Wortherkunft: lateinisch investigare = jemandem oder einer Sache auf die Spur zu kommen suchen;
frz. chercher = suchen, sich bemühen; rechercher = aufsuchen, wiederfinden
Definition:
Die Recherche bezeichnet ein professionelles Verfahren, mit dem Informationen beschafft, geprüft und beurteilt werden. Im Journalismus grenzt sie sich damit aufgrund der aktiv suchenden Rolle des Journalisten von anderen Tätigkeiten ab, bei denen lediglich Presseerklärungen entgegengenommen und bearbeitet werden oder Agenturmeldungen als Quelle der Berichterstattung dienen. Der Zusatz ‚investigativ‘ bezeichnet dabei eine weitere Zuspitzung: Es geht um Sachverhalte von öffentlicher Relevanz, die nur gegen einen Widerstand aufgedeckt werden können. Dieser Recherchetyp macht etwas öffentlich, was einzelne Beteiligte lieber geheim halten möchten. Oft dreht sich die Recherche dabei um Machtmissbrauch oder Korruption. Einen hohen Stellenwert für die investigative Recherche haben Informanten, die Insider-Informationen lancieren, sei es durch Preisgabe einzelner Fakten oder vermehrt auch großer Datenmengen in Form von Leaks. In normativer Hinsicht ist für die Definition der Bezug auf die öffentliche → Relevanz der Enthüllung von besonderer Bedeutung, vor allem für die demokratietheoretische Funktion der Machtkontrolle. Einzelne Methoden der investigativen Recherche können sehr wohl in anderen Bereichen des Journalismus vorkommen. Auch der Aufwand der Recherche allein ist kein hinreichendes Abgrenzungsmerkmal, denkt man z.B. daran, dass der Boulevardjournalismus viel Aufwand treiben kann, um Details aus dem Privatleben von → Prominenten aufzudecken. Daher ist der Bezug auf die öffentliche Bedeutung des aufzudeckenden Sachverhalts zwingend, um von investigativer Recherche oder investigativem Journalismus zu sprechen.
Geschichte:
Die frühen Zeitungen legten noch keinen gesteigerten Wert auf das Handwerk der Recherche. Sie wollten entweder unterhalten und bilden, widmeten sich daher dem Räsonnement und waren eher → feuilletonistisch ausgerichtet. Oder sie verbreiteten Neuigkeiten, indem sie vor allem ausländische Blätter übersetzten. In Deutschland mangelte es zudem an den rechtlichen Spielräumen, denn unter den Bedingungen der Pressezensur war an kritische Nachforschungen ohnehin nicht zu denken.
Es ist daher nicht überraschend, dass der investigative Journalismus zuerst in den Ländern aufkam, die früh bürgerliche Rechte verankerten und die zudem in der industriellen Entwicklung vorne lagen: In England galt der Journalist William Thomas Stead mit der in London erscheinenden Pall Mall Gazette als Vorreiter. Er deckte 1885 in einer Artikelserie Fälle von Kinderprostitution und Menschenhandel in der britischen Oberschicht auf und bediente sich dabei bereits der verdeckten Recherche, indem er einem Händlerring ein minderjähriges Mädchen abkaufte, um anschließend darüber zu schreiben. Das Beispiel illustriert zudem die Entwicklung des investigativen Journalismus aus der → Sozialreportage. Mit dem Niedergang der Parteipresse gewann die auch jenseits des eigenen politischen Lagers verkäufliche Fact Story und damit die Recherche an Bedeutung.
In den USA entwickelte sich der investigative Journalismus aus der Bewegung der Muckraker zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Diese von Präsident Theodor Roosevelt als Beleidigung gemeinte Kennzeichnung als ‚Miststocherer‘ bezeichnete eine Gruppe von Journalisten, die durch die Industrialisierung entstandene Missstände anprangerten: Ihre Berichte drehten sich um den Machtmissbrauch durch Monopole wie Rockefellers Ölgesellschaft Standard Oil (Ida M. Tarbell), um die Ausbeutung armer Einwanderer in den Schlachthöfen Chicagos (Upton Sinclair) oder um Korruption in den großen Städten (Lincoln Steffens). Die aufwändigen Recherchen wurden vom Aufkommen einer national verbreiteten Zeitschriftenpresse begünstigt, die dank hoher Anzeigeneinnahmen zeitintensive Nachforschungen ermöglichte.
In Deutschland behinderte die Dominanz der Parteipresse zunächst eine Ausbreitung des investigativen Journalismus. Erst nach dem 2. Weltkrieg kam es zur Neugründung von Magazinen nach US-Vorbild, allen voran der Spiegel, der die exklusive Recherche bald zum Markenzeichen entwickelte. Zum breiteren journalistischen Leitbild wurde die aufdeckende Recherche aber erst im Zuge der Watergate-Affäre in den USA. Aufgrund fortgesetzter Enthüllungen der Washington Post über seinen Machtmissbrauch sah sich Präsident Nixon 1974 zum Rücktritt gezwungen. Die jungen Reporter Bob Woodward und Carl Bernstein stiegen in der Folge zu Rollenmodellen auf, was dank einer Hollywoodverfilmung auch Eingang in die Populärkultur fand.
Ein wichtiges Element stellt die investigative Recherche seit den 1980er Jahren auch für die politischen Fernsehmagazine dar, vor allem im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der sich komplexe, kostenintensive und im Ausgang ungewisse Nachforschungen eher leisten kann als die kommerziellen Sender.
Gegenwärtiger Zustand:
Der investigative Journalismus steht heute einerseits unter Druck, weil das klassische Erlösmodell der Printmedien in die Krise geraten ist: Teurer Journalismus ist bei rückläufigen Anzeigeneinnahmen, bröckelnden Abonnentenzahlen und in der Folge verkleinerten Redaktionen für immer weniger Medien zu finanzieren, vor allem im Bereich des Lokalen. Gleichzeitig gibt es Gegenbewegungen auf mehreren Ebenen. So hat eine merkliche Professionalisierung der Rechercheausbildung eingesetzt. War es in den 1980er Jahren in Deutschland noch üblich, Recherchekompetenz als Teil persönlicher Eigenschaften wie ‚Hartnäckigkeit‘ und ‚Spürsinn‘ zu betrachten und fehlten damals noch Lehrmodule und Trainings, so hat es seitdem einen klaren Schub gegeben. Dies schlägt sich nieder in der Gründung eines spezialisierten Berufsverbandes (Netzwerk Recherche), der sich seit 2001 der Stärkung der Recherchekultur vor allem durch Fachkonferenzen, Ausbildungsinitiativen und der Vergabe von Recherchestipendien widmet – wie es bereits seit 1976 die Berufsvereinigung Investigative Reporters & Editors in den USA praktiziert. Recherchekurse sind heute Bestandteil der Volontärsausbildung, mitunter inklusive erster Einblicke in die investigative Recherche. Die regere professionelle Debatte zeigt sich ferner anhand der vermehrten Publikation von Trainingshandbüchern.
Ähnlich wie in den USA gibt es seit wenigen Jahren auch in Deutschland Bestrebungen, rechercheintensiven Qualitätsjournalismus durch neue gemeinnützige Organisationsmodelle zu finanzieren. Vorreiter ist hier seit 2014 das Journalistenbüro Correctiv. Ebenfalls dem US-Vorbild folgt die Gründung eigener Rechercheredaktionen bei Tages- und Wochenzeitungen sowie im Rundfunk. Eine Weiterentwicklung dieses Modells stellen Rechercheverbünde dar, die nun auch medienübergreifend an einem größeren Thema arbeiten, vor allem der 2014 gegründete Rechercheverbund von Norddeutschem Rundfunk, Westdeutschem Rundfunk und Süddeutscher Zeitung. Der investigative Journalismus arbeitet zudem vermehrt grenzüberschreitend, reagiert damit auf die Internationalisierung der behandelten Themen, aber bündelt so auch die Kräfte. Große Datenprojekte wie im Falle der Recherchen zu den Offshore Leaks, den Panama Papers oder den Paradise Papers, bei denen weltweite Netzwerke zur Steuerhinterziehung aufgedeckt worden sind, konnten nur dank neuer Arbeitsstrukturen realisiert werden: Das International Consortium of Investigative Journalists in den USA koordinierte hier die Arbeit von über hundert Journalisten in Dutzenden Ländern.
Die großen Datenprojekte stehen zugleich für die neuen Möglichkeiten, die der investigative Journalismus durch die Praxis des Leaking erhalten hat: Mussten Whistleblower früher Unterlagen mühsam auf Papier herausschmuggeln, wenn sie Missstände in Firmen oder Behörden öffentlich machen wollten, so ist dies technisch nun deutlich einfacher geworden, auch dank anonymer Briefkästen, die zahlreiche Redaktionen für die Datenübermittlung eingerichtet haben. Neue Organisationen außerhalb des Journalismus, wie Wikileaks, haben diesen Trend befördert.
Die investigative Recherche hat sich damit weiter ausdifferenziert. Einige Redaktionen beschäftigen auch unabhängig von großen Leaks eigene Datenspezialisten, die Rohdaten der Verwaltung nach journalistischen Kriterien auswerten und so neue Erkenntnisse gewinnen. Der Data Driven Journalism stärkt somit die investigative Recherche. Er profitiert dabei von neuen gesetzlichen Möglichkeiten, die auf der Grundlage der Informationsfreiheitsgesetze auch in Deutschland einen besseren Datenzugang eröffnen.
Forschungsstand:
Zwar sind in Deutschland in den letzten Jahrzehnten vermehrt Monografien erschienen, die sich der Recherche widmen – und damit auch den Voraussetzungen der investigativen Recherche. Allerdings überwiegen berufspraktische Veröffentlichungen im Sinne der Lehrbuchliteratur, während die wissenschaftliche Auseinandersetzung noch sehr übersichtlich ist. Mehrere Arbeiten sind der Frage nachgegangen, welche Rahmenbedingungen eine solche journalistische Spezialisierung stützen und wie stark sie in deutschen Redaktionen verankert ist, z. T. basierend auf explorativen Studien und Leitfadeninterviews. Der Komplexität journalistischer Arbeit entsprechend, überwiegt heute der Ansatz, von engen Kommunikatorstudien wegzukommen und stattdessen das gesamte Spektrum der Einflussfaktoren in den Blick zu nehmen, inklusive der rechtlichen Rahmenbedingungen für die Recherche und der politischen Kultur, die eine kritische Recherchepraxis begünstigen oder behindern kann.
Während die Recherche in der systemtheoretischen Betrachtungsweise des Journalismus eher wenig Beachtung findet, stellt sich dies bei einem normativen demokratietheoretisch inspirierten Forschungsansatz ganz anders dar: In diesem Kontext übernimmt die investigative Recherche eine wichtige Funktion für die Verständigung der Gesellschaft und damit auch für die politische Entscheidungsfindung. Gestützt auf Habermas liefert Martin Welker so einen der seltenen theoretischeren Beiträge zur Recherche (2012). Seinem normativen Ansatz ist auch Michael Haller zuzurechnen, der die Neuauflage seines Handbuchs „Methodisches Recherchieren“ (2017) mit vielen Verweisen auf die Geschichte der Recherche und Bezüge zu anderen Gebieten wie der Soziologie angereichert hat.
Literatur:
Haller, Michael: Methodisches Recherchieren, 8. Auflage, Konstanz [UVK] 2017.
Lilienthal, Volker: Recherchejournalismus für das Gemeinwohl. Correctiv – eine Journalismusorganisation neuen Typs in der Entwicklung. In: Medien & Kommunikationswissenschaft, Jg. 65, 3, 2017, S. 659 – 681.
Ludwig, Johannes: Investigatives Recherchieren. 3. Auflage, Konstanz [UVK] 2014.
Nagel, Lars-Marten: Bedingt ermittlungsbereit: Investigativer Journalismus in Deutschland und in den USA. Berlin [LIT Verlag] 2007.
Preger, Sven: Mangelware Recherche. Münster [LIT] 2004.
Redelfs, Manfred: Investigative Reporting in den USA. Strukturen eines Journalismus der Machtkontrolle. Wiesbaden [Westdeutscher Verlag] 1996.
Redelfs, Manfred: Recherche mit Hindernissen. Investigativer Journalismus in Deutschland und den USA. In: Langenbucher, Wolfgang R. (Hrsg.): Die Kommunikationsfreiheit der Gesellschaft. Die demokratischen Funktionen eines Grundrechts, Publizistik Sonderheft 4, Wiesbaden (Westdeutscher Verlag] 2003, S. 208 – 238.
Ukro, Jörg; Gianna Iacino: Comparative Study on Investigative Journalism. Saarbrücken [Saarbrücker Verlag für Rechtswissenschaften] 2016.
Welker, Martin: Journalistische Recherche als kommunikatives Handeln. Journalisten zwischen Innovation, Rationalisierung und kommunikativer Vernunft. Baden-Baden [Nomos] 2012.