Matthias Claudius

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Beharren auf Unabhängigkeit: Matthias Claudius war ein verkannter Wegbereiter des modernen Journalismus

Geboren am 15. 8. 1740 in Reinfeld/Holstein, gestorben am 21. 1. 1815 in Hamburg.

Selten ist das Werk eines Autors im Gedächtnis der Nachwelt so auf einen einzigen Text zusammengeschrumpft wie bei Matthias Claudius. Sein Abendlied („Der Mond ist aufgegangen“) hat wohl nahezu jede und jeder Deutsche im Ohr. Dem einen oder der anderen dürfte beim Namen Claudius auch noch der Zeitungstitel des Wandsbecker Bothen einfallen. Die meisten aber interessieren sich nicht weiter für ihn, oft in der vorschnellen Gewissheit, er sei bloß ein stockkonservativer und frömmelnder Erbauungslyriker gewesen.

Doch Matthias Claudius war mehr, und er war anders. So anders, dass er in die Ahnengalerie des Journalismus gehört. Schon sein Lebenslauf ähnelt dem Werdegang moderner → Journalistinnen und Journalisten, und das noch vor der Professionalisierung des Berufs. 1740 in ein holsteinisches Pfarrhaus hineingeboren, studiert er nach der Lateinschule Theologie in Jena, bricht ab, belegt Jura und Kameralistik (Buchhaltung). Das bringt er zwar zu Ende, doch die akademische Welt bleibt ihm fremd, einen beruflichen Weg zeigt sie ihm nicht auf. Schriftstellerische Versuche bleiben erfolglos. Einige Jahre liegt er seinen Eltern auf der Tasche, unterbrochen von einer Tätigkeit als Privatsekretär in Kopenhagen, bis er mit 28 Jahren und auf Vermittlung Friedrich Gottlieb Klopstocks in die Redaktion der Hamburgischen Addreß-Comtoir-Nachrichten eintritt. In diesem Intelligenzblatt, einem Anzeigenjournal für die Hamburger Kaufmannschaft, durchläuft er eine Art frühes → Volontariat, was für die Zeit ungewöhnlich ist. Claudius hilft bei der Nachrichtenauswahl, kümmert sich um Post und Büroarbeiten, stellt Texte aus der Auslandspresse zusammen, lernt Umbruch und Zeitungssatz kennen. Und er erprobt sich an ersten eigenen Beiträgen in den ihm anvertrauten Kulturspalten (vgl. Claudius 1987: 727-776). Sie sind satirisch, hintergründig und eigenwillig, und sie stoßen die Hamburger Bänker, Reeder und Teehändler vor den Kopf. Eigenwille aber kommt schon damals bei → Verlegern und Chefredakteuren nicht gut an. Nach zwei Jahren erhält Claudius eine Abmahnung und kündigt schließlich selbst.

Immerhin hat er auf sich aufmerksam gemacht, so dass ihm die nächste journalistische Stelle nachgerade zufliegt: Er nimmt das Angebot an, im damals dänischen Wandsbek als Alleinredakteur eine neue Zeitung aufzubauen. Der Wandsbecker Bothe (vgl. Claudius 1978) ist ein kleines vierseitiges Blatt in der Art der ‚moralischen Wochenschriften‘, das aber täglich erscheint. Drei Seiten sind für Nachrichten aus aller Welt reserviert, eine Seite für die ‚gelehrten Sachen‘. Mit Tiefsinn, Witz und journalistischer Distanz entwickelt Claudius hier seine eigenwillige feuilletonistische Figuren- und Formenwelt weiter, veröffentlicht streitbare → Essays und → Rezensionen, durchsetzt mit Gedichten, Epigrammen oder kleinen Dialogen. Doch der wirtschaftliche Erfolg bleibt aus. Nie kommt die Zeitung über 400 Abonnenten hinaus. Nach vier Jahren wird sie 1775 eingestellt und Claudius entlassen.

Nun ist es Johann Gottfried Herder, der ihn protegiert und ihm eine Beamtenstelle als ‚Oberlandcommissarius‘ am Hof des Landgrafen Ludwig in Darmstadt vermittelt. Sie ist verbunden mit der Tätigkeit als → Redakteur eines weiteren neuen Blattes, der Hessen-Darmstädtischen privilegirten Land-Zeitung (vgl. Fechner 1978). Das Journal soll helfen, der bäuerlichen Bevölkerung Reformen in der Landwirtschaft nahezubringen. Doch Fortune ist Claudius auch in Darmstadt nicht beschieden. Mit Arroganz und Dünkel am Hof kommt er nicht zurecht, nach nur wenigen Wochen gibt er auf. Eine Tätigkeit als ‚Schönschreiber‘ staatlicher Politik erscheint ihm nicht länger vereinbar mit seinen Vorstellungen von Journalismus: „Ich bin“, schreibt er in einem Brief, „hergekommen, nicht ehrlich und schön zu schreiben, sondern ehrlich und schön zu handeln.“ (Claudius 1967: 232)

Er kehrt nach Wandsbek zurück und beschließt, freiberuflich zu arbeiten. Doch will er nicht für andere Blätter tätig sein, sondern setzt fort, was er schon zuvor begonnen hat: In Buchform gibt er eigene und fremde journalistische Artikel heraus, ergänzt um seine weiterentwickelten literarischen Formen aus dem Wandsbecker Bothen. Acht solcher Bände erscheinen bis zu seinem Tod 1815 unter dem prätentiösen Titel Asmus omnia sua secum portans, oder Sämmtliche Werke des Wandsbecker Bothen. Diese Bände sind sein Lebenswerk (vgl. Claudius 1987: 7-700). Er kann davon zwar nicht leben (immer wieder muss er für Nebeneinkünfte Mieter beherbergen, sich mit Übersetzungsarbeiten plagen, Privatunterricht erteilen, schließlich als Bankrevisor arbeiten). Doch in den Asmus-Bänden vollendet sich das Werk des freien Publizisten Matthias Claudius.

War er ein Aufklärer? Nie hätte er sich selbst so bezeichnet. Mit Zeitgenossen, die sich als ‚aufgeklärt‘ begriffen, legte er sich streitbar an. Von einer Republik hielt er nichts, die Französische Revolution lehnte er entschieden ab (das hatte er allerdings mit vielen deutschen Intellektuellen wie etwa Klopstock gemein, die zunächst über den Umbruch in Paris jubelten und dann erbittert über die Exzesse der ‚Franken‘ von den einstigen Idealen abfielen). Ein klarer politischer Kopf war Matthias Claudius nicht. So verstieg er sich 1795 in der Kayserlich Privilegirten Hamburgischen Neuen Zeitung gar zu einer merkwürdigen Polemik gegen die Abschaffung der Pressezensur (vgl. Claudius 1987: 449f.).

Matthias Claudius blieb dem Gedanken feudaler Ordnung und göttlicher Gerechtigkeit verhaftet, die für ihn im guten Monarchen ihren Ausdruck fand. Doch wäre es unangemessen, ihn einfach rückständig zu nennen. Dass der Monarch gut sein solle und kein Despot, war ihm ein Leben lang ein Anliegen. In zahlreichen Texten hat er gegen die Willkür des Adels, die Knechtung der Bauern oder feudale Kriegstreiberei aufbegehrt. Sein Gedicht Der Schwarze in der Zuckerplantage im Wandsbecker Bothen (vgl. Claudius 1987: 17f.) ist ein Aufschrei für Menschenrechte und gegen die Sklaverei, in die auch die dänische Krone verstrickt war. Der Journalist Matthias Claudius hatte dafür unter den schwarzen Arbeitern der Kattun-Fabrik von Wandsbek recherchiert und sich von den Bedingungen in den Plantagen berichten lassen.

Implizit vertrat Claudius durchaus Prinzipien der Aufklärung. Allerdings waren sie bei ihm religiös und nicht politisch begründet. Lebenslang erhob er seine Stimme gegen Gewalt und Kriegstreiberei. Seinen Söhnen verbot er, sich – wie damals an den Universitäten üblich – zu duellieren. Erst als Frankreich auch Deutschland mit seinen Armeen überzog, verfiel Claudius vorübergehend in einen „krisenhaften Bellizismus“ (Kranefuss 2011: 234) gegen die Besatzer – eine überraschende Parallele zur Wendung mancher Pazifisten im Ukraine-Krieg heute.

Auch in seiner Lebensführung war Claudius eher modern und unkonventionell (vgl. Reus 2022: 33-47). Die Etikette der höfischen Gesellschaft und ihre Ausbeutung der Natur waren ihm ein Gräuel. Was Kleidung und Ernährung anging, lebte er nachhaltig und bescheiden; gepuderte Perücken, ‚Putz‘ und Staatshabit, Geld und Luxus waren ihm nie wichtig, Kontemplation im Einklang mit der Natur und ‚slow living‘ dagegen immer. Und so hartnäckig er an der Existenz des guten Fürsten festhielt, so unangepasst unterlief er Standesgrenzen, als er die Tochter eines schlichten Zimmermannes heiratete, um den „Traum von einem alternativen Lebensstil“ (Kranefuss 2011: 100) zu verwirklichen. Als zukunftsweisend muss man aber vor allem seine journalistische Arbeit anerkennen und von seiner politischen Polemik trennen (vgl. Reus 2022: 67-117).

Wichtige Stufen in Geschichte und Professionalisierung des Journalistenberufs sind nach Horst Pöttker die „Bewusstwerdung der beruflichen Aufgabe und ihrer Bedingungen“ sowie die „Entdeckung und Erprobung aufgaben- und einkommensdienlicher Techniken und Regeln“ (Pöttker 2022: 21). Matthias Claudius kann hierbei als Pionier gelten. Die Überzeugung, dass zu seinen Aufgaben der unabhängige, von keinen Fremdinteressen gelenkte Blick auf die Welt gehöre, durchzieht sein gesamtes Werk. Schon in den Adreß-Comtoir-Nachrichten stellt er sich quer zu den wirtschaftlichen Erwartungen seines Verlegers und besteht auf der Freiheit seiner Assoziationen, Parodien oder → feuilletonistischen Einsprengsel. „Ich schreibe auch nicht bloß die → Nachrichten so hin, sondern tue gemeiniglich etwas von meinem Eigenen hinzu“ (Claudius 1987: 736), schreibt er in einem Beitrag, in dem sich ein fiktiver → London-Korrespondent als Mitarbeiter anbietet. Claudius will seinem (feuilletonistisch geprägten) Berufsziel folgen und scheut den Konflikt nicht. Lieber kündigt er. Auch mit dem Verleger des Wandsbecker Bothen ficht er manchen Strauß aus. Er ist nicht bereit, seinen Redaktionsstil zu ändern, um die miese ‚Quote‘ des Blattes zu verbessern. Die Kündigung nimmt er hin – um in seiner nächsten Station in Darmstadt erneut anzuecken. „Ein Rad in der Maschine“ des Landgrafen (Claudius 1967: 177) will er nicht sein und wirft hin. Lieber kein Geld als Abhängigkeit von Partikularinteressen. Die Alternative: freie publizistische Tätigkeit.

Das war freilich nicht sehr ‚einkommensdienlich‘, für die damalige Zeit aber doch ein erstaunliches Beharren auf ‚aufgabendienlichem‘ Handeln. Dazu gehört, dass Claudius schon früh das berufliche Handeln von Journalisten reflektiert. Er ironisiert deren Eitelkeit (und sich selbst) und weiß um die Neigung seines Standes, Sachverhalte zu vergröbern oder mit → Quellen sorglos umzugehen. In den Meldungen, die er in Darmstadt verfasst, spricht er von Erfindungen der Zeitungsschreiber und „Gerüchte[n]“, die „überhaupt in den hiesigen Zeitungen den meisten Platz füllen“ (Fechner 1978: o. S. [22. 1. 1777]). Er bemüht sich darum, seine Quellen zu belegen bzw. deren Unzuverlässigkeit nicht zu verschweigen. Die Berichte über den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, die er zu redigieren hat, lassen ihn erkennen, wie Meldungen von interessierter Seite lanciert werden und wie die Nachrichtenvermittlung zum Geschäft wird.

Neben dem Beharren auf Unabhängigkeit und der kritischen Reflexion des journalistischen Metiers fällt das Streben nach thematischer → Vielfalt als Qualitätsausweis auf. Es ist erstaunlich, welch große Zahl an politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Gegenständen er in dem schmalen Wandsbecker Bothen unterbringen konnte, bis hin zur Diskussion über Sinn und Unsinn von Pockenimpfungen (auch das mutet überraschend aktuell an). Zur Vielfalt gesellten sich Verständlichkeit, Witz und eine attraktive Ansprache des Publikums. Früher als andere suchte er nach neuen Formen. So gibt es von ihm einen Bericht über den Besuch eines Hospizes, der alle Kriterien der modernen → Reportage erfüllt (vgl. Claudius 1987: 257-259), und in seinen Briefen findet sich das Beispiel eines (nie gedruckten) Frage-Antwort-Gesprächs mit Carl Philipp Emanuel Bach (vgl. Claudius 1967: 37f.). Es ist „das erste dokumentierte Interview in der Geschichte des Musikjournalismus“ (Geck 2014: 38). Hätte Claudius es veröffentlicht, wäre es wohl das weltweit erste Wort-für-Wort- → Interview der Pressegeschichte überhaupt gewesen – lange vor dessen Einführung im amerikanischen Journalismus.

Auch wenn das Zeitungspublikum des 18. Jahrhunderts dem Journalisten Matthias Claudius noch kaum folgte, so hat er es doch nie als Zielgruppe jeder Publizistik aus den Augen verloren. Das zeigt sich vor allem in seinen feuilletonistischen Beiträgen. Er ordnete sie im Bothen unter ‚Gelehrte Sachen‘ ein, schrieb aber gerade nicht mit gelehrter Attitüde. Seine Theater- und Buchrezensionen sind frühe Belege eines offenen → Kulturjournalismus, der sich nicht mit → Jargon und Kennerpose über sein → Publikum erheben will. Im Gegenteil ermuntert er es immer wieder, selbst zu urteilen und im Urteil eines Rezensenten nichts als dessen persönliche Geschmacksäußerung zu sehen. So distanziert er sich deutlich von jeder dogmatischen Kunstkritik und von jenen „Kunstrichtern“, die „Weißheit [sic] plappern“ und so „altklug thun als wenn sie mehr könnten als Brod essen“. Jeder, so fordert er, habe „Zeit und Recht Kunstrichter zu werden“ (Claudius 1978: o. S. [1.1.1791]).

Jeder – also alle Leserinnen und Leser. Auch in diesem Verständnis von Kulturjournalismus zeigt sich die Modernität des Matthias Claudius.

Literatur:

Claudius, Matthias: Botengänge. Briefe an Freunde. Hrsg. v. Hans Jessen. Berlin [Evangelische Verlagsanstalt] 1967.

Claudius, Matthias: Sämtliche Werke. 6. Auflage. Darmstadt [Wissenschaftliche Buchgesellschaft] 1987.

Claudius, Matthias: Der Wandsbecker Bothe. Erster bis fünfter Jahrgang 1771-1775. Neu hrsg. v. Karl Heinrich Rengstof und Hans-Albrecht Koch. Hildesheim/New York [Olms] 1978.

Fechner, Jörg-Ulrich (Hrsg.): Hessen-Darmstädtische privilegirte Land-Zeitung 1777. Faksimileausgabe des von Matthias Claudius redigierten Teils und Nachlese aus dem ersten Jahrgang (1777). Darmstadt [Roether] 1978.

Geck, Martin: Matthias Claudius. Biographie eines Unzeitgemäßen. München [Siedler] 2014.

Kranefuss, Annelen: Matthias Claudius. Hamburg [Hoffmann und Campe] 2011.

Pöttker, Horst: Kommunikationsgeschichte oder Berufsgeschichte? Sichtweisen auf den Journalismus als Gegenstand der Historik. In: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte, 24, 2022, S. 15-23.

Reus, Gunter: Der andere Claudius. Anmerkungen zu einem oft verkannten Publizisten. Darmstadt [Wissenschaftliche Buchgesellschaft] 2022.

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Gunter Reus
*1950, Prof. Dr., ist apl. Professor i. R. für Journalistik an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Arbeitsschwerpunkte: Kulturjournalismus, Pressejournalismus, Journalismusforschung, Sprache und Stil der Massenmedien. Kontakt: gunter.reus (at) ijk.hmtm-hannover.de Gunter Reus hat Einführungsbeiträge zum → journalistischen Jargon sowie zu → Sprache und Stil im Journalismus geschrieben.