Schweigespirale

1995

Eine Schnecke symbolisiert die SchweigespiraleWortherkunft: Der Begriff ‚Schweigespirale‘ (engl.: spiral of silence) wurde von der deutschen Publizistikwissenschaftlerin und Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann ab etwa Mitte/Ende der 1960er Jahre entwickelt. Er bezeichnet eine von ihr erstmals 1974 publizierte (Makro-)Theorie aus dem Bereich der Medienwirkungsforschung zur Entstehung von → öffentlicher Meinung (vgl. Noelle-Neumann 1974a, b; 1980; 2001).

Definition:
Noelle-Neumann (1980) beschreibt mit dem sprachlichen Bild der Schweigespirale den Entstehungsprozess einer öffentlichen Meinung im sozialpsychologischen Sinne; verstanden als wertgeladene Meinungen oder Verhaltensweisen, die man in der → Öffentlichkeit zeigen muss, wenn man sich nicht isolieren will – oder zeigen kann, ohne sich zu isolieren (Noelle-Neumann 2001: 257; 2009: 437). Der Schweigespiralprozess kann im Prinzip als mehrstufiges, dynamisches Interaktionsmodell beschrieben werden (Noelle-Neumann 1974b; 1980):

1. Wahrnehmung des Meinungsklimas
Um sich nicht durch die Äußerung sozial unpassender/nicht anerkannter Meinungen zu kontrovers diskutierten, moralischen Themen gesellschaftlich zu isolieren (sog. Isolationsfurcht; Noelle-Neumann 2001: 59ff.), beobachten Menschen pausenlos ihre Umwelt, um Meinungsverteilungen zu den entsprechenden Themen in der Bevölkerung abzuschätzen. So können sie feststellen, welche Meinung zu einem wertgeladenen Thema in der Bevölkerung (vermeintlich) überwiegt bzw. Zulauf erfährt und welche sich in der Minderheit bzw. „auf dem absteigenden Ast“ (Noelle-Neumann 1974b: 302) befindet; auch Veränderungen von Meinungsverhältnissen werden registriert. Als → Quellen für die Wahrnehmung von Meinungsverteilungen dienen den Menschen zum einen ihre eigene unmittelbare Umwelt (direkte Beobachtung von Billigung und Missbilligung bestimmter Verhaltensweisen) und zum anderen die Medienberichterstattung (als indirekter Eindruck davon, wie die Mehrheit denkt).

2. Tendenzen zum Reden oder Schweigen
Menschen, deren persönliche Meinung zu einem kontroversen Thema mit der wahrgenommenen gesellschaftlichen Mehrheitsmeinung übereinstimmt, sind eher dazu bereit, ihre Meinung in der Öffentlichkeit zu vertreten. Personen hingegen, deren persönliche Meinung einer Minderheitenmeinung entspricht, tendieren dazu, diese in der Öffentlichkeit nicht zu artikulieren, sondern zu schweigen (oder sogar die von ihnen zwar nicht geteilte, jedoch wahrgenommene Mehrheitsmeinung zu äußern, um keine soziale Isolation zu riskieren).

3. Der Spiralprozess kommt in Gang
Durch das Schweigen derjenigen, die glauben, ihre Meinung entspräche einer Minderheitenmeinung, wird diese Meinung in der Öffentlichkeit immer seltener wahrgenommen und es entsteht mit der Zeit ein verzerrtes Bild der realen gesellschaftlichen Meinungsverhältnisse. Die vermeintliche Minderheitenmeinung wirkt schwächer, als sie wirklich ist. Die vermeintliche Mehrheitsmeinung hingegen wird öffentlich kommuniziert und wirkt daher dominanter, als sie es tatsächlich ist. Somit kommt durch die Tendenzen zum Reden und Schweigen ein Spiralprozess in Gang, bei dem sich eine Meinung sukzessive als öffentliche Meinung etabliert. „Mit dem Bild der Schweigespirale wird ein Verstärkereffekt von Reden und Schweigen vor allen in Situationen des ‚Wertewandels‘ [Herv. im Original] dargestellt.“ (Noelle-Neumann 2009: 440)

4. Dominanz eines Meinungslagers
Im Extremfall könne auf diese Weise eine bestimmte Meinung ganz zurückgedrängt werden – bis auf einen sog. „harten Kern“ (Noelle-Neumann 2001: 248) von Menschen, einer Minderheit, die ihre Meinung aller Isolationsdrohungen zum Trotz bis zuletzt vertritt. Ein Meinungsumschwung könne (dann) nur von Personen, die keine Isolationsfurcht kennen oder diese überwinden, etwa den sog. „Avantgardisten“ (Noelle-Neumann 2001: 200), bewirkt werden. Die „Endstation“ (Noelle-Neumann 2009: 440) der Schweigespirale ist, dass über ein Thema nicht mehr öffentlich diskutiert wird (entweder, weil es sich erledigt hat, oder weil es tabuisiert wird).

Geschichte:
„Jede Forschung beginnt mit einem Rätsel“ (Noelle-Neumann 2001: 16), so beschreibt Noelle-Neumann den Ausgangspunkt der Entstehung ihrer → Theorie der Schweigespirale. Das Rätsel, mit dem sie sich beschäftigte, war ein Last Minute Swing der Wahlabsichten im Bundestagswahlkampf 1965. Vorausgegangene Wahlumfragen hatten ihn nicht erwarten lassen und Noelle-Neumann erklärte ihn sich mit der Anpassung an das wahrgenommene Meinungsklima (Siegeserwartung der CDU/CSU). Auch die Begegnung mit einer Studentin, die Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre ein CDU-Abzeichen an ihrer Jacke nach missbilligenden Reaktionen anderer Studierender entfernte, trug Noelle-Neumann zufolge zur Entwicklung der Theorie der Schweigespirale bei. Beide Sachverhalte führte Noelle-Neumann auf das Zusammenspiel von wahrgenommener Mehrheitsmeinung und Isolationsfurcht des Menschen zurück.

Gegenwärtiger Zustand:
Die Theorie der Schweigespirale zählt zu den einflussreichsten Ansätzen der → Medienwirkungsforschung (Donsbach et al. 2014: 1; Matthes et al. 2018: 4; Scherer et al. 2006: 107) mit weltweiter Verbreitung. Das Buch Die Schweigespirale wurde laut Petersen (2022) mittlerweile in elf Sprachen übersetzt. Die englischsprachige Version The spiral of silence: Public opinion – our social skin (Noelle-Neumann 1993) wurde laut Google Scholar im Januar 2023 über 3.890-mal zitiert, ihr englischsprachiger Aufsatz (1974a) über 3.100-mal.

Gleichzeitig gilt die Schweigespirale jedoch auch als eine der umstrittensten Theorien der modernen Medienwirkungsforschung. Sie gilt als so komplex, dass sie bisher in ihrer Gesamtheit noch keiner umfassenden empirischen Prüfung unterzogen werden konnte. Stattdessen werden üblicherweise einzelne Annahmen der Theorie jeweils separat geprüft (Matthes/Hayes 2014: 54). Kritikpunkte betreffen u. a. das methodische Vorgehen der Analysen, die Schweigespiraleffekte nachweisen wollen (etwa Indikatoren und deren Validierung, Design, Fallzahlen), das Konzept der Isolationsfurcht, das den Ausgangspunkt der Schweigespirale bildet, oder die Vernachlässigung individueller Mediennutzungsdaten und Persönlichkeitsmerkmale sowie der unmittelbaren sozialen Umwelt von Individuen (zur Erfassung des wahrgenommenen Meinungsklimas) (siehe etwa Scherer et al. 2006: 107ff.; Matthes/Hayes 2014: 54ff.; Matthes et al. 2018: 4ff.).

Forschungsstand:
Die Theorie der Schweigespirale wurde in zahlreichen Studien international erforscht (empirische Studien sowie theoretische und methodische Weiterentwicklungen). Der thematische Fokus reicht weit über Wahlforschungskontexte hinaus. Es existieren sowohl Befragungs- und Beobachtungsstudien (u. a. im Experimentaldesign), die die Redebereitschaft oder Schweigetendenz bezüglich wertgeladener Themen erfassen, als auch Inhalts- und Netzwerkanalysen. Zum Teil wurden die Studien in Metaanalysen verdichtet (Glynn et al. 1997; Glynn/Huge 2014; Shanahan et al. 2007; Matthes et al. 2018). Neuere Forschung beschäftigt sich u. a. mit Meinungsbildungsprozessen in Onlineumgebungen bzw. unter Bedingungen von Onlinekommunikation. Auch wird die Theorie im Kontext moderner Phänomene wie Filterblasen oder → Echokammern diskutiert.

Literatur:

Donsbach, Wolfgang; Yariv Tsfati; Charles T. Salmon: The legacy of spiral of silence theory: An introduction. In: Donsbach, Wolfgang; Charles T. Salmon; Yariv Tsfati: The spiral of silence. New perspectives on communication and public opinion. New York [Routledge] 2014, S. 1-18.

Glynn, Carroll. J.; Andrew F. Hayes; James Shanahan: Perceived support for one’s opinions and willingness to speak out: A meta-analysis of survey studies on the ‚spiral of silence‘. In: Public Opinion Quarterly, 61, 1997, S. 452-463.

Glynn, Carroll J.; Michael E. Huge: Speaking in spirals: An updated meta-analysis of the spiral of silence. In: Donsbach, Wolfgang; Charles T. Salmon; Yariv Tsfati: The spiral of silence. New perspectives on communication and public opinion. New York [Routledge] 2014, S. 65-72.

Matthes, Jörg; Andrew F. Hayes: Methodological conundrums in spiral of silence research. In: Donsbach, Wolfgang; Charles T. Salmon; Yariv Tsfati: The spiral of silence. New perspectives on communication and public opinion. New York [Routledge] 2014, S. 54-64.

Matthes, Jörg; Johannes Knoll; Christian von Sikorski: The ‚Spiral of Silence‘ Revisited: A Meta-Analysis on the Relationship Between Perceptions of Opinion Support and Political Opinion Expression. In: Communication Research, 45, 2018, S. 3-33.

Noelle-Neumann, Elisabeth: The spiral of silence: A theory of public opinion. In: The Journal of Communication, 24, 1974a, S. 43-51.

Noelle-Neumann, Elisabeth: Die Schweigespirale. Über die Entstehung öffentlicher Meinung. In: Forsthoff, Ernst; Reinhard Hörstel: Standorte im Zeitstrom. Festschrift für Arnold Gehlen zum 70. Geburtstag am 29. Januar 1974. Frankfurt am Main [Athenäum Verlag], 1974b, S. 299-330.

Noelle-Neumann, Elisabeth: Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung – unsere soziale Haut. München [Piper] 1980.

Noelle-Neumann, Elisabeth: The spiral of silence: Public opinion – our social skin. 2. Auflage. Chicago/London [The University of Chicago Press] 1993.

Noelle-Neumann, Elisabeth: Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung – unsere soziale Haut. 6. Auflage. München [Langen Müller] 2001.

Noelle-Neumann, Elisabeth: Öffentliche Meinung. In: Noelle-Neumann, Elisabeth; Winfried Schulz; Jürgen Wilke: Fischer Lexikon Publizistik Massenkommunikation. 2. Auflage. Frankfurt/M. [Fischer] 2009, S. 427-442.

Petersen, Thomas: Elisabeth Noelle-Neumann. Leben und wissenschaftliches Werk. 2022. https://noelle-neumann.de/home-2/ [29.01.2023]

Scherer, Helmut; Annekaryn Tiele, Teresa Naab: Die Theorie der Schweigespirale: Methodische Herausforderungen und empirische Forschungspraxis. In: Wirth, Werner; Andreas Fahr; Edmund Lauf: Forschungslogik und -design in der Kommunikationswissenschaft. Band 2: Anwendungsfelder in der Kommunikationswissenschaft. Köln [Herbert von Halem Verlag] 2006, S. 107-138.

Scheufele, Dietram A., Patricia Moy: Twenty-Five years of the Sprial of Silence: a conceptual review and empirical outlook. In: International Journal of Public Opinion Research, 28, 2000, S. 304-324.

Shanahan, James; Carroll Glynn; Andrew Hayes: The spiral of silence: a meta-analysis and its impact. In: Preiss, Raymond W; Barbara May Gayle; Nancy Burrell; Mike Allen; Jennings Bryant: Mass media effects research. Advances through meta-analysis. Mahwah/London [Lawrence Erlbaum] 2007, S. 415-427.

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Melanie Leidecker-Sandmann
*1983, Dr. phil., ist seit 2018 wissenschaftliche Mitarbeiterin (PostDoc) am Teilinstitut Wissenschaftskommunikation / ITZ des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT). Sie hat 2013 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz zum Thema Der Aufmacher-Artikel deutscher Tageszeitungen im Vergleich promoviert. Arbeitsschwerpunkte: Journalismus- und Medieninhaltsforschung, Politische Kommunikation, Wissenschaftskommunikation. Kontakt: leidecker-sandmann (at) kit.edu