Scripted Reality

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Wortherkunft und Definition:
Der Fokus der folgenden Definition liegt auf den Produktions- und Inszenierungsformen: Scripted Reality ist eine Form des vor allem deutschsprachigen Unterhaltungsfernsehens. In Scripted-Reality-Formaten stellen Laiendarsteller und -darstellerinnen einem Drehbuch (= Script) folgend alltägliche Situationen in inszenierter Weise dar, jedoch gleichen Kamerastil und Ästhetik der Präsentationsweise herkömmlicher → Reality-TV-Sendungen. Scripted-Reality-Formate spielen in der Regel nicht in eigens konstruierten Studio-Kulissen, sondern nutzen (teil-)öffentliche Orte und/oder private Wohnungen.“ (Lexikon der Filmbegriffe)

Geschichte:
Ergänzend zu ihrem vorhandenen Angebotsspektrum im Bereich Reality TV platzieren seit 2010 RTL, SAT.1 und ProSieben im Tagesprogramm drehbuchbasierte Scripted-Reality-Formate. Hier werden vorzugsweise Familienschicksale (Familien-Fälle seit 2012, SAT.1) oder Kriminalfälle (Die Trovatos Detektive decken auf seit 2011, RTL) mit Laiendarsteller*innen inszeniert. Ihr aggressives Schreien dominiert als Ausdrucksform in den gezeigten außergewöhnlichen Handlungen und stereotypen Konflikten (Neid, Eifersucht). Die Handlungsstrukturen der Episoden folgen der Dreiaktstruktur populärer Filme (Eder 2007). Der dokumentarische Aspekt dieser Formate beschränkt sich weitestgehend auf den visuellen Vermittlungsstil, der etwa mit einer subjektiven Kamera den ‚Fly on the Wall‘-Gestus der Beobachtung echter Ereignisse suggeriert.

Gegenwärtiger Zustand:
In den Hybridisierungen der sogenannten Scripted-Reality-Formate dominiert die Fiktion, die auf außergewöhnliche Ereignisse, Slapstick-Elemente (Pannen als kleine Alltagskatastrophen, Missgeschicke) und skurrile Charaktere (Hässliche, Übergewichtige, Verhaltensauffällige) setzt. Dabei lassen sich kulturhistorische Einflüsse traditioneller → Freakshows erkennen.

Die Kombination aus unprofessionell agierenden Laiendarsteller*innen, linearen Handlungssträngen, emotionalem Realismus und dokumentarischen Darstellungsmitteln sorgt für einen hohen Authentizitätscharakter der Formate. Erst im Abspann wird auf den fiktionalen Charakter hingewiesen. Obwohl das Nachmittagsprogramm als Sendezeit in der Regel nur schwach genutzt wird, erreichen die Formate hohe Quoten (vgl. die täglichen GfK Daten).

Einige Formate lassen sich als TV-Äquivalent zur populären Erzählform der Pulp Fiction werten, da sie einen Schwerpunkt im Bereich Krimiserien haben: Betrugsfälle (RTL seit 2010), Mein dunkles Geheimnis (SAT.1 2013-2016), Schicksale – und plötzlich ist alles anders (SAT.1 seit 2010), Hilf mir doch! (VOX seit 2012) oder Verklag mich doch! (VOX seit 2011) haben einen Crime-Schwerpunkt. Mit Formaten wie Privatdetektive im Einsatz (RTL2 seit 2011) gab es seit 2013 eine Blockbildung im Nachmittagsprogramm. Ein vergleichbarer Themenschwerpunkt findet sich auch bei Unter Beobachtung (VOX seit 2012), das im Juli 2013 im Vormittagsprogramm lief, und bei Die Trovatos – Detektive decken auf (RTL 2011-2017). In einigen dieser Formate findet sich die implizite Ideologie der Ausgrenzung von Hartz-IV-Empfänger*innen durch ihre kontinuierliche Inszenierung als arbeitsscheue, häufig drogenabhängige Asoziale. Die traditionelle Integrationsfunktion des Fernsehens wandelt sich hier in eine Ausgrenzungsfunktion. Gleichzeitig unterstützen Inszenierungsmuster der Scripted-Reality-Formate potenziell den allgemeinen Glaubwürdigkeitsverlust des Mediums Fernsehen.

Forschungsstand:
Medienwissenschaftler*innen und Theolog*innen untersuchten das Angebotsspektrum, die Inszenierungsformen von → Authentizität, die impliziten Botschaften und bewerteten → ethische Aspekte (Brinkmann 2013; Mikos 2013). Des Weiteren werden kultur- und medienhistorische Einflüsse auf diese televisionären Grenzgänge zwischen Fakten und Fiktion verdeutlicht (Bleicher 2017). Der Medienwissenschaftler Achim Barsch untersucht Besonderheiten der Zuschauerbindung etwa durch die Narration am Beispiel des erfolgreichen Formats Berlin Tag und Nacht (Barsch 2016).

Der Sammelband Scripted Reality: Fernsehrealität zwischen Fakt und Fiktion von Daniel Klug (Klug 2016) beinhaltet Beiträge zu verschiedenen Themenschwerpunkten wie etwa generelle Produktionsbedingungen, Praktiken der Produktion von Faktualität, serielles Erzählen, crossmediale Distribution, Medienkonvergenz und Akzeptanzformen. Im Bereich der Rezeption zeigen sich vergleichbare Nutzungsmuster wie im allgemeinen → Reality TV (Hill 2009).

Literatur:

Barsch, Achim: TV-Marken als Strategien in der Popularkultur. Das Beispiel Berlin – Tag & Nacht. DOI: 10.14361/9783839429037-006

Bergmann, Anke; Joachim von Gottberg; Jenny F. Schneider: Scripted Reality auf dem Prüfstand. Berlin [Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen] 2013.

Bleicher, Joan Kristin: Reality TV in Deutschland. Geschichte, Themen Formate. Hamburg [Avinus Verlag] 2017.

Brinkmann, Frank Thomas (Hrsg.): Scripts, Fiktionen, Konstruktionen. Theologische und popkulturelle Fußnoten zu Reality-TV und (gefühls-)echtem Leben. Jena [Garamond] 2013.

Eder, Jens: Dramaturgie des populären Films. Drehbuchpraxis und Filmtheorie. Hamburg/Münster [Lit] 2007.

Hill, Annette: Reality TV: Factual Entertainment and Television Audiences. London [Routledge] 2009.

Klug, Daniel (Hrsg.): Scripted Reality: Fernsehrealität zwischen Fakt und Fiktion. Perspektiven auf Produkt, Produktion und Rezeption. Baden-Baden [Nomos Verlag] 2016.

Klug, Daniel: Scripted Reality. In: Lexikon der Filmbegriffe. Letzte Änderung 09.01.2015. https://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=8831 [19.01.2020]

Mikos, Lothar: Die Inszenierung von Authentizitaet in Scripted-Reality- und Castingshow-Formaten. Berlin [Vistas] 2013.

Schon, Bernd: Vom Experimentalroman zum ‚Lügenfernsehen‘. Anamnese und Problematisierung der Scripted-Reality-Kontroverse am Beispiel von Familien im Brennpunkt.“ In: Mühlbeyer, Harald; Bernd Zywietz (Hrsg.): Ansichtssache: zum aktuellen deutschen Film. Marburg [Schüren] 2013, S. 151-166.

Steglich, Ulrike: Keife, Prügel und Abzocke. Scripted Reality und die Verdrängung des Dokumentarischen. In: epd Medien vom 13.10.2010. S. 3-5.

Weiß, Hans-Jürgen; Annabelle Ahrens: Scripted Reality-Formate. Skandal oder normal? Ein Orientierungsvorschlag. In: TV Diskurs 3, 2012, S. 20-25.

 

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Joan Kristin Bleicher
*1960, Prof. Dr., ist seit 2001 Professorin für Medienwissenschaft an der Universität Hamburg. Sie studierte in Gießen, Siegen und Bloomington/Indiana Germanistik, Amerikanistik und Allgemeine Literaturwissenschaft. Nach dem Studium war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in medienwissenschaftlichen Forschungsprojekten beschäftigt. Forschungs-/Arbeitsschwerpunkte: Mediengeschichte, Medienpoetik, Grenzgänge Fakten und Fiktion, Aktuelle Fernseh- und Online Entwicklungen.