Wortherkunft:
Das Phänomen „öffentliche Meinung“ wurde Elisabeth Noelle-Neumann (2009: 427) zufolge bereits beschrieben, lange bevor der eigentliche Begriff geprägt wurde. Insofern mag die Frage danach, wer den Begriff zuerst gebrauchte, „ohne besondere Bedeutung“ sein (Noelle-Neumann 1966: 22). Laut Michael Raffel (1984: 50) jedoch war es der Schriftsteller Michel de Montaigne, der den Begriff „l’opinion publique“ erstmals nachweisbar im Kollektivsingular in seinen Essais von 1588 benutzt hat. Im Plural verwendete Erasmus von Rotterdam den Begriff „opiniones publicae“ bereits im Jahr 1516. Im Deutschen taucht der Begriff im Jahr 1702 auf, in Christian Thomasius‘ Übersetzung einer lateinischen Schrift über Hexenprozesse (vgl. Noelle-Neumann 2009: 427f.).
Definition:
Generationen von Wissenschaftlern unterschiedlichster Disziplinen (etwa Philosophen, Juristen, Historiker, Politologen und Publizistik-/Kommunikationswissenschaftler) haben sich „an dem Versuch, öffentliche Meinung klar zu definieren, […] die Zähne ausgebissen“ (Noelle-Neumann 2001: 84). Eine Übereinstimmung darüber, was genau unter dem Phänomen zu verstehen ist, besteht kaum – stattdessen existiert eine Fülle verschiedener Definitionen (vgl. z.B. Childs 1965). Dies liegt u.a. daran, dass schon der Terminus → Öffentlichkeit unterschiedlich definiert werden kann. Die verschiedenen Definitionen öffentlicher Meinung lassen sich zu mindestens drei Konzepten, die verschiedenen Theorietraditionen entspringen, bündeln (vgl. Roessing 2009: 48):
1) Aus sozialpsychologischer Perspektive kann öffentliche Meinung definiert werden als alle wertgeladenen Meinungen oder Verhaltensweisen, die man in der Öffentlichkeit (begriffen als Sphäre, in der man von anderen beobachtet und beurteilt werden kann) äußern oder zeigen muss, wenn man sich nicht isolieren will, oder zeigen kann, ohne sich zu isolieren (vgl. Noelle-Neumann 2001: 257; 2009: 437).
2) Aus staatswissenschaftlicher Perspektive wird öffentliche Meinung als Meinung einer informierten Elite definiert, die sich im Zuge einer rationalen, öffentlichen Diskussion gebildet hat (vgl. Roessing 2009: 48).
3) Aus empirisch-quantitativer Perspektive wird öffentliche Meinung als Aggregat individueller Einzelmeinungen definiert (vgl. Lamp 2009: 142).
Geschichte:
Im Verlauf der Geschichte hat der Begriff der öffentlichen Meinung mehrere Bedeutungsverschiebungen erfahren (vgl. Lamp 2009: 12, 131-145; Jackob 2012: 168f.):
1) Bereits in der griechischen und römischen Antike umschrieben Philosophen wie Platon, Sokrates oder Cicero das Phänomen mit Begriffen wie „Meinung“, „Urteil“ oder „ungeschriebene Gesetze“ (vgl. Jackob 2012: 170; Raffel 1984: 49; Noelle-Neumann 2009: 430). Dieses älteste, traditionelle Verständnis öffentlicher Meinung ist ein sozialpsychologisches, das u.a. auch den Arbeiten Toquevilles (1856), Tönnies‘ (1922) oder Allports (1937) zugrunde liegt. Zentrale Gedanken dieser Autoren wurden später von Elisabeth Noelle-Neumann übernommen (wie etwa der des Konformitätsdrucks, der von der öffentlichen Meinung sowohl auf den einzelnen als auch die Regierung ausgeht). Noelle-Neumanns sog. Integrationskonzept zufolge wird öffentliche Meinung als Instrument sozialer Kontrolle verstanden (an der alle Bürger partizipieren), mit der latenten Funktion der Sicherung eines ausreichenden Grades an gesellschaftlichem Konsens. Auf diesem Verständnis öffentlicher Meinung beruht Noelle-Neumanns Theorie der Schweigespirale (2001).
2) Im Zuge der europäischen Aufklärung im 18. Jahrhundert entwickelte sich ein normativ-politisches Verständnis öffentlicher Meinung (z.B. Speier 1950; Habermas 1990) auch Elitenkonzept genannt (vgl. Noelle-Neumann 2009: 431), das die sozialpsychologische Bedeutung zeitweise überlagerte bzw. verdrängte. Öffentliche Meinung entsteht diesem Verständnis zufolge durch einen kritischen, rationalen Diskurs unter den politisch am meisten gebildeten, bestinformierten und dem Gemeinwohl verpflichteten Bürgern (d.h. nicht alle Bürger partizipieren an der öffentlichen Meinungsbildung). Öffentliche Meinung hat die manifeste Funktion, die Regierenden bei ihrer Entscheidungsfindung und Meinungsbildung zu unterstützen. Öffentlichkeit wird hier in einem staatswissenschaftlichen Sinne als politisches Kommunikationsforum verstanden, der Gegenstandsbereich der öffentlichen Meinung verengt sich auf staatsrelevante Fragen (vgl. Lamp 2009: 132f.).
3) Durch die Entwicklung der empirischen Umfrageforschung entstand im 20. Jahrhundert das jüngste, empirisch-quantitative Verständnis öffentlicher Meinung. Sie wird hier mit den in repräsentativen Meinungsumfragen erhobenen Prozentverteilungen gleichgesetzt (z.B. Warner 1939; Lazarsfeld 1957; vgl. Roessing 2009: 14).
Gegenwärtiger Zustand:
Das Verständnis öffentlicher Meinung als Summe individueller Einzelmeinungen, die durch Meinungsforschung ermittelt werden kann, ist heutzutage in der Bevölkerung am weitesten verbreitet (vgl. Lamp 2009: 142). Das Elitenkonzept hingegen beherrscht weite Bereiche der Wissenschaft in Europa (vgl. Roessing 2009: 14). Häufig wird öffentliche Meinung auch mit der ,veröffentlichten Meinung‘, also mit den in den Massenmedien vorherrschenden Meinungen, gleichgesetzt (vgl. Lamp 2009: 136). Dem Integrationskonzept zufolge orientieren sich Menschen zwar an der medialen Berichterstattung, um einen Eindruck von der öffentlichen Meinung in der Bevölkerung zu bekommen, die veröffentlichte Meinung kann jedoch von der öffentlichen Meinung abweichen.
Forschungsstand:
Je nach Begriffsverständnis lassen sich verschiedene Forschungsstränge unterscheiden. Wird öffentliche Meinung mit aggregierten Bürgermeinungen gleichgesetzt, sind Meinungsumfragen die Analysemethode der Wahl. Sowohl in der Tradition des Eliten- als auch des Integrationskonzepts sind historisch-hermeneutische Arbeiten entstanden, die das Phänomen in Literatur, Geschichte und Philosophie untersuchen. Allein am Institut für Publizistik der Universität Mainz sind unter dem Einfluss Noelle-Neumanns mehr als 500 solcher Literaturstudien entstanden (vgl. Roessing 2009: 18f., 52, 55).
Darüber hinaus existieren zahlreiche internationale empirisch-analytische Studien in Form von Befragungen, Beobachtungen, Inhaltsanalysen oder Experimentalstudien, die öffentliche Meinung als Instrument sozialer Kontrolle (und/oder Schweigespiraleffekte) untersuchen. Neueste Studien analysieren Prozesse der öffentlichen Meinung bzw. Meinungsbildung im Internet.
Als Publikationen, die einen Überblick über den Forschungsstand geben, seien u.a. Scheufele/Moy (2000), Scherer/Tiele/Naab (2006), Shanahan/Glynn/Hayes (2007), Roessing (2009) sowie Donsbach/Salmon/Tsfati (2013) erwähnt.
Literatur:
Allport, Floyd H.: Toward a Science of Public Opinion. In: Public Opinion Quarterly, 1(1), 1937, S. 7-23.
Childs, Harwood Lawrence: Public opinion: nature, formation, and role. Princeton [van Nostrand] 1965.
Donsbach, Wolfgang; Charles T. Salmon; Yariv Tsfati (Hrsg.): The spiral of silence. New perspectives on communication and public opinion. New York [Routledge] 2013.
Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 1990.
Jackob, Nikolaus: Cicero und die Meinung des Volkes: Ein Beitrag zu einer neuen Geschichtsschreibung der Öffentlichen Meinung. In: Kuhn, Christina (Hrsg.): Politische Kommunikation und öffentliche Meinung in der antiken Welt. Stuttgart [Franz Steiner] 2012, S. 167-190.
Lamp, Erich: Die Macht öffentlicher Meinung – und warum wir uns ihr beugen. Über die Schattenseite der menschlichen Natur. München [Olzog] 2009.
Lazarsfeld, Paul F.: Public Opinion and the Classical Tradition. In: Public Opinion Quarterly, 21(1), 1957, S. 39-53.
Noelle-Neumann, Elisabeth: Öffentliche Meinung und soziale Kontrolle. In: Recht und Staat, Heft 329. Tübingen [J.C.B. Mohr] 1966.
Noelle-Neumann, Elisabeth: Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung – unsere soziale Haut. 6. Auflage. München [Langen Müller] 2001.
Noelle-Neumann, Elisabeth (2009): Öffentliche Meinung. In: Noelle-Neumann, Elisabeth; Winfried Schulz; Jürgen Wilke (Hrsg.): Fischer Lexikon Publizistik Massenkommunikation. 2. Auflage. Frankfurt/M. [Fischer] 2009, S. 427-442.
Raffel, Michael: Der Schöpfer des Begriffes „Öffentliche Meinung“: Michel de Montaigne. In: Publizistik, 29(1-2), 1984, S. 49-62.
Roessing, Thomas: Öffentliche Meinung – die Erforschung der Schweigespirale. Baden-Baden [Nomos] 2009.
Scherer, Helmut; Annekaryn Tiele; Teresa Naab: Die Theorie der Schweigespirale: methodische Herausforderungen und empirische Forschungspraxis. In: Wirth, Werner; Andreas Fahr; Edmund Lauf (Hrsg.): Forschungslogik und -design in der Kommunikationswissenschaft. Band 2: Anwendungsfelder in der Kommunikationswissenschaft. Köln [Herbert von Halem Verlag] 2006, S. 107-138.
Scheufele, Dietram A.; Patricia Moy: Twenty-Five years of the Sprial of Silence: a conceptual review and empirical outlook. In: International Journal of Public Opinion Research, 28, 2000, S. 304-324.
Shanahan, James; Carroll Glynn; Andrew Hayes: The spiral of silence: a meta-analysis and its impact. In: Preiss, Raymond W; Barbara May Gayle; Nancy Burrell; Mike Allen; Bryant Jennings (Hrsg.): Mass media effects research. Advances through meta-analysis. Mahwah/London [Lawrence Erlbaum] 2007, S. 415-427.
Speier, Hans: Historical Development of Public Opinion. In: American Journal of Sociology, 55(4), 1950, S. 376-388.
Tönnies, Ferdinand: Kritik der öffentlichen Meinung. Berlin [Julius Springer] 1922.
Toqueville, Alexis: L’ancien Régime et al Révolution. Paris [Michel Levy Frères] 1856.
Warner, Lucien: The Reliability of Public Opinion Surveys. In: Public Opinion Quarterly, 3(3), 1993, S. 376-390.