Walter Jens

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Walter Jens liest in der Akademie der Künste
Foto: Etan Tal

Walter Jens – Wissenschaftler, Schriftsteller, Kritiker und öffentlicher Intellektueller

Geboren am 8. 3. 1923 in Hamburg, gestorben am 9. 6. 2013 in Tübingen.

Im akademischen Alltag sind brillante Vorträge nicht gerade die Regel. Und selbst bei festlichen Anlässen wird an Universitäten häufig nur Routine-Rhetorik geboten. Umso lieber dürften sich die damals Anwesenden an einen Vortrag erinnern, den Walter Jens am 25. November 1965 im Rahmen der Immatrikulationsfeier der Universität Tübingen gehalten hat. Von deutscher Rede war der Titel – und der Vortragende überzeugte sowohl inhaltlich als auch rhetorisch.

Für Jens ist die Rhetorik eine „Tochter der Republik, die sich allein in Freiheit entfalten könne, untrennbar mit dem Schicksal der Demokratie verbunden“ (Jens 1983: 25). Um diese These zu belegen, entwirft er ein aspektreiches historisch-systematisches Panorama. Die Geschichte der Redekunst vor dem Hintergrund der politischen Geschichte – das war ein Parforceritt durch die europäische Geistes- und Sozialgeschichte. „Verfiel in Athen und Rom die Rhetorik im Augenblick der zerbrechenden republikanischen Ordnung, so war für Deutschland – unter dem Aspekt einer neuen Blüte der Beredsamkeit – Rettung nur vom Zerfall des Despotismus zu erwarten“. (Jens 1983: 28)

Jens setzte dem die Forderung nach Aufklärung und Agitation für die Humanität entgegen (ebd.: 24-53) Der Redner machte es weder sich noch den Zuhörern leicht: Lange Satzkonstruktionen, gefüllt mit Anspielungen, Literaturverweisen, Werturteilen – alles in einem fortlaufenden Redefluss ohne gliedernde Verkehrszeichen, vorgetragen mit ausdrucksstarker Mimik und lebhafter Gestik. Im damals noch üblichen Professorentalar erinnerte er an Kanzelredner aus fernen Zeiten.

Zwei Jahre zuvor war Walter Jens in Tübingen auf den ersten deutschen Lehrstuhl für Allgemeine Rhetorik berufen worden. Am 8. März 1923 in Hamburg geboren, musste er, von früher Kindheit an Asthmatiker, einen Teil seiner Schulzeit im Sanatorium verbringen. Die Krankheit bewahrte ihn vor dem Militärdienst. Nach einem verkürzten Studium der Germanistik und der Klassischen Philologie promovierte er bereits mit 21 Jahren an der Universität Freiburg mit einer Studie über die sophokleische Tragödie. Fünf Jahre später dann Habilitation mit einer Schrift zum Thema Tacitus und die Freiheit an der Universität Tübingen, an die er 1956 als Professor für Klassische Philologie berufen wurde.

In allen Medien präsent
Parallel zur wissenschaftlichen Karriere versuchte sich Jens als belletristischer Autor. Seinen ersten literarischen Text veröffentlichte er noch unter Pseudonym. 1950 fand sein Roman Nein – Die Welt der Angeklagten positive Resonanz. Auf diese von Kafka beeinflusste Dystopie folgten weitere literarische Werke, darunter Herr Meister – Dialog über einen Roman (1963), ein fiktiver Briefwechsel über ein scheiterndes Romanprojekt. Später dann dramatische Versuche, etwa das Stück Die Verschwörung, in dem er die historische Gestalt Caesars ironisch entmythologisierte. Der Bühnenfassung ging ein 1969 ausgestrahltes Fernsehspiel voraus.

Buch oder Bühne, → Radio oder → Fernsehen, Zeitung oder Zeitschrift – Jens war in allen Medien präsent.  Wie selbstverständlich gehörte er auch zum Kreis der Gruppe 47, die das literarische Leben in der jungen Bundesrepublik maßgeblich mitbestimmte. Seit 1950 nahm er regelmäßig an den Treffen der Gruppe teil, manchmal zusammen mit seiner Frau Inge, mit der er seit 1951 verheiratet war. Dort las er nicht nur aus eigenen Werken, sondern profilierte sich auch mit anderen „→ Feuilleton-Größen“ (Schildt 2022: 538) als Interpret und → Kritiker der vorgestellten Texte.

Dass dieser Hommes de Lettres meinungsstarke Literaturkritiken für angesehene Blätter schrieb, ist nicht überraschend. Seine Vielseitigkeit zeigt sich eher darin, dass er jahrelang unter dem Pseudonym Momos Fernsehkritiken in der Wochenzeitung Die Zeit veröffentlichte. Momos ist in der griechischen Mythologie der Gott des Tadels. Ob Politik, Kultur oder Fußball – kein Thema war hier vor ihm sicher. Als Fernsehkritiker hat der Fußballfan bereits 1970 weitsichtig vorausgesagt: „Eines Tages werden die Unparteiischen das Spiel vom Monitor aus dirigieren, mit Trick-Repetitionen statt der Linienrichterbefragung …“ (Jens 1973: 110).

Die Tübinger Studentinnen und Studenten besuchten seine Vorlesungen zur Rhetorik in der Alten Aula neben der Stiftskirche. Die Abendvorträge über ‚Probleme der modernen deutschen Literatur‘ im Festsaal der Universität waren auch für Bürgerinnen und Bürger der Stadt zugänglich.  Nicht selten war eine vierstellige Zahl von Zuhörern im ‚Zirkus Jens‘, wie diese Veranstaltung spöttisch genannt wurde. In späteren Jahren hielt er solche Vorlesungen gemeinsam mit seinem Nachbarn und Freund Hans Küng, dem katholischen Theologen und Kirchenkritiker, über religiöse Werke der Weltliteratur. Dass er als aktiver Protestant religiös sensibel war, zeigt sich auch in seinen Bibelübersetzungen.

Redner der Republik
Als Redner war Walter Jens bald deutschlandweit gefragt. Wenn Festspiele oder Kunstausstellungen eröffnet, wenn Geburtstage von Kulturgrößen gefeiert oder Literaturpreise vergeben wurden – immer wieder findet man ihn auf der Rednerliste. Auch bei eigenen Ehrungen hielt er bedeutende Reden, so 1968 bei der Verleihung des Lessing-Preises durch die Hansestadt Hamburg oder 1981 bei der Verleihung des → Heinrich-Heine-Preises durch die Stadt Düsseldorf.

Nach der Emeritierung kein Ruhestand. Zweimal wurde er zum Präsidenten der traditionsreichen Akademie der Künste in Berlin gewählt. In seine Amtszeit (1989 bis 1997) fiel die deutsche Wiedervereinigung, und auch die Teilung in Ost-Akademie und West-Akademie konnte überwunden werden. Inge Jens hat in ihren Unvollständigen Erinnerungen ausführlich über die Schwierigkeiten der Zusammenführung berichtet.

Das Ehepaar Jens zog politisch am selben Strang. Beide Partner engagierten sich in der SPD-Wählerinitiative für Willy Brandt, und gemeinsam nahmen sie als überzeugte Pazifisten zusammen mit anderen Prominenten teil an Sitzblockaden vor dem Atomwaffendepot in Mutlangen. Die Unterbringung zweier amerikanischer Soldaten, die 1990 vor Beginn des Zweiten Golfkriegs desertiert waren, brachte ihnen später eine Geldstrafe ein.

Am Dies academicus der Katholischen Universität Eichstätt hielt Walter Jens 1996 einen eindrucksvollen Festvortrag über Das künstlerische Alterswerk. Ein solches Alterswerk blieb diesem universell gebildeten, sprachmächtigen und couragierten Mann verwehrt. Immerhin: Zusammen mit seiner Frau veröffentlichte Walter Jens noch drei biographische Bücher, die zu Bestsellern wurden. Sie schildern das Leben von Katharina Pringsheim, der Frau Thomas Manns, und ihrer Mutter Hedwig. Die öffentlichen Lesungen daraus stießen auf große Resonanz, wurden aber für den damals schon Achtzigjährigen immer mühsamer.

In ihren Erinnerungen schildert Inge Jens die zunehmende Orientierungslosigkeit ihres Mannes, die zunächst als Psychose diagnostiziert wurde, sich aber schließlich als beginnende Demenz erweist. So findet sie ihn in seiner Bibliothek mit einem Buch in der Hand, das er verkehrt herum hält. Sensibel beschreibt sie die wechselnden Befindlichkeiten des Erkrankten und ihre eigenen Empfindungen zwischen Verunsicherung, Ratlosigkeit und Erschöpfung. Die letzten neun Jahre seines Lebens war Walter Jens dement. Damit erfüllte sich auf tragische Weise das Diktum Vergils: „Alles nimmt uns das Alter, sogar den Verstand.“

Demenz – Abschied von meinem Vater, so lautet der Titel eines 2009 erschienen Buches, in dem Tilman Jens, der älteste Sohn, das allmähliche Verdämmern beschreibt. Er bringt es in Zusammenhang mit einer Veröffentlichung des Literaturarchivs in Marbach, in der 2003 die Mitgliedschaft seines Vaters und anderer führender Intellektueller in der NSDAP offengelegt wird. Walter Jens, der am Ende der Nazi-Zeit erst 22 Jahre alt war, bestritt zunächst die Mitgliedschaft, musste dann aber mögliche Erinnerungslücken einräumen. Der Sohn, der sich schon vorher als journalistischer Aufdecker zu profilieren versucht hatte, schildert die letzten Jahre des auch von ihm geschätzten Vaters mit quälender Präzision, sodass ihm sogar ‚literarischer Vatermord‘ vorgeworfen wird.

Walter Jens, der Jahre zuvor in einer gemeinsamen Vorlesung mit Hans Küng über humanes Sterben plädiert hatte für das Menschenrecht auf aktive Sterbehilfe, hatte noch viele Monate mit der Krankheit vor sich. Am 9. Juni 2013 ist er, neunzigjährig, in Tübingen gestorben. In dem Ehrengrab auf dem dortigen Stadtfriedhof wurden später auch sein Sohn Tilman (2020) und seine Frau Inge (2021) beigesetzt. Und das Grab seines Freundes Hans Küng, mit dem er auch nach seinem Tode im Dialog bleiben wollte, liegt gleich nebenan.

Literatur:

Quellen:

Jens, Walter: Nein. Die Welt der Angeklagten. Roman. Hamburg [Rowohlt] 1950.

Jens, Walter: Herr Meister. Dialog über einen Roman. München [Piper] 1963.

Jens, Walter: Fernsehen – Themen und Tabus. Momos 1963 – 1973. München [Piper] 1973.

Jens, Walter: Von deutscher Rede. Erweiterte Neuausgabe. München [Piper] 1983.

Jens, Walter; Hans Küng: Menschenwürdig sterben. Ein Plädoyer für Selbstverantwortung. München [Piper] 1995.

Jens, Walter: Das künstlerische Alterswerk. Wolnzach [Kastner] 1997.

Jens, Inge; Walter Jens: Frau Thomas Mann. Das Leben der Katharina Pringsheim. Reinbek [Rowohlt] 2003.

Jens, Inge; Walter Jens: Katias Mutter. Das außerordentliche Leben der Hedwig Pringsheim. Reinbek [Rowohlt] 2005.

Jens, Inge; Walter Jens: Auf der Suche nach dem verlorenen Sohn. Die Südamerika-Reise der Hedwig Pringsheim 1907/08. Reinbek [Rowohlt] 2006.

Darstellungen:

Jens, Inge: Unvollständige Erinnerungen. 3. Auflage. Reinbek [Rowohlt] 2009.

Jens, Tilman: Demenz. Abschied von meinem Vater. Gütersloh [Gütersloher Verlagshaus] 2009.

Küng, Hans: Erlebte Menschlichkeit. Erinnerungen. München [Piper] 2015.

Schildt, Axel: Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik. 4. Auflage. Göttingen [Wallstein] 2022.

 

 

 

 

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Walter Hömberg
*1944, Prof. Dr. phil., war vor seiner Emeritierung Professor für Journalistik und Kommunikationswissenschaft an den Universitäten Bamberg und Eichstätt. Seit 1999 lehrte er auch als Gastprofessor an der Universität Wien. 1992 bis 1995 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. 1996 bis 2011 Sprecher des Münchner Arbeitskreises öffentlicher Rundfunk. Herausgeber mehrerer Buchreihen und des Almanachs Marginalistik. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Journalismusforschung, Wissenschafts- und Kulturkommunikation sowie Medien- und Kommunikationsgeschichte. Kontakt: walter.hoemberg (at) ku.de