Fernsehredaktion

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Abschied vom Redakteursfernsehen

Anders als Reporter*innen oder Moderator*innen arbeiten Redakteur*innen für die → Öffentlichkeit unsichtbar. Die amerikanische Kommunikationswissenschaft hat die Funktion von Journalist*innen als → ‚Gatekeeper‘ beschrieben – die Entscheidungsträger*innen, die über die Weitergabe von Informationen bestimmen. Redakteur*innen wiederum sind das Nadelöhr, durch das freie Autor*innen, die ihre Beiträge veröffentlichen wollen, hindurchmüssen. Redaktionen genehmigen, betreuen und verantworten Artikel und Sendungen.

Doch das Zeitalter der Digitalisierung und die preiswerteren Produktionsmöglichkeiten, wie Kamera und Schnitt, haben mit → Social Media das Ende der Gatekeeperfunktion von Redaktionen eingeläutet: Nicht mehr wenige bestimmen, was der Welt erzählt wird; jeder kann posten und veröffentlichen, denn heute hat jeder seinen eigenen Zugang zur Öffentlichkeit. Nach Bernhard Pörksen sind wir möglicherweise auf dem Weg zu einer ‚redaktionellen Gesellschaft‘, in der jeder Bürger die Mündigkeit und ausreichend → Medienkompetenz hat, um Redaktionen zu ersetzen (Pörksen 2023). Brauchen wir dann noch Redaktionen?

Definition:
Der Chef eines Medienunternehmens delegiert die Verantwortung für die zu veröffentlichenden → Inhalte an die Redaktion. Daher muss der Name des verantwortlichen Redakteurs auf dem Abspann einer Sendung zu lesen sein, damit bei Beschwerden ein Ansprechpartner zur Verfügung steht. Zuschauerpost beantwortet die zuständige Redaktion. Das lateinische Wort ‚redigere‘ bedeutet aufnehmen, in einen Zustand versetzen. Redakteur*innen sind – meist festangestellte – Initiatoren und Bearbeiter von Inhalten; sie wirken als ein drittes Augenpaar zwischen Autor*innen und → Publikum und versetzen Beiträge in einen veröffentlichungsreifen Zustand. Unter anderem achten sie dabei auf eine verständliche Gestaltung sowie darauf, dass der → Pressekodex beachtet wird.

Private Sender unterliegen dem Tendenzschutz, d. h. der Geschäftsführer kann bestimmen, welche inhaltliche Richtung sein Sender haben soll. Beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen ist man dem Gemeinwohl verpflichtet und muss im Gesamtprogramm dem verfassungsrechtlich verankerten Auftrag zur „freien individuellen und öffentlichen Meinungsbildung“ entsprechen. (→ Medienstaatsvertrag)

Aufgaben einer Fernsehredaktion:
Redaktionen verwalten ihre Sendeplätze, definieren, wie die Programme auszusehen haben, die in der von ihnen zu verantwortenden Sendezeit ausgestrahlt werden. Sie wählen unter den vielen Programmvorschlägen der freien Autoren die Projekte aus, die sie für geeignet halten, den Zuschauer zu erreichen, was heute heißt, eine erhoffte Einschaltquote oder Klickrate zu erzielen. Der Gradmesser des Erfolgs einer Redaktion ist daher eher quantitativ und weniger qualitativ. Die Redaktion begleitet das Projekt von der Idee über die Genehmigung bis zur Sendung. Beim Dreh ist eine Redaktion nur in Ausnahmefällen anwesend – aber später im Schneideraum. Der Vertrag zwischen Autor*in und Sender sieht eine Rohschnittabnahme, in der Aufbau und Struktur eines Films erkennbar sein sollte, und die Feinschnittabnahme, bei der der Film fertig geschnitten und getextet vorliegen muss, vor. Die Redaktion ist dafür verantwortlich, dass der Beitrag keine Fehler, Falschinformationen oder Diffamierungen enthält.

Geschichte:
In den Zeiten vor der Einführung des Privatfernsehens, also bis Ende der achtziger Jahre, sprach man vom ‚Redakteursfernsehen‘, denn Redakteure hatten einen deutlich erkennbaren Einfluss auf das → Programm. Die sechziger bis achtziger Jahre waren die Ära, in der die öffentlich-rechtlichen Rundfunkhäuser viele innovative Programme schufen, der junge deutsche Film sich Weltgeltung eroberte, Dokumentarfilmer ihre Handschriften bildeten. Es wurden Stilrichtungen für dokumentarisches Arbeiten nach den Senderstandorten genannt: wie ‚Stuttgarter-‘ oder ‚Hamburger Schule‘ (Wildenhahn 2015); sogar Avantgardemusiker hatten in den Sendern ihre Experimentalstudios.

Von den Sendern gingen viele Impulse aus, es entstand Neues und Kreatives – mit Rückendeckung und Rückenwind von Redaktionen. Quoten galten noch nicht als Gradmesser für den Erfolg eines Beitrags, Redakteur*innen waren noch Expert*innen für die jeweiligen Inhalte. Falls die Geschäftsleitung versuchte, Einfluss auf einen Beitrag zu nehmen, war das selten von Erfolg für die obere Etage gekrönt. 1987 wurde z. B. vom WDR ein Redakteursstatut entwickelt, das Regeln für Konfliktfälle vorgibt, wenn ein Redakteur „die Freiheit seiner journalistischen oder künstlerischen Arbeit im Rundfunk beeinträchtigt“ sieht. Parallel wurde eine Redakteursvertretung geschaffen, in der sieben von den Redakteur*innen gewählte Vertreter*innen bei Kontroversen ums Programm zwischen den Etagen schlichten. Diesem Beispiel sind alle anderen öffentlich-rechtlichen Häuser gefolgt, zudem gibt es einen Zusammenschluss der Redakteursvertretungen der öffentlich-rechtlichen Sender in der AGRA, der Arbeitsgemeinschaft der Redakteursausschüsse.

Gegenwärtiger Zustand:
Die Sender stehen heute in einem harten Konkurrenz- und Existenzkampf. Das hat auch Auswirkungen auf Inhalt und Struktur des Redakteurberufs. Inzwischen wurden Fachredaktionen weitgehend abgeschafft, Redakteur*innen sollen eher Universalisten sein. Einem Redakteur jedoch, der kein Experte für sein Fachgebiet ist, fällt es schwer, sich mit Argumenten gegen einen unsachgemäßen Einwand von oben zu wehren. Es gibt die Tendenz, dass ‚Contentmanager‘ an die Stelle von → Fachredakteuren treten. Zudem werden die Beiträge aufgrund neuer Strukturen der Sendepläne immer kürzer.

Im letzten Jahrzehnt wurden in vielen Sendern kleine und relativ eigenverantwortlich arbeitende Redaktionen zu größeren, hierarchisch organisierten Einheiten zusammengefasst, manchmal als → Newsrooms bezeichnet. Ihre Einführung wurde unter anderem ökonomisch begründet: Eine → Recherche ermöglicht mehrere gestaltete Beiträge auf mehreren Ausspielwegen. Es hat sich aber auch gezeigt, dass dies fehleranfälliger ist, denn bei einem breitgefächerten System übersehen viele Augen weniger leicht ein Ereignis als nur zwei, und eine → Vielfalt von möglichen Perspektiven ist eher gewährleistet.

Wagemut und Risikobereitschaft werden von den Geschäftsleitungen heute weniger geschätzt als verlässlicher, vorhersehbarer Erfolg. Die Hierarchien sind steiler und vielschichtiger geworden, damit sind die Entscheidungswege länger und den Redaktionen Kompetenzen genommen worden. Die Gründe für Entscheidungen sind zudem intransparenter. Der Regisseur Dominik Graf sieht als Folge dieser Entwicklung Angst unter den Redakteuren – trotz ihrer unbefristeten Stellen (Graf 2016). Den meisten → Redakteur*innen fehlt inzwischen auch die praktische Erfahrung eines Autors, denn anders als in den Printmedien sind die Redakteur*innen der audiovisuellen Medien inzwischen kaum noch als Autoren*innen tätig. Wenn es doch der Fall sein sollte, muss ein weiterer Redakteur diesen Beitrag betreuen. Den Redakteuren fehlt weitgehend die Kenntnis, was es bedeutet, vollständig die Verantwortung beim Realisieren eines Beitrags zu übernehmen. Die Arbeitsweise und Lebenserfahrung von Redakteur*innen und Realisator*innen der Sendung geht immer weiter auseinander und damit auch Solidarität und Empathie füreinander.

Es wird viel über die notwendige Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gesprochen, unbeachtet bleibt dabei vielfach die Frage, wie die inneren Machtstrukturen der Sender den Entwicklungen angepasst werden müssen. Zu überlegen ist daher, welche Aufgaben, welche Kompetenz, welche Gestaltungsfreiheit Redaktionen zugestanden wird. Denn sie können das kompetente Rückgrat der Medien sein, und sie können dafür sorgen, dass aus den vielen Ideen von kreativen Autoren*innen innovative, überraschende und bereichernde Beiträge für die Öffentlichkeit werden.

Literatur:

AGRA, Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Redaktionsausschüsse: Redaktionsstatut. http://www.agra-rundfunk.de/wordpress/wp-content/uploads/2019/10/Muster-Redaktionsstatut.pdf und http://blog.agra-rundfunk.de

Graf, Dominik: Eine Branche in Angststarre. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.02.2016. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/berlinale/drehbuchautoren-und-regisseure-branche-in-angst-14056194.html

Pörksen, Bernhard: Die redaktionelle Gesellschaft. Eine konkrete Utopie für die digitale Diskurskultur. In: APuZ, Aus Politik und Zeitgeschichte, 20.10.2023. https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/diskurskultur-2023/541847/die-redaktionelle-gesellschaft/

Pressekodex https://www.presserat.de/pressekodex.html?file=files/presserat/dokumente/downloa%20d/Pressekodex.pdf

Rundfunkstaatsvertrag https://www.die-medienanstalten.de/fileadmin/user_upload/Rechtsgrundlagen/Gesetze_Staatsvertraege/RStV_22_nichtamtliche_Fassung_medienanstalten_final_web.pdf

Redakteursstatut https://wdr-dschungelbuch.de/knowledge-base/das-wdr-redakteursstatut/

Wagner, Rainer C. M.: Stuttgarter Dokumentarfilm-Schule. In: Bundeszentrale für politische Bildung: Tele-Visionen. Fernsehgeschichte Deutschlands in West und Ost. https://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/PuF_I_16_Stuttgarter%20Dokumentarfilm-Schule.pdf?download=1

Wildenhahn, Klaus: Abendbier in flacher Gegend. Filmtheorie Nr. 4. Berlin [Verbrecher-Verlag] 2015.

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Sabine Rollberg
*1953, Prof. Dr., von 1980-2018 WDR-Redakteurin, ARD-Auslandskorrespondentin in New York und Paris, ARTE-Chefredakteurin und ARTE-Beauftragte des WDR, von 2008-2019 Professur für Fernsehformate an der Kunsthochschule für Medien in Köln, seit 2019 Lehraufträge an der Universität Freiburg.