Pressekodex

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Definition:
Der Pressekodex ist ein kodifiziertes Regelwerk, das vom Deutschen Presserat aufgestellt wurde. Es gilt in erster Linie für die Print- und Onlineveröffentlichungen von Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland. In 16 Vorschriften, die als ‚Ziffern‘ bezeichnet werden, sind die berufsethischen Grundlagen journalistischer Arbeit zusammengefasst. Die Ziffern bestehen aus zum Teil mehreren Unterpunkten. Zur Einhaltung des Pressekodex verpflichten sich Medienunternehmen freiwillig selbst, Gesetzescharakter hat das Regelwerk also ausdrücklich nicht. Rechtliche und ethische Bewertungen könnten durchaus zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, beschrieb der frühere Geschäftsführer des Presserats, Lutz Tillmanns, das Verhältnis in einem Interview (Gerhardt 2004: 277). Verstöße gegen den Pressekodex können durch die Gremien des Deutschen Presserates geahndet werden, wobei eine öffentliche Rüge das schärfste Sanktionsinstrument ist.

Geschichte:
In der jungen Bundesrepublik sollte vermieden werden, dass eine umfassende Kontrolle journalistischer Veröffentlichungen durch den Staat wie zur Zeit des Nationalsozialismus erneut möglich wird. Gleichwohl hatte der zuständige Bundesinnenminister im Jahr 1952 den Entwurf für ein Bundespressegesetz vorlegt, „das Zeitungen, Zeitschriften und ihren Redakteuren wieder eine volkspädagogische Verantwortung im Dienst von Nation und Staat zuweisen sollte und das rechtliche Restriktionen der Presse bei Verletzung dieser Pflichten vorsah“ (Pöttker 2013: 128). Nach einer intensiven gesellschaftlichen und politischen Diskussion über die Rolle der → Pressefreiheit wurde schließlich akzeptiert, dass sich Staat und Regierung aus der Kontrolle der Medien heraushalten sollten. Dies gelang unter anderem mit dem Argument der Eigeninitiative, woraufhin 1956 der Deutsche Presserat gegründet wurde, der 1973 ein erstes kodifiziertes Regelwerk vorlegte. Dies war erforderlich geworden, so Lena Wallenhorst, weil sich einige Formen der Beschwerden so regelmäßig wiederholten, „dass die Erarbeitung eines allgemein formulierten schriftlichen Regelwerks als verbindliche Basis für die Beurteilung aller Beschwerden gewünscht wurde“ (Wallenhorst 2007: 148). Seit 2009 sieht sich der Presserat auch für die Veröffentlichungen beteiligter Medienunternehmen auf Webseiten im Internet zuständig, seit 2014 zudem in → Social Media.

Seit Ende 2020 besteht auch die Möglichkeit für unabhängige journalistische Onlinemedien wie Nachrichtenseiten oder Blogs, sich gegen eine Gebühr freiwillig zur Einhaltung des Pressekodex zu verpflichten und der entsprechenden Kontrolle durch den Deutschen Presserat zu unterwerfen. Der geänderte Medienstaatsvertrag sieht diese Option anstelle einer direkten Überwachung durch die Landesmedienanstalten vor.

Gegenwärtiger Zustand:
Über Beschwerden beim Verdacht von Verstößen entscheiden ehrenamtliche Gremien des Presserates, der nach wie vor von den Gründungsmitgliedern Bundesverband der Zeitungsverleger und Digitalpublisher (BDZV), Verband der Zeitschriftenverleger (VDZ), Deutsche Journalistinnen- und Journalistenunion in Verdi (DJU) und Deutscher Journalisten-Verband (DJV) getragen wird.

Die Ziffern des Pressekodex umreißen berufsethische Richtlinien etwa für die Achtung der Menschenwürde, die Trennung von Werbung und Redaktion oder den Umgang mit Sorgfaltspflichten bei → Recherche und Berichterstattung. Aus aktuellen Anlässen werden Ziffern immer wieder angepasst oder ergänzende Erläuterungen beschlossen. Dies war beispielsweise bei den Themen → Autorisierung von → Interviews (2007) oder Herkunftsnennung mutmaßlicher Straftäter:innen (2017) der Fall.

„Der Pressekodex versteht sich als Dokumentation aller Verhaltensregeln, Gebote und Verbote, Empfehlungen und Leitlinien, mithin all derjenigen Erkenntnisse, die für einen ‚guten Journalismus‘ essenziell sind“, erläuterte der damalige Presserats-Geschäftsführer Lutz Tillmanns im Jahr 2015: „Er liefert, zeitgemäßer ausgedrückt, Qualitätsstandards für die journalistische Arbeit.“ Dafür sei er auf gesellschaftliche Akzeptanz angewiesen. (Gerhardt 2015: 29f.) Im selben Gespräch erläuterte Tillmanns, dass mehr als 90 Prozent der Verlagshäuser Selbstverpflichtungserklärungen zur Einhaltung des Pressekodex abgegeben hätten. Debatten gab und gibt es immer wieder darüber, dass einzelne Unternehmen sich weigern, als ‚öffentlich‘ markierte Rügen des Presserates wie vorgesehen im eigenen Medium zu veröffentlichen. Die Resultate der Beratungen zu Eingaben in Bezug auf den Pressekodex werden regelmäßig auf der Webseite des Presserates erläutert.

Forschungsstand:
Forschungen zum Pressekodex teilen sich in theoriegeleitete Diskurse zum fehlenden Rechtscharakter des Pressekodex und der Wirkung der Sanktionsinstrumente einerseits sowie der Spruchpraxis und Weiterentwicklung andererseits. Dabei ist fundierte Literatur noch recht übersichtlich.

Zur grundsätzlichen Bedeutung legte 2008 eine Arbeit von Ingo Fischer nahe, dass der Pressekodex selbst unter → Journalist:innen zu wenig bekannt sei. Nur fünf Prozent der in dieser nicht repräsentativen Studie Befragten seien in der Lage gewesen, „eine dieser 16 Ziffern sinngemäß wiederzugeben“ (Fischer 2008). Im Übrigen würden ausgesprochene Rügen von der → Öffentlichkeit nicht zur Kenntnis genommen, so Fischer. Kerstin Liesem und Svenja-Ellen Singer dagegen kamen 2017 im Zusammenhang mit einer Untersuchung zur Kriminalberichterstattung zu dem Schluss, dass die „medienethischen Vorgaben des Pressekodex“ in diesem Bereich sehr wohl bekannt seien, was an einer guten → Aus- und Weiterbildung liege. Lediglich im Detail, etwa im Hinblick auf erlaubte identifizierende Berichterstattung bei außergewöhnlichen Straftaten in großer Öffentlichkeit, gebe es Verunsicherungen und Unkenntnis. (Liesem/Singer 2017: 237ff.)

Zur konkreten Anwendung des Pressekodex hatte Horst Pöttker bereits 2013 darauf hingewiesen, dass es nicht vordergründig auf die Sanktionsmöglichkeiten ankomme: „Die Rede vom Presserat als ‚zahnlosem Tiger‘ wird auch durch die Widersprüche zwischen dem Wortlaut des Pressekodex und der Spruchpraxis genährt.“ (Pöttker 2013: S. 136) Eine übergreifende, empirische Betrachtung zu diesem Aspekt ist bisher ein Desiderat der Forschung. Lediglich zu Einzelaspekten werden zuweilen – insbesondere vor dem Hintergrund grundsätzlicher gesellschaftlicher Debatten – Untersuchungen vorgelegt. So beschäftigte sich Carmen Krämer mit der Anwendung des Pressekodex bei der Berichterstattung über Geflüchtete (Krämer 2018). Bernhard Rude analysierte die Entscheidungen des Presserates im Zusammenhang mit Beschwerden zu Veröffentlichungen von ‚Mohammed-Karikaturen‘ (Rude 2006) oder einem Flugzeugabsturz (Rude 2015).

Literatur:

Baum, Achim; Wolfgang R. Langenbucher; Horst Pöttker; Christian Schicha (Hrsg.): Handbuch Medienselbstkontrolle. Wiesbaden [VS Verlag für Sozialwissenschaften] 2005.

Boventer, Hermann: Ethik des Journalismus. Zur Philosophie der Medienkultur. Konstanz [UVK] 1984

Fischer, Ingo: Eher unbekannt als anerkannt. Empirische Studie zum Einfluss des Deutschen Presserats. In: Journalistik Journal, 31.3.2008. https://www.halem-verlag.de/eher-unbekannt-als-anerkannt/  [30.03.2022]

Gerhardt, Rudolf: Der Pressekodex sollte für alle Medien gelten (Interview mit Lutz Tillmanns). In: Zeitschrift für Rechtspolitik, 8, 2004, S. 277-278.

Gerhardt, Rudolf: Journalismus zwischen Medienethik und Medienrecht (Interview mit Lutz Tillmanns). In: Zeitschrift für Rechtspolitik, 1, 2015, S. 29-30.

Harcup, Tony: Journalism. Principles and Practice. London [Sage] 2004.

Krämer, Carmen: Menschenwürde – Flucht – Medien. Reflexionen zu Ziffer 1 des deutschen Pressekodex im Kontext der Medienberichterstattung über Flucht. In: Prinzing, Marlis; Nina Köberer; Michael Schröder (Hrsg.):  Migration, Integration, Inklusion. Medienethische Herausforderungen und Potenziale für die digitale Mediengesellschaft. Baden-Baden [Nomos] 2018, S. 151-161.

Liesem, Kerstin; Svenja-Ellen Singer: Umgang mit dem Pressekodex: Eine vergleichende Studie zur Bekanntheit ausgewählter professionsethischer Normen im Zusammenhangmit der Kriminalberichterstattung. In Stapf, Ingrid; Marlis Prinzing; Alexander Filipovic (Hrsg.): Gesellschaft ohne Diskurs? Baden-Baden [Nomos] 2017, S. 237-252.

Pöttker, Horst: Öffentlichkeit und Moral. Zu Kernproblemen journalistischer Berufsethik. In: Zichy, Michael; Jochen Ostheimer; Herwig Grimm (Hrsg.): Was ist ein moralisches Problem? Zur Frage des Gegenstandes angewandter Ethik. Freiburg/München [Karl Alber] 2012, S. 268-292.

Pöttker, Horst: Öffentlichkeit oder Moral? Über den inneren Widerspruch des journalistischen Berufsethos am Beispiel des deutschen Pressekodex. In: Publizistik, 2, 2013, S. 121-139.

Pöttker, Horst; Kenneth Starck: Criss-Crossing Perspectives. Contrasting models of press self-regulation in Germany and the United States. In: Journalism Studies, 1, 2003, S. 47-64.

Rieser, Sabine: Randnotiz: Grenzen des Pressekodex. In: Deutsches Ärzteblatt, 25/112, 2015, S. 1111.

Rude, Bernhard: Religionsgemeinschaften müssen scharfe Kritik ertragen. In: Communicatio Socialis, 4, 2006, S. 389-398.

Rude, Bernhard: Unglücksopfer sind keine Personen der Zeitgeschichte. In: Communicatio Socialis, 3, 2015, S. 322-334.

Schicha, Christian; Carsten Brosda (Hrsg.): Handbuch Medienethik. Wiesbaden [VS Verlag für Sozialwissenschaften] 2010.

Wallenhorst, Lena: Medienpersönlichkeitsrecht und Selbstkontrolle der Presse. Berlin [Duncker & Humblot] 2007.

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*1971, Prof. Dr., ist seit 2012 Professor für Journalismus an der HMKW Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Köln. Er studierte Politikwissenschaften, Pädagogik und Mittlere/Neuere Geschichte an der Universität Köln und promovierte in Sozialwissenschaften an der Universität Tübingen. Der freie Journalist ist seit 2015 Bundesvorsitzender des Deutschen Journalisten-Verbands (DJV). Forschungs-/Arbeitsschwerpunkte: Journalismus und Demokratie, Soziologie in Medien- und Sozialwissenschaften.