Zensur

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Zensur – und die Wiederbelebung des Zensurverbots

Definition und gegenwärtiger Zustand:Zensur
a. Nur Vorzensur wird verboten
Was in der rechtswissenschaftlichen Literatur als ‚Zensur‘ bezeichnet wird, ist genauer betrachtet (und nach der sog. ‚herrschenden Meinung‘) eine ‚Vorzensur‘ – die Veröffentlichung von Schriften wie Zeitungen ist hierbei von der Vorlage bei einer Behörde und deren Freigabe abhängig. Das heutige formale Verbot der Zensur, Artikel 5 Absatz 1 Satz 3 des Grundgesetzes, bezieht sich darauf, dass staatliche Stellen im Voraus keine Einschränkungen für Meinungsäußerungen vornehmen dürfen. Das gilt jedoch nicht für gerichtliche Entscheidungen. Was Zensur nicht bezeichnet, ist ein nachträgliches Verbot von bereits Veröffentlichtem (Kaiser 2023: Rnr. 154). Dies ist sinnvoll, da sonst das Zensurverbot seine Konturen verlieren würde: die hier akzentuierte Funktion eines spezifischen Schutzes von Kommunikationen im Prozess ihres Zugangs zur → Öffentlichkeit.

b. Erweiterung des Zensurverbots zum Schutz von ‚Zensurfreiheit‘
Nach Ridder (1969) sollte die ‚Zensurfreiheit‘ als Grundrecht anerkannt und sein Schutzumfang erweitert werden. Abwehrrechte, die formal sind (d. h. nicht auf die Abwägung konkurrierender inhaltlicher Rechte wie Meinungsfreiheit und → Ehrenschutz abzielen) gewinnen an Bedeutung – und zwar gerade wegen der sich verdichtenden Abhängigkeiten der Medienfreiheit in Verbreitungsnetzwerken (wie dem Internet), aber auch Abhängigkeiten von Einfuhrkontrollen (z. B. bei der Zensur von Filmimporten, BVerfGE 33, 52) oder der Nutzung von öffentlichen Bibliotheken (mit selektiver Medienauswahl).

Ridder weist mit Recht darauf hin, dass der Schutz der Zensurfreiheit wichtig ist, da in dem sensiblen Zeitraum vor und nach der Veröffentlichung von Medieninhalten eine besondere Gefahr für die Öffentlichkeit besteht. Das entspricht der richtigen Wertung, dass die klassische Zensur die → Pressefreiheit bedroht, insbesondere dadurch, dass anders als bei gerichtlichen Unterlassungsklagen gegen die Verbreitung von Aussagen gar nicht klar wird, welcher Inhalt konkret verboten wurde.

c. Keine Zensur durch Private?
Private Entscheidungen sind nicht Gegenstand des Zensurverbots. Angesichts der – durch die → Digitalisierung – komplexen Architektur der Verarbeitung und Verbreitung von Medien muss gefragt werden, ob und wieweit Maßnahmen privater Provider heute die Zensurfreiheit, insbesondere in Bezug auf die Presse, gefährden. Anders ist dies bei organisationsinternen Kontrollmaßnahmen.

Zensur in der digitalen Medienordnung

a. Vor dem Digital Services Act (DSA)
Vor dem Inkrafttreten der neueren Gesetze für elektronische Medien wurde in der Rechtsprechung (zu Unrecht) die Bedeutung des Zensurverbots für polizeiliche und andere behördliche Maßnahmen zur Sperrung von Internetseiten abgelehnt (siehe OVG NRW, NJW 2003, 2183; vgl. auch Kompa 2022). Angesichts der neueren Gesetze zur Sperrung von Inhalten in digitalen Presseausgaben (wie NetzDG oder in Zukunft DSA) stellt sich mit Recht (Fiedler 2022) die Frage, ob die Pressefreiheit in elektronischen Medien einen neuen formalen Schutz erfordert. Dies gilt auch dann, wenn staatlicher Druck, beispielsweise durch Gesetze wie das 2024 außer Kraft tretende NetzDG und das zukünftige europäische DSA, auf private Hostprovider (siehe Grundrechtsbindung für Facebook, BGH, ZUM 2021, 953 – Hassrede) und Plattformbetreiber ausgeübt wird, um den Zugang zu (Presse-)Inhalten aufgrund von Beschwerden durch Privatpersonen zu sperren.

b. Nach dem DSA: Kein formaler Schutz digitaler Presseinhalte
Digitale Presseinhalte auf Medienplattformen können gemäß Artikel 16 des DSA gesperrt werden. Dass die Presse keinen besonderen formalen Schutz genießt, ist verfassungsrechtlich bedenklich, sowohl im Hinblick auf die Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG) als auch – obwohl dies nicht der herrschenden Meinung entspricht – unter dem Aspekt der erweitert zu verstehenden Zensurfreiheit. In diesem Zusammenhang hat allerdings der europäische Grundrechtsschutz, Artikel 11 der Grundrechtecharta (GrCh), der kein explizites Zensurverbot enthält, einen Vorrang (obwohl die Zensurfreiheit aus einer erweiterten Interpretation des europäischen Grundrechts hervorgeht). Maßnahmen der Sperrung von Presseinhalten sind insbesondere in Artikel 16 des DSA vorgesehen. Obwohl es gemäß Artikel 20 des DSA einen informalen Rechtsschutz durch ein privates Beschwerdesystem gibt, bleibt die Sperre bis zur Entscheidung bestehen.

Die Verbreitung der → Inhalte gedruckter Presse im Internet fällt unter die Pressefreiheit. Doch dass die Presseinhalte keinen besonderen vorrangigen Rechtsschutz gegenüber der Kontrolle durch private Provider genießen, ist verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen. Hier handelt es sich um einen Fall der verfassungswidrigen Gleichbehandlung von ungleichen Sachverhalten: Der Rechtsschutz gegen online verbreitete Presseinhalte ist aufgrund der Impressumspflicht viel leichter durchzusetzen als gegen andere häufig anonym oder pseudonym verbreitete Inhalte. Für die öffentlich-rechtliche Aufsicht über private Mediendienste – die Aufsicht nach DSA erfolgt in privatrechtlicher Form – sind die Medienanstalten nach §§ 19, 109 des → Medienstaatsvertrags (MStV) zuständig. Die digitale Presse genießt hier durch die pluralistische Organisationsstruktur der → Landesmedienanstalten einen angemessenen formalen Schutz.

c. Grundrechtskonforme Einschränkung zensuräquivalenter Maßnahmen nach dem DSA
Presse- und Medienunternehmen haben im Vergleich zu individuellen Akteuren im Internet eine spezielle Beziehung zur Öffentlichkeit, der gegenüber sie ihre professionellen Regeln entwickeln. Diese Dynamik sollte auch in ihrem Verhältnis zu den privaten Providern von Plattformen gelten, auf denen sie ihre Presseleistungen digital anbieten: Im Unterschied zu sonstigen Mediendiensten oder privaten Inhalten haben private Provider in Bezug auf digitale Presseangebote kein eigenes Interesse an der Gestaltung durch ‚Kuratierung‘ von Inhalten zu einem Gesamtangebot (Vesting/Campos 2022; allg. Peukert 2022). Die Präsentation ist allein Angelegenheit der Presseunternehmen. Provider und Plattformbetreiber im Sinne des DSA erfüllen im Wesentlichen eine öffentliche Aufgabe, die durch ein Gesetz übertragen wurde. Deshalb ist die Überwachung gegenüber der Presse und anderen Mediendiensten zumindest funktional einer Zensur gleichzusetzen und damit unzulässig – insbesondere im Fall der periodisch erscheinenden Presse, bei der Inhalte durch Löschung oder Sperrung ohne eine gerichtliche Entscheidung aus der Öffentlichkeit entfernt werden.

d. Alternative: Prozeduralisierung des Schutzes der Pressefreiheit
Selbst wenn man die Provider und Plattformbetreiber nicht mit der staatlichen Zensurinstanz vergleichen und dementsprechend rechtlich belangen könnte, sollten sie doch jedenfalls im Sinne einer Prozeduralisierung des Medienaufsichtsrechts, besonders wenn es um den Schutz der Rechte privater Dritter geht, betrachtet werden. Das bedeutet, dass sie wie ein Gericht behandelt werden sollten, das eine einstweilige Verfügung erlässt. In diesem Kontext sollte ein Provider nur im Falle einer Dringlichkeit dazu verpflichtet sein, eine Löschung oder Sperrung zu erlassen (Dies wird durch Art. 14 Abs. 4 des DSA gefordert, um die → Meinungsfreiheit und den Pluralismus der Medien zu schützen). Private Beschwerdeführer können auf den allgemeinen Rechtsweg vor die Zivilgerichte verwiesen werden. Dies wäre eine auch in Hinsicht auf Art. 11 GrCh verfassungskonforme restriktive Interpretation des Art. 16 DSA; auch Art. 14 Abs. 4 DSA verlangt die Beachtung der europäischen Grundrechte durch die Provider.

e. „Systemische Risiken“, Art. 34 DSA
Auch dies ist Zensur: Die gesetzliche Pflicht, „Risikominderungsstrategien“ zu entwickeln gegen z. B. die Verbreitung „rechtswidriger Hetze“ (Art. 35 Abs. 1, c.), kann schlussendlich dazu führen, dass die Pressefreiheit eingeschränkt wird.

Geschichte:
Politisch bestimmte Zensur der Presse war im 18. und 19. Jahrhundert in den meisten europäischen Staaten ein wesentlicher Bestandteil der monarchischen Kontrolle der Öffentlichkeit. In Frankreich wurde sie 1793 abgeschafft. Preußen hatte seit 1788 ein System der administrativen Vorabkontrolle von Pressepublikationen. 1848 wurde es im Zuge der Märzrevolution aufgehoben; die Preußische Verfassung von 1850 enthielt in Art. 27 S. 2 ein Verbot der Zensur. Danach war die Presse aber immer noch der Beschlagnahmung von Zeitungen durch die Polizei ausgesetzt. Dies war keine Zensurmaßnahme im eigentlichen Sinn, aber kam ihr in der faktischen Wirkung sehr nahe und wird oft als Nachzensur bezeichnet. Seit dem Reichspreßgesetz von 1874 gilt die Pressefreiheit als „polizeifest“ – d. h. sie darf nicht durch Maßnahmen des Polizeirechts eingeschränkt werden – § 1, heute z. B. § 1 Abs. 2 hmb Pressegesetz. Für die Presse blieben aber Strafverfahren gegen Journalisten z. B. wegen Beleidigung von Vertretern des Staates eine Gefahr. Diese Verfahren richteten sich gegen den im Impressum angegebenen verantwortlichen Redakteur, den sogenannten ‚Sitzredakteur‘.

Die Vorzensur im eigentlichen Sinne hat ihre Bedeutung weitgehend eingebüßt. Autoritäre und illiberale Systeme ersetzen sie meist durch die unmittelbare Repression gegen die Presse und Journalisten: Im Nationalsozialismus etwa gab es keine Vorzensur, weil alle → Journalisten ohnehin Mitglied in der Reichsschrifttumskammer sein mussten und darüber der Zugang zur Öffentlichkeit viel wirksamer kontrolliert werden konnte – von anderen Willkürmaßnahmen ganz zu schweigen. In rechtsstaatlichen Systemen kann aber, wie gezeigt, das formale Moment des Verbots neben den von Abwägungen bestimmten Einschränkungen der Kommunikationsrechte eine eigenständige Bedeutung erhalten. Das Zensurverbot dient dann nach wie vor der Pressefreiheit.

Literatur:

Fiedler, Christoph: Das Digitalgesetz der EU vernichtet die Pressefreiheit im Internet. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.07.2022.

Kaiser, Anna-Bettina: Art. 5. In: Brosius-Gersdorf, Frauke (Hrsg.): Dreier Grundgesetz-Kommentar. 4. Auflage. Tübingen [Mohr-Siebeck] 2023.

Kompa, Markus: Staatliche Sperrverfügungen gegen Blogger. In: Multimedia und Recht 2022, S. 273-277.

Peukert, Alexander: Zu Risiken und Nebenwirkungen des Gesetzes über digitale Dienste (Digital Services Act). In: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft  (KritV) 2022, S. 57-82.

Ridder, Helmut: Das Zensurverbot. In: Archiv für Presserecht 1969, S. 882-885.

Vesting, Thomas; Ricardo Campos: Content Curation – Medienregulierung für das 21. Jahrhundert. In: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft  (KritV) 2022, S. 3-22.

Gerichtsentscheidungen:

Bundesgerichtshof (BGH), Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht 2021, 953

Bundesverfassungsgericht, BVerfGE 33, 52

Oberverwaltungsgericht NRW, Neue Juristische Wochenschrift 2003, 2183

 

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Karl-Heinz Ladeur
*1943, Prof. Dr. Dr. h. c. (Fribourg/CH), Studium der Rechtswissenschaft in Köln und Bonn, Professor für Öffentliches Recht in Bremen, Hamburg, Florenz (EHI), Veröffentlichungen insbes. zum Medienrecht, Verfassungsrecht, Rechtstheorie.