Publizistische Vielfalt

1909

‚Publizistische Vielfalt‘ (PV) bezeichnet die Verschiedenartigkeit der → Inhalte, Formen und Strukturen öffentlicher Kommunikation und steht im Gegensatz zu deren Gleichartigkeit (Homogenität) bzw. Einseitigkeit. Die bloße Vielzahl von Publikationen ist weder hinreichende noch notwendige Bedingung von PV, denn zahlreiche gleichartige Publikationen führen nicht zu Vielfalt in inhaltlicher, formaler oder sonstiger Hinsicht. Die strukturelle Wahrscheinlichkeit für PV steigt zwar mit der Zahl der Publikationen, aber auch innerhalb einer Publikation kann thematisch und formal vielfältig berichtet werden. Bei PV als ‚Qualität‘ öffentlicher Kommunikation muss also zwischen äußerer und innerer Vielfalt unterschieden werden:

Innere Vielfalt (Binnenpluralismus) setzt voraus, dass innerhalb einer → Redaktion, eines Mediums, eines Medienangebotes Vielfalt hergestellt wird. Die normativen und professionellen Anforderungen hierfür sind hoch, der organisatorische Aufwand beträchtlich und nicht ohne Weiteres über den Markt finanzierbar. Daher gilt das verfassungsrechtliche Gebot des Binnenpluralismus nur für den beitragsfinanzierten öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Äußere Vielfalt (Außenpluralismus) setzt auf die Vielzahl miteinander konkurrierender Medienangebote. Nach dem Kiosk-Modell stehen möglichst viele, inhaltlich und formal verschiedene Angebote zur Auswahl, die an sich jeweils homogen sein können. In kapitalistischen Mediensystemen hängt Außenpluralismus vom Markt ab: Ohne hinreichende Nachfrage auf den → Rezipienten-, Werbe- oder Datenmärkten sind Medien nicht finanzierbar, die einen Beitrag zur Vielfalt leisten können. Dies wirkt sich zum Nachteil gesellschaftlich marginalisierter Gruppen aus, sofern deren Themen, Perspektiven und Meinungen nicht repräsentiert werden. Dem kommunikationspolitischen Ziel PV liegt das Ideal zugrunde, dass aktive Bürgerinnen und Bürger sich umfassend informieren und sich mit einer Vielzahl unterschiedlicher Meinungen auseinandersetzen. Weil ein vielfältiges Medienangebot Voraussetzung für Rezeptionsvielfalt ist, kommt dem demokratischen Staat eine Regulierungs- und aktive Gestaltungsaufgabe zu.

PV wird in der Forschung anhand von über 40 Kriterien gemessen (vgl. Joris 2020: 1904); systematisch werden inhaltliche, formale, strukturelle, funktionale und nutzungsbezogene Vielfalt unterschieden.

(1) ‚Inhaltliche Vielfalt‘ meint die Themen, Meinungen, Perspektiven und Akteure, die zu Wort – oder Bild – kommen. Alle relevanten Interessen(gruppen) sollen angemessen und ausgewogen repräsentiert werden (vgl. Schatz/Schulz 1992: 694), unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft oder sozialer Position. Auch → Universalität der Berichterstattung stellt ein inhaltliches Vielfaltskriterium dar: Über welche Lebens-, Fach- oder Politikbereiche wird berichtet (Vielfalt der → Ressorts), welche lokalen, regionalen, nationalen oder internationalen Bezüge (geographische Vielfalt) gibt es? Wie viele unterschiedliche Quellen werden genutzt ( → Quellenvielfalt)?

(2) ‚Formale Vielfalt‘ umfasst die journalistischen → Genres ( → Nachricht, →  Bericht, → Reportage, → Feature, → Interview, → Kommentar usw.), semiotischen Formen (Sprache, Text, Bild, Bewegtbild, Ton), Darstellungsweisen und Stile. Diese Medienqualitäten können innerhalb eines Beitrags, einer Ausgabe oder Sendung, innerhalb eines Gesamtangebotes (Programm, → Mediathek, Verlagsprogramm, Website) oder eines Teilmediensystems (Rundfunk, Tagespresse, Telemedien) untersucht werden (vgl. Kolb 2015: 49-50).

(3) ‚Strukturelle Vielfalt‘ betrifft auf der → Medienorganisationsebene die Zusammensetzung der Redaktion im Hinblick auf Alter, Geschlecht, kulturellen Hintergrund, Herkunft usw. (Diversity), die Verschiedenartigkeit der Medienorganisationstypen (private, öffentliche, zivilgesellschaftliche), Eigentumsformen und Unternehmensziele (profit-, gemeinwohl- oder parteiorientiert). Strukturelle Vielfalt erhöht die Wahrscheinlichkeit für publizistische Vielfalt in inhaltlicher, formaler und funktionaler Hinsicht. Das liberale Marktmodell (Marketplace of Ideas) (vgl. Napoli 1999; Zerback 2013: 69) erweist sich als theoretisch und empirisch unhaltbar: Freier Zugang zum Medienmarkt, Markttransparenz und funktionale Äquivalenz austauschbarer Meinungen sind nicht gegeben. → Öffentliche Meinung ist ein kollektives Gut, das sich nicht mittels Preismechanismus aus den am meisten nachgefragten individuellen Meinungen ergibt.

(4) Die ‚funktionale Vielfalt‘ von Medien bezieht sich auf die klassischen Medienfunktionen Information, Unterhaltung, Meinungsbildung und Beratung sowie auf die Befriedigung individueller Rezeptionsbedürfnisse (Gratifikationen). McQuail (1992: 155-188) und Zerback (2013: 73) verstehen PV weniger als eigene Funktion denn als Modus der Erbringung der Medienfunktionen.

(5) ‚Nutzungsvielfalt‘ beschreibt, wie viele unterschiedliche Medien(angebote) Individuen oder Teile einer Gesellschaft nutzen. Angebotsvielfalt bleibt wirkungslos, solange sie nicht wahrgenommen wird und nicht im Medienrepertoire vorkommt (Selective Exposure). Die Furcht vor → Filterblasen beruht auf der Annahme, dass dissonante Meinungen und Themen mithilfe von Algorithmen gezielt vermieden werden und nur homogene Medienangebote genutzt werden.

Eine Schwierigkeit besteht in der Bestimmung der ‚normativ angemessenen Vielfalt‘ (vgl. McQuail 2000: 72; Vonbun-Feldbauer et al. 2020: 6) sowie ihrer empirischen Messung (vgl. Zerback 2013: 128-138). Die außermediale Wirklichkeit scheidet als absoluter Maßstab von PV aus, weil es keine Instanz gibt, die eine solche Wirklichkeit vollständig und objektiv beobachten könnte. Die optimale PV ist nicht gleichbedeutend mit einem Maximum an Themen, Meinungen und → Quellen. Maximale Themenheterogenität wäre dysfunktional, denn gesellschaftliche Debatten setzen gemeinsame Themen voraus, über die wir uns verständigen können (Gefahr fragmentierter → Öffentlichkeit). Auch vollständige Gleichgewichtung aller Themen und Meinungen eignet sich nicht als Maßstab optimaler PV, denn die ‚absolute Gleichgültigkeit‘ widerspricht grundlegend der notwendigen Selektions- und → Agenda-Setting-Funktion.

PV gilt als Funktionsvoraussetzung pluralistischer und demokratischer Staaten. Historisch und global stellt sie eine Ausnahme dar, denn totalitäre, autoritäre und illiberale Systeme verhindern PV gezielt. Medien dien(t)en meist als Herrschaftsinstrument: Die Themen und Meinungen sollten zugunsten persönlicher oder ideologisch begründeter Machtsicherung möglichst homogen und konform sein. Im Nationalsozialismus schränkten repressive Medienpolitik (Zensur, Ausschluss, Verfolgung und Ermordung) und staatliche Propaganda PV extrem ein. Die gelenkten Medien der DDR waren ausschließlich in der Hand staatstragender Parteien und Massenorganisationen, nur deren Meinungen und Themen wurden publiziert.

Weitere Faktoren beeinflussen PV: Auf der ‚Mikroebene‘ sind es persönliche Überzeugungen, Moral- oder Wertvorstellungen, Rollenverständnis und Persönlichkeitsfaktoren. Auf der ‚Mesoebene‘ können redaktionelle Linien, Kollegenorientierung, Ressourcen (Quellen, Agenturen, Zeit), Arbeits- und Aufgabenteilung, die Orientierung an kommerziellen oder anderen Partialinteressen die Vielfalt der Selektion und Präsentation von Nachrichten beeinflussen. Institutionelle Regeln und ethische Standards, → Nachrichtenfaktoren und Eliteorientierung wirken ebenfalls auf die Konstruktion der Realität in den Nachrichtenmedien. Ökonomische Zwänge führen zu Kooperation oder Zusammenlegung von Redaktionen, Bildung von Redaktionsnetzwerken, Gemeinschaftsredaktionen, Personalabbau oder -überlastung. Hierdurch verschlechtern sich die strukturellen Voraussetzungen für PV ebenso wie durch Konzentration der Medienunternehmen.

Im nationalen und internationalen Vergleich erfüllen gut finanzierte öffentliche Medien das normative Ziel PV besser als kommerzielle Medien (vgl. Humprecht/Esser 2018: 1841). Onlinekommunikation und → Social Media verbessern einerseits die Voraussetzungen für PV, weil technische und ökonomische Barrieren drastisch sinken. Autoritären Regimes fällt es schwerer, homogene Themensetzung und konforme Meinungsgebung durchzusetzen. Andererseits erweisen sich euphorische Vorstellungen über die Netzkommunikation als verfehlt: Noch immer gelingt es politischen Regimen, PV zu verhindern. Die Erzielung hoher Reichweiten setzt nach wie vor erhebliche Investitionen voraus, und eine Steigerung der Vielfalt durch Nachrichten-Websites lässt sich nicht feststellen (vgl. Humprecht/Esser 2018: 1841). Die intransparente algorithmische Selektion durch neue Medienintermediäre schränkt vorab ein, was Menschen rezipieren können. Auf dem Werbemarkt erweisen sich Plattformen als den journalistischen Medien überlegen, sodass das tradierte Geschäftsmodell des Journalismus ernsthaft bedroht ist. Wie Publizistische Vielfalt ohne professionellen, → recherchierenden oder gar → investigativen Journalismus zu sichern ist, stellt eine zentrale Zukunfts- und Forschungsfrage dar.

Literatur:

Humprecht, Edda; Frank Esser: Diversity in Online News. On the Importance of ownership types and media system types. In: Journalism Studies, 19, 12, 2018, S. 1825-1847.

Joris, Glen et al.: News Diversity Reconsidered: A Systematic Literature Review Unraveling the Diversity in Conceptualizations. In: Journalism Studies, 21, 13, 2020, S. 1893-1912.

Kolb, Steffen: Vielfalt im Fernsehen. Eine komparative Studie zur Entwicklung von TV-Märkten in Westeuropa. Konstanz [UVK] 2015.

McQuail, Denis: Media Performance. Mass Communication and the Public Interest. London u. a. [Sage] 1992.

McQuail, Denis: McQuail´s Mass Communication Theory. 4. Auflage, London u. a. [Sage] 2000.

Napoli, Philip M.: Deconstructing the Diversity Principle. In: Journal of Communication, 49, 4, 1999, S. 7-34.

Schatz, Heribert; Winfied Schulz: Qualität von Fernsehprogrammen. Kriterien und Methoden zur Beurteilung von Programmqualität im dualen Fernsehsystem. In: Media Perspektiven, 11, 1992, S. 690-712.

Vonbun-Feldbauer et al.: Regionaler Pressemarkt und Publizistische Vielfalt. Strukturen und Inhalte der Regionalpresse in Deutschland und Österreich 1995-2015. Wiesbaden [Springer VS] 2020.

Zerback, Thomas: Publizistische Vielfalt. Demokratischer Nutzen und Einflussfaktoren. Konstanz [UVK] 2013.

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Klaus Beck
*1963, Prof. Dr., ist seit 2018 Inhaber des Lehrstuhls für Kommunikationswissenschaft an der Universität Greifswald. Nach dem Studium der Publizistik und der Theaterwissenschaft an der FU Berlin war er dort sowie an den Universitäten Erfurt, Leipzig, Greifswald und erneut an der FU Berlin tätig. Forschungs-/Arbeitsschwerpunkte: Kommunikationsökonomie, -politik und -ethik, journalistische Qualität.