Maria Leitner

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Maria Leitner – Pionierin der Rollenrecherche und Sozialreporterin

Geboren am 19. 1. 1892 in Varaždin, Österreich-Ungarn, gestorben am 14. 3. 1942 in Marseille, Frankreich.

Maria Leitner? In den einschlägigen Pressegeschichten, in Anthologien mit journalistischen Texten, ja selbst in einer speziell auf Journalistinnen ausgerichteten Berufsgeschichte sucht man diesen Namen vergebens. Aber einige akademische Abschlussarbeiten haben sich mit dieser Pionierin der Sozialreportage beschäftigt (z. B. Frank 2002). Vor allem der Autorin Helga W. Schwarz ist es zu verdanken, dass sie nicht ganz in Vergessenheit geraten ist. Seit vielen Jahren hat sie sich mit der Biografie Leitners befasst und in mehreren Büchern Auszüge aus ihrem journalistischen Werk und Neuauflagen ihrer Romane publiziert.

„Eine der größten über ganz New York verstreuten Massenabfütterungsanstalten ist das Automatenrestaurant Horn & Hardart. Hier versuchte ich, Arbeit zu erhalten.“ So beginnt Maria Leitner ihre → Reportage Als Kellnerin in Amerika – Automat unter Automaten, die im Dezember 1925 im Berliner Monatsmagazin Uhu abgedruckt ist (Jg. 2, H. 3, S. 58-65). In der amerikanischen Metropole war der Andrang der arbeitssuchenden Frauen groß, doch die Autorin hat Glück: Sie wird in eine Uniform gesteckt und als Nummer zwölf für die Filiale in der 14. Straße angestellt. „Dann werde ich in den Saal geschoben, und man drückt mir ein Tablett in die Hand. Ich weiß nun, dass ich ein ‚busgirl‘ bin, d. h. ein Omnibus, der mit Geschirr vollgepackt hin- und herrollt; ganz einfach ausgedrückt, ist meine Lebensaufgabe von nun an, Geschirr abzuräumen.“

Nach dem ersten Weltkrieg übten die Vereinigten Staaten – wie schon knapp hundert Jahre zuvor – eine große Sogwirkung aus. Die ‚Europamüden‘ wollten im ‚Land der unbegrenzten Möglichkeiten‘ ihr Glück – oder zumindest Arbeit – finden. Maria Leitner folgt 1925 ihrem Bruder Johann, der unter seinem ungarischen Namen János Lékai bzw. als John Lassen journalistisch tätig ist, nach New York. Sie soll im Auftrag des Ullstein-Verlags über die Neue Welt berichten. „Wir haben unsere Mitarbeiterin Fräulein Maria Leitner mit der schwierigen und mutigen Aufgabe nach Amerika geschickt, die dortigen Erwerbsmöglichkeiten […] durch das Opfer persönlicher Dienstleistungen zu studieren.“ So heißt es im Vorspann zu ihrer ersten → Rollenreportage im Uhu vom September 1925 (Jg. 1, H. 12, S. 8-16).  Sie schildert darin ihre Erfahrungen als Scheuerfrau im größten Hotel der Welt.

Maria Leitner betreibt keinen Globetrotter-Journalismus, der die exotischen Seiten fremder Länder in bunten Farben malt. Sie will möglichst authentisch über die Lebenswirklichkeit der sogenannten kleinen Leute berichten. Deshalb arbeitet sie inkognito als Putzfrau, als Kellnerin und als Lehrling in einer Zigarrenfabrik. Angeblich ist sie in mehr als sechzig unterschiedliche Berufsrollen geschlüpft. Die Ich-Form, bei Reportern sonst durchaus umstritten – hier ist sie angemessen: Die Autorin schildert in ihren Texten ihre eigenen Erlebnisse und Erfahrungen. Damit gehört sie zusammen mit ihrem Wiener Zeitgenossen Max Winter zu den Pionieren der Rollenreportage (vgl. Haas 1999).

Als Scheuerfrau im Luxushotel erhält Leitner einen Dollar pro Tag. Zu Beginn wird sie mit den nötigen Arbeitsutensilien ausgestattet: Eimer, Seife, Tüchern, einer Scheuerbürste und einem kleinen Teppich. Wozu der Teppich? Gleich am ersten Tag muss sie erfahren, dass er „keineswegs dazu da sei, meine Knie zu schützen, sondern die Umgebung, die im gegebenen Fall aus feinen Teppichen bestehen kann, vor den Spuren des Eimers“. Komfort und Luxus für „die da oben“, die reichen Gäste – Ausbeutung und Entbehrungen für „die da unten“, die Putz- und Badefrauen, die Zimmermädchen, die Liftboys. Das Hotel als Paradebeispiel für die sozialen Unterschiede.

Das Automatenrestaurant bietet die Essensportionen in kleinen Glasvitrinen an, die sich nach Münzeinwurf öffnen. „Aber auch hinter den Automaten stehen unsichtbar in dem schmalen heißen Gang Automaten. Sie legen Sandwichs auf Teller, immer wieder neue, sie verteilen Kuchen und Kompott.“ Sie „tragen die schweren Tablette, räumen immer wieder das schmutzige Geschirr ab“. „Automaten stehen ganz unten in der Tiefe, Negerautomaten, und waschen Geschirr ab, den ganzen Tag, die ganze Nacht. Automaten sitzen an der Kasse und wechseln 25-, 50-Cent-Stücke, Dollars in Nickel um.“ Vom Tellerwäscher zum Millionär? Die Wunderformel vom sozialen Aufstieg entpuppt sich bei der Undercover-Recherche als Illusion.

Ein rastloses Leben
Geboren wurde Maria Leitner am 19. Januar 1892 in Varaždin, einer kroatischen Kleinstadt, und dort in das jüdische Geburtsregister eingetragen. Gut vier Jahre später Umzug der Familie nach Budapest. Dort Besuch der Ungarischen Königlichen Höheren Mädchenschule. 1910 Beginn des Studiums der Kunstgeschichte in Wien, Fortsetzung in Berlin. 1913 Rückkehr nach Budapest, dort redaktionelle Mitarbeit beim Boulevardblatt Az Est (‚Der Abend‘). Engagement im linksintellektuellen Galilei-Kreis, zusammen mit ihren beiden jüngeren Brüdern Maximilian und Johann, die ebenfalls journalistisch und politisch aktiv sind. Während des ersten Weltkriegs zeitweise → Korrespondentin in Stockholm für ungarische Zeitungen. Nach dem Untergang der Habsburger Monarchie und den revolutionären Umbrüchen in Ungarn Flucht zunächst nach Wien und Berlin. 1925 bis 1928 Reportagen aus Nord-, Mittel- und Südamerika. Dann Veröffentlichung mehrerer Bücher. Mitgliedschaft im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. 1933 Flucht vor der Judenverfolgung in Deutschland. Wechselnde Wohnorte im Exil: Prag, Wien, Paris, Saarbrücken, Toulouse. Nach dem vergeblichen Versuch, ein Einreisevisum in die USA zu bekommen, stirbt sie – physisch und psychisch entkräftet – am 14. März 1942 in einer psychiatrischen Klinik in Marseille (Killet/Schwarz 2013).

Ein ruheloses Leben, von dem manche Phasen noch kaum ausgeleuchtet sind. Die multikulturelle Umgebung, in der sie aufgewachsen ist, die ethnischen Konflikte im österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaat, der Zusammenbruch der Monarchie, Revolution und Konterrevolution nach Kriegsende haben sie politisch sensibilisiert. Journalistische Neugier, ein anwaltschaftliches Berufsverständnis und menschliches Mitgefühl haben sie angetrieben, gesellschaftliche Konflikte aufzuspüren und soziale Ungerechtigkeiten anzuprangern. Journalistische Distanz – der Blick von außen – war ihre Sache nicht, sie berichtete aus den Maschinenräumen der Gesellschaft und identifizierte sich als engagierte Sozialistin mit den Opfern der kapitalistischen Welt.

Journalismus und Literatur
Wie manche schreibenden Zeitgenossen – etwa Gabriele Tergit – verarbeitete Leitner ihre → Recherche-Ergebnisse auch in belletristischen Formen. Die Novelle Sanddorn im Sturm, 1929 zuerst als Serie in Willi Münzenbergs Welt am Abend veröffentlicht, beschreibt die Zerschlagung der ungarischen Räterepublik. Der Roman Hotel Amerika, 1930 erschienen, beruht auf ihren amerikanischen Erfahrungen.  Siegfried Kracauer schrieb eine positive → Rezension: „Der Individualismus der Angestellten wird gegeißelt, ihr kleinbürgerlicher Instinkt durchschaut, ihre Kümmerlichkeit ohne falsches Mitgefühl analysiert“ (nach Killet/Schwarz 2013: 129). Die Nazis setzten den Roman auf die Liste der verbotenen Bücher. In Elisabeth, ein Hitlermädchen, ihrem letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Roman (1937), schildert sie eine Jugend im sogenannten Dritten Reich.

Typisch für ihre Arbeitsweise ist auch die Artikelreihe für die Abendzeitung Tempo, in der Maria Leitner 1928/29 verschiedene Protagonisten aus dem Berliner Milieu zu Wort kommen ließ: eine junge Stenotypistin, Damen der Gesellschaft, ein Dienstmädchen. In diesen kurzen Skizzen wird der Mythos der Goldenen Zwanziger eindrucksvoll entlarvt. Zentrales Thema ist der Kampf für die Rechte und die Emanzipation der Frauen, die der Autorin nur durch politische Aktionen und gesellschaftliche Organisation erreichbar schienen.

Literatur:

Quellen:

Killet, Julia; Helga W. Schwarz (Hrsg.): Maria Leitner oder: Im Sturm der Zeit. Berlin [Dietz] 2013.

Leitner, Maria: Hotel Amerika. Roman. Berlin, Weimar [Aufbau] 1974 [zuerst 1930]

Leitner, Maria: Reportagen aus Amerika. Eine Frauenreise durch die Welt der Arbeit in den 1920er Jahren. Hrsg. von Gabriele Habinger. Wien [Promedia] 1999 [zuerst 1932].

Leitner, Maria: Mädchen mit drei Namen. Reportagen aus Deutschland und ein Berliner Roman 1928-1833. Hrsg. und kommentiert von Helga und Wilfried Schwarz. Berlin [Aviva] 2013.

Leitner, Maria: Elisabeth, ein Hitlermädchen. Ein Roman und Reportagen (1834-1839). Hrsg. und kommentiert von Helga und Wilfried Schwarz. Berlin [Aviva] 2014.

Darstellungen:

Frank, Suzanne: Maria Leitner als Sozialreporterin. Ihr Leben und ihr Werk. Diplomarbeit Journalistik, Katholische Universität Eichstätt 2002 [masch.].

Haas, Hannes: Empirischer Journalismus. Verfahren zur Erkundung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Wien, Köln, Weimar [Böhlau] 1999.

Haller, Michael; Walter Hömberg (Hrsg.): „Ich lass mir den Mund nicht verbieten!“ Journalisten als Wegbereiter der Pressefreiheit und Demokratie. Ditzingen [Reclam] 2020.

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Walter Hömberg
*1944, Prof. Dr. phil., war vor seiner Emeritierung Professor für Journalistik und Kommunikationswissenschaft an den Universitäten Bamberg und Eichstätt. Seit 1999 lehrte er auch als Gastprofessor an der Universität Wien. 1992 bis 1995 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. 1996 bis 2011 Sprecher des Münchner Arbeitskreises öffentlicher Rundfunk. Herausgeber mehrerer Buchreihen und des Almanachs Marginalistik. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Journalismusforschung, Wissenschafts- und Kulturkommunikation sowie Medien- und Kommunikationsgeschichte. Kontakt: walter.hoemberg (at) ku.de