Meinungsfreiheit

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Definition:
Meinungsfreiheit ist zunächst die ‚gegen den Staat‘ gerichtete Freiheit des Einzelnen, seine Meinung zu äußern. Die Meinung ist ein subjektives Dafürhalten im Gegensatz zur Äußerung von Tatsachen, die dem Beweis zugänglich sind. Die Unterscheidung ist rechtlich wichtig, weil falsche Tatsachenbehauptungen z. B. in der Presse gegebenenfalls die Strafbarkeit nach § 186 StGB begründen können. Die ‚Richtigkeit‘ einer Meinung ist dagegen dem Beweis nicht zugänglich. Hier bestehen Abgrenzungsprobleme: Im Zweifel muss bei Mischaussagen in der → Öffentlichkeit die für den Äußernden günstigere Einordnung als Meinung erfolgen.

Geschichte:
In der Geschichte der Grundrechte wird die → Pressefreiheit meistens zum Unterfall der Meinungsfreiheit. Im Grundgesetz hat die Presse dagegen eine eigene verfassungsrechtliche Grundlage erhalten: Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG. In England hat sich auch ohne verfassungsrechtliche Textgrundlage die Meinungsfreiheit mit der Freiheit der organisierten Opposition verbunden und ist vor allem durch das von den Richtern selbst gebildete, ungeschriebene ‚Common Law‘ geschützt. Ähnliches gilt für die USA, wo die Meinungsfreiheit Gegenstand des ersten Zusatzartikels zur Verfassung geworden ist. Tatsächlich ist auch hier sowohl die Meinungsfreiheit als auch die Pressefreiheit in erster Linie durch das Common Law geschützt worden. Erst seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte sich eine umfangreiche Rechtsprechung des Supreme Court zur Bedeutung der Meinungsfreiheit jenseits des Common Law. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass das primär durch die Gesellschaft selbst einheitlich definierte Verhältnis von Öffentlichem und Privatem mehr und mehr kontrovers wird und damit eine Pluralisierung der Sichtweisen entsteht, die das auf Einheit angelegt Common Law überfordert. In der französischen Revolution wird die Meinungsfreiheit in der Déclaration des droits de l’homme von 1789 garantiert, allerdings entwickelt sich in den revolutionären Auseinandersetzungen bald die Auffassung, dass die Meinungsfreiheit nur den ‚amis du peuple‘ und nicht seinen Feinden zustehen könne. In Deutschland ist die Meinungsfreiheit auf Reichsebene zuerst in Art. 114 WRV und in der Bundesrepublik in Art. 5 Abs. 1 und 2 GG geregelt worden.

Gegenwärtiger Zustand:
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts werden Meinungsäußerungen der Presse auch durch die Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG geschützt, während die Freiheit der Presse, Art. 5 Abs. 1, S. 2, eher dem institutionellen Schutz des Presseprozesses dient (Schutz des Archivs, BVerfGE 20, 162, 175 – DER SPIEGEL, Pressegrosso, BVerfGE 77, 346, Anzeigen, BVerfGE 21, 271 etc., allg. Ridder 1968: 242; ders. 2019: 16f). Die Meinungsfreiheit hat sich von der Stellung des nur negativ gegen den Staat gerichteten Abwehrrechts emanzipiert; sie ist auch zu einem Recht geworden, das gegen Private in Anspruch genommen werden kann („Drittwirkung“ des Grundrechts, BVerfGE 7, 198, 205 – Lüth). Das Recht hat damit immer mehr die Züge der Gewährleistung eines transsubjektiven Prozesses der Meinungsbildung angenommen. Damit steht die Annahme des BVerfG in einem gewissen Gegensatz, die Meinung sei der „unmittelbarste Ausdruck der Persönlichkeit“ (BVerfGE 7, 198, 208). Dies erscheint deshalb problematisch, weil Meinungen so gut wie immer an andere Meinungen anknüpfen und neue Anknüpfungsmöglichkeiten für weitere Meinungsäußerungen erzeugen. ‚Meinungsfreiheit‘ ist ein voraussetzungsvoller Begriff, der den Wert der Autonomie des Prozesses der Kommunikation von bloß wahrscheinlichem Wissen anerkennt. Er impliziert die Notwendigkeit der Selbstrelativierung sowohl des Prozesses als auch der daran Beteiligten. Die ‚anderen‘ Meinungsäußerungen müssen immer mitlaufen können, es gibt keine Festsetzung des ‚Richtigen‘, soweit es nicht um Tatsachen geht.

Die Meinungsfreiheit unterliegt allerdings den „Schranken der allgemeinen Gesetze und des Rechts der persönlichen Ehre“ (Art. 5 Abs. 2 GG). In einzelnen Fällen hat der Begriff des „allgemeinen Gesetzes“ in der Vergangenheit eine Rolle gespielt, z.B. bei der Prüfung von Vorschriften gegen die Einfuhr verfassungsfeindlicher Schriften oder Filme (BVerfGE 33, 52, 55). Das (inzwischen aufgehobene) Gesetz ist als verfassungsmäßig angesehen worden, weil es sich gegen alle verfassungsfeindlichen Ideen gerichtet habe. Damit ist der Schutz der Meinungsfreiheit stark relativiert worden. Nach einer anderen, heute auch im BVerfG vorherrschenden Argumentationslinie soll es auf die Abwägung einer Vielzahl von Gesichtspunkten von Fall zu Fall ankommen – dies gilt auch für die Kollision von Meinungsfreiheit und persönlicher Ehre. Das BVerfG hat die jeweilige besondere Konstellation ins Zentrum gerückt; es will die konfligierenden Interessen bei der Interpretation der Schrankengesetze beobachten und gegeneinander abwägen (BVerfGE 7, 198, 208). Die Bedeutung des Schutzes der freiheitlichen demokratischen Grundordnung als Schranke der Meinungsfreiheit ist stark zurückgegangen. Trotz der bedenklichen Auflösung der Begriffe kommt das BVerfG in neuerer Zeit den meisten Fällen, in denen es um den Konflikt der öffentlichen Meinungsfreiheit mit den Persönlichkeitsrechten geht, zu eher liberalen Positionen.  Dies zeigt sich etwa an der Annahme der Zulässigkeit von Verdachtsberichterstattung (BVerfGE 99, 185, 196), der sich wandelnden Abgrenzung von Privatem und Öffentlichem (BVerfGE 120, 180, 204 – Caroline von Monaco), dem Schutz der Satire (BVerfGE 82, 1; 86, 1) u. ä. Dies hat Auswirkungen sowohl auf die Strafbarkeit nach den Tatbeständen der Äußerungsdelikte (§§ 185 ff. StGB) als auch auf die praktisch viel bedeutsamer gewordenen Unterlassungs-, Widerrufs- und Schadensersatzansprüche aus dem Zivilrecht (§§ 1004 analog i.V.m. 823 BGB; Beater 2016, 707). Es wäre sinnvoller, die Bedeutung organisierter Medienakteure darin anzuerkennen, dass auch den professionellen Regeln der Praxis der Presse eine gewisse, auch rechtliche Relevanz als soziale Normen zukommt (dies wird in der Rechtsprechung nur indirekt berücksichtigt). Umgekehrt würde das auch die Anerkennung der sozialen Erwartungen der von Äußerungen in ihrem Persönlichkeitsrecht Betroffenen beinhalten (Wielsch 2020: 105), die ihre Reputation verteidigen. Die Bedeutung der ‚persönlichen Ehre‘ (Person des ‚öffentlichen Interesses‘?) ist dann genauer danach zu differenzieren, ob sie selbst ebenso wie die geäußerte Meinung (öffentlich relevante Themen?) innerhalb eines öffentlichen Prozesses relevant wird oder ob es um Auseinandersetzungen zwischen einzelnen (auch mit öffentlichen Amtsträgern) geht. Es kommt darauf an, ob Personen und Gegenstände der Kommunikation für Dritte beobachtbar sind, oder ob das nicht der Fall ist. Dies wird für die letztere Fallkonstellation in der Rechtsprechung vernachlässigt, nicht aber in der ersteren. Die Rechtsprechung sollte stärker nach spezifischen Kommunikationsregeln suchen. Das Gericht würde dann eher „Kollisionsregeln“ formulieren, die in der Rechtsprechung in Fallgruppen spezifiziert werden könnten (Ladeur 2020: 172). Als Auslegungsgrundsatz, der auch aus der Meinungsfreiheit zu entwickeln ist, ist die grundlegende Annahme zu beachten, dass das Gegenmittel gegen eine Meinungsäußerung in erster Linie eine andere Meinungsäußerung und nicht deren Verbot oder tatsächliche Abdrängung aus der Öffentlichkeit sein darf. Die Formulierung einzelner Kriterien für die Grenzziehung müsste vor allem die Frage sein, ob es für den Angegriffenen noch zumutbar sein könnte, an der Fortsetzung des Meinungsprozesses selbst festzuhalten oder ob dies bei persönlichen Herabsetzungen zu verneinen ist. Für die Leugnung des Holocaust würde dies z. B. bedeuten, dass letztlich den Juden vorgeworfen wird, nicht nur den Holocaust selbst erfunden, sondern auch ein Netzwerk der Verschwörung gegen die Entlarvung dieser Erfindung aufgebaut zu haben (vgl. auch BVerfG K&R 2018, 521 m. Anm. Ladeur).

Die Meinungsfreiheit gilt in Foren der → sozialen Medien (Facebook etc.), aber sie schützt auch die Provider dieser Medien, soweit diese eigene Gemeinschaftsregeln für Kommunikation setzen wollen. Dies ist grundsätzlich zulässig (Wielsch 2019: 84). Auch → Suchmaschinen u. ä. werden vom Schutz der dann als Medienfreiheit weiterzuentwickelnden Meinungs- bzw. Pressefreiheit umfasst. Die Tätigkeit der Provider ist selbst als eine Art ‚Kuratierung‘ (Groys 2012) anzusehen, die am medienbezogenen Schutz der Kommunikationsfreiheit teilhat. Den Staat trifft eine Schutzpflicht, die ubiquitäre Verletzung der ‚persönlichen Ehre‘ im Internet zu bekämpfen. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) ist dafür nicht geeignet. Es käme darauf an, ein netzwerkgerechtes Recht zu schaffen, das für die Selbstregulierung offen ist und eine Art privaten ‚Cyber Court‘ vorsehen könnte, durch dessen Praxis ein funktionales Äquivalent zu den in der organisierten → Massenkommunikation bedeutsamen professionellen sozialen Regeln herausgebildet würde.

Literatur:

Beater, Axel: Medienrecht. 2. Aufl. Tübingen [Mohr] 2016.

Groys, Boris: Google: Worte jenseits der Grammatik. dOCUMENTA (13) – 100 Notizen – 100 Gedanken. Ostfildern [Hatje Cantz] 2012.

Ladeur, Karl-Heinz: Helmut Ridders Konzeption der Meinungsfreiheit als Prozessgrundrecht. In: KJ Kritische Justiz, 53, 2, 2020, S. 172-182.

Ridder, Helmut: Meinungsfreiheit. In: Neumann, Franz; Hans-Carl Nipperdey; Ulrich Scheuner (Hrsg.): Handbuch der Grundrechte, Band 2, 2. Auflage. Berlin [Duncker & Humblot], 1968, S. 243-290.

Ridder, Helmut: Die soziale Ordnung des Grundgesetzes. Opladen [Westdeutscher Verlag] 1975.

Ridder, Helmut: Kommunikation in der Demokratie Tübingen [Mohr] 2020.

Wielsch, Dan: Funktion und Verantwortung. Zur Haftung im Netzwerk. In: Rechtswissenschaft, 10, 2019, S. 84-108.

Wielsch, Dan: Medienregulierung durch Persönlichkeits- und Datenschutzrechte. In: Juristenzeitung, 3, 2020, S. 105-114.

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*1943, Prof. Dr. Dr. h. c. (Fribourg/CH), Studium der Rechtswissenschaft in Köln und Bonn, Professor für Öffentliches Recht in Bremen, Hamburg, Florenz (EHI), Veröffentlichungen insbes. zum Medienrecht, Verfassungsrecht, Rechtstheorie.