dissertationen (und eine aus der Schweiz), sowie Magister- und Diplomarbeiten, ferner auf weitere Literatur zum Thema Leserbrief.

Literatur:

Barnstorf, Fritz: Pastor Hermann Braess, der Dettumer Bote und Braunschweigische Hausfreund mit seiner „Rothen Zeitung für die lieben Landleute“. In: Braunschweigische Heimat, 52. Jahrgang 1966, S. 128 – 134.

Böning, Holger: Die „Zeitung für Städte, Flecken und Dörfer, insonderheit für die lieben Landleute, alt und jung“ – eine erste erfolgreiche „Volkszeitung“ des 18. Jahrhunderts. In: Albrecht, Peter; Holger Böning (Hrsg.): Historische Presse und ihre Leser. Bremen [Edition lumière] 2005, S. 227 – 264.

Bosshart, Louis : Die Leserbriefe – ein ungelöstes Feedback-Problem. In: Publizistik, 19, 1974, S. 45-52.

Heupel, Julia: Der Leserbrief in der deutschen Presse. Baden-Baden [Nomos] 2007.

Lorek, Sabine: Leserbriefe als Nische öffentlicher Kommunikation. Eine Untersuchung in lerntheoretischer Perspektive. Münster [Lit-Verlag] 1982 (zugleich phil. Diss. der Universität Münster).

Mlitz, Andrea: Dialogorientierter Journalismus. Leserbriefe in der deutschen Tagespresse. Konstanz [UVK Verlagsgesellschaft] 2008 (beruht auf Diss. der Universität Eichstätt 2007).

Polenz, Peter von: Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Band 2: 17. und 18. Jahrhundert. Berlin [De Gruyter] 1994.

Roloff, Eckart: Hermann Bräß: Ein Landpfarrer erschafft den Leserbrief. In: Eckart Roloff: Göttliche Geistesblitzte. Pfarrer und Priester als Erfinder und Entdecker. 2. Auflage. Weinheim [Wiley-VCH] 2012, S. 183 -196.

Roloff, Eckart: Der Landpfarrer, der den Leserbrief erfand. Erinnerungen an Hermann Bräß. In: Communicatio Socialis, 43, 2010, 3, S. 305 – 316.

Rujner, Alfons: Eingemischt! Leserbriefe und Denkzettel aus den Jahren 1996 bis 2010. Berlin [Verlag Hendrik Bäßler] 2010.

Stockinger-Ehrnstorfer, Karin: Der Leserbrief. Salzburg [Landespressebüro] 1980 (= Salzburger Dokumentationen, Bd. 48, beruht auf phil. Diss. der Universität Salzburg 1979).

Wagner, Erich: Leserbriefe, Rückkoppelung und Referendum. In: Wagner, Erich: Die Zeitung kann überhaupt nicht von gestern sein. Bonn [Standortpresse Bonn] o. J. (ca. 1975), S. 122-131.

Welke, Martin: Eine journalistische Pionierleistung. In: 200 Jahre Wolfenbütteler Zeitung. Sonderausgabe vom 25. November 1986, S. II-V.

 

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Eckart Roloff
*1944, Dr. phil.; Studium der Publizistik, Soziologie, Politologie und Germanistik in Berlin, München und Salzburg. Nach der Promotion 1972 zum Medizinjournalismus Volontär und Redakteur bei einer Regionalzeitung; bis 1988 Referent im Bundespresseamt Bonn, danach bis 2007 Leiter des Ressorts Wissenschaft beim Rheinischen Merkur in Bonn. Lehraufträge an Universitätsinstituten und Journalistenschulen. Forschungsschwerpunkte: Wissenschaftsjournalismus, Medizin- und Pharmaskandale, Pressegeschichte, Medien in Norwegen, journalistische Textgattungen, erfinderische Geistliche.