Günter Wallraff

2337

Es gibt Bücher, die prägen ganze Generationen. Günter Wallraff hat solche Bücher geschrieben. Aber er hat weit mehr erreicht: „Dieser Mann hat, wie ihm heute auch seine früheren Gegner zubilligen, mit seinen Büchern das Land verändert.“ So schreibt es Jürgen Gottschlich im Vorwort seiner Biografie Der Mann, der Günter Wallraff ist (Gottschlich 2007: 10).

2007, als Gottschlichs Buch erscheint, hat der damals 64-jährige Wallraff gerade seine → Reportagen aus Kölner Call-Centern veröffentlicht, in denen er die schöne neue Arbeitswelt durchleuchtet, „in der nichts mehr qualmt und rußt wie einst in Fabriken und Zechen, sondern die staubfrei hinter Glas und Stahl versteckt ist“ (Gottschlich 2007: 11). Nach steter medialer Präsenz bis Ende der Achtzigerjahre ist der Undercover-Reporter zwanzig Jahre später „wieder hochaktuell“, wie Gottschlich schreibt (ebd.: 11). Dass Wallraff – „der im neoliberalen Diskurs der 90er Jahre […] als Mann von gestern galt“ – auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit seiner Arbeit eine solche Wirkung zu entfalten vermag, liegt für Gottschlich in dessen klarer Haltung begründet, denn: „Eine linke Geschichte, wie Günter Wallraff sie repräsentiert, ist in Deutschland 2007 nicht mehr nur eine wichtige Erinnerung, sondern gleichzeitig Anregung für die Zukunft“ (ebd.: 11).

Erinnerung und Zukunft – und dazwischen: die Gegenwart. 2022 ist Günter Wallraff noch immer aktiv. Vor allem mit seinem Team Wallraff für den Privatsender RTL, was ihm seit dem Start des Formats im Jahr 2012 auch Kritik einbrachte, etwa, dass er seine Ideale an den Boulevard verkauft habe. Bei RTL heißt es über das Ziel des Formats: „Missstände sichtbar machen, Menschen aufrütteln und Konsequenzen anstoßen.“ Wallraff, der sich selbst „als Reporter, Investigativjournalist, Schriftsteller, Menschenrechtsaktivist und Aufklärer in einem“ bezeichnet, erklärt dazu in einem Vorgespräch für einen Artikel in der Frankfurter Rundschau: „Dort erreiche ich jüngere Leute und auch das Arbeitermilieu und Menschen, die in prekären Beschäftigungsverhältnissen feststecken. Außerdem habe ich da viele Freiräume und kann auch Missstände bei großen Werbekunden wie Burger King und zuletzt Amazon thematisieren, weil der Sender gute Anwälte hat, die keine Prozesse scheuen. Ich will ja immer noch was bewegen!“ (Halva 2020: 14).

Aber was bewegt ihn? Der Blick auf sein knapp 60-jähriges Wirken zeigt, dass sein Handeln immer darauf zielt, Missstände aufzudecken und eine Veränderung zu erwirken, von der nicht erst kommende Generationen profitieren, sondern auch die, die hier und jetzt ausgebeutet werden. In der ZDF-Sendung aspekte erklärte Wallraff das einmal so: „Ich werde einer von ihnen. Das ist nicht allein ein journalistisches Prinzip, das ist auch eine Selbstfindung. Ich bin von Natur aus eher introvertiert. Es ist auch ein Bedürfnis, bei anderen Nicht-Dazugehörenden dazuzugehören. Es bleibt anschließend immer auch ein Teil [in der eigenen Identität] drin“ (aspekte 2021). In den Sechzigerjahren waren diese Nicht-Dazugehörenden vor allem die Arbeiter in den Zechen, an den Hochöfen und den Fließbändern der Fabriken im Ruhrgebiet, der Heimat von Günter Wallraff, der 1942 in Burscheid geboren wurde und im Köln der Nachkriegsjahre aufgewachsen ist.

Als Günter Wallraff 16 Jahre alt ist, stirbt sein Vater José, schwer erkrankt nach Jahren in der ‚Lackhölle‘, wie er den Arbeitsplatz des Vaters in der Lackiererei bei Ford bezeichnet. Günter Wallraff verlässt das Gymnasium nach der 10. Klasse und beginnt eine Buchhändlerlehre, die er 1962 abschließt. Kurz darauf heuert er in Fabriken als Hilfsarbeiter an, um am eigenen Leib zu erfahren, unter welch unwürdigen Bedingungen die Menschen – unter ihnen auch die ersten Gastarbeiter – schuften mussten. Seine Reportagen erscheinen 1965 in der Gewerkschaftszeitung Metall, 1966 veröffentlicht er sein erstes Buch Wir brauchen dich. Als Arbeiter in deutschen Industriebetrieben. Bis Ende der Sechzigerjahre schreibt er für Zeitungen und Zeitschriften, darunter Pardon und Konkret.

Er recherchiert in Unternehmen oder gibt sich als Obdachloser aus, um über die Zustände in den Unterkünften zu berichten. Aus diesen Erfahrungen entstehen Wallraffs 13 unerwünschte Reportagen, die 1969 erscheinen. Nachdem Wallraff in diesen Jahren bereits die Grundzüge seines eigenen → Recherche-Stils entwickelt hat, entscheidet er sich gegen ein Studium, auch eine → Redakteursausbildung lehnt er ab: „Im abstrakten Lernen war ich immer schlecht, ich musste die Dinge zu spüren kriegen. Meine Unis waren Fabrikhallen, Obdachlosenheime und sonstige randständige Institutionen der Gesellschaft“ (Halva 2020: 14). Fünf Jahrzehnte zuvor hatte Heinrich Böll im Vorwort zur schwedischen Übersetzung der 13 unerwünschten Reportagen über Wallraffs Stil geschrieben: „Er ist kein Reporter im überkommenen Sinn, der recherchiert, interviewt und dann seinen Bericht schreibt. Er ist kein Essayist, der sich informiert und dann abstrakt analysiert. […] Wallraff hat eine andere Methode gewählt, er dringt in die Situation, über die er schreiben möchte, ein, unterwirft sich ihr und teilt seine Erfahrungen und Ermittlungen in einer Sprache mit, die jede ‚Überhöhung‘ vermeidet“ (Wallraff 1971: 5-8).

Sein Drang, über versteckte und vertuschte Realitäten aufzuklären, veranlasst Wallraff in den Siebzigerjahren, sich hinter den Türen jener Konzerne und Fürstentümer umzusehen, deren Eignerfamilien einen großen Teil ihres Vermögens zur Zeit des nationalsozialistischen Deutschlands angehäuft hatten. Für das Buch Ihr da oben, wir da unten, das er 1973 mit Bernt Engelmann veröffentlicht, heuert er als Bote, Portier und Arbeiter an, um aus dem Inneren der ehrenwerten Häuser zu berichten. Das ist zu dieser Zeit nur noch möglich, indem Wallraff andere Identitäten annimmt, da in vielen Personalbüros bereits Steckbriefe kursieren, die vor dem → Investigativ-Reporter warnen. Wallraffs immer weiter perfektioniertes Rollenspiel ermöglicht es ihm, 1977 für ein Vierteljahr als → Redakteur bei der Bild in Hannover zu arbeiten.

Seine auf den dort gemachten Erfahrungen basierenden Bücher Der Aufmacher und Zeugen der Anklage gewähren damals Einblick in den Redaktionsalltag bei der Bild-Zeitung, die er als „Kampfblatt“ des Springer-Konzerns bezeichnet – „mit klarem politischen Auftrag, der alle Reste journalistischer → Ethik verschwinden ließ“ (Wallraff 1979). Und im Gespräch mit dem Deutschlandfunk 2012 nennt er die Bildzeitung einen „gemeingefährlichen Triebtäter“, der „jederzeit wieder zuschlagen“ könne. Wallraffs Bücher über die Bild werden außerdem zum Gegenstand jahrelanger juristischer Auseinandersetzungen mit dem Springer-Verlag, an deren Ende der Reporter in den entscheidenden Punkten Recht bekommen sollte. Zudem ging aus den Prozessen ein Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs hervor, das sich im → Medienrecht als ‚Lex Wallraff‘ etabliert hat und das besagt: „Wenn es um gravierende Missstände geht, hat die Öffentlichkeit das Recht, darüber informiert zu werden, auch wenn die Informationen verdeckt, das heißt, unter Vortäuschung einer anderen Identität erlangt worden sind.“ Dazu erklärte Georg Restle, der Leiter des ARD Polit-Magazins Monitor, 2019 anlässlich der Verleihung des Hans-Böckler-Preises an Wallraff: Aufgrund des ‚Lex Wallraff‘ sei es für Journalisten „wesentlich leichter, investigativen Journalismus zu betreiben, ohne stets den Atem des Staatsanwalts im Nacken zu fühlen. Oft schon haben Journalisten davon profitiert, dass da einer mal den Mut und die Ausdauer hatte, vor Gerichten durchzukämpfen, was damals eben nicht selbstverständlich war“ (Restle 2019).

Dass Günter Wallraff bis heute als Deutschlands bekanntester Investigativ-Journalist und → Rollenreporter gilt, daran hat der Erfolg seines 1985 veröffentlichten Buches Ganz unten wesentlichen Anteil. Mit fünf Millionen verkauften deutschsprachigen Exemplaren und in 38 Sprachen übersetzt ist es das meistverkaufte Sachbuch der deutschen Nachkriegsgeschichte. Biograf Gottschlich bezeichnet Wallraffs Maskerade als ‚Türke Ali‘ als „die Rolle seines Lebens“: Weil sie „Wallraffs Hang zum Außenseiter“ entsprach – und weil nach Erscheinen des Buches die gesamte Republik von einer regelrechten „Schock- und Schamwelle“ erfasst wurde (Gottschlich 2007: 10). Für Ganz unten identifiziert sich Wallraff mit der Rolle eines türkischen Einwanderers, als der er sich, wie er im Vorwort zum Buch schreibt, „ins Abseits“ begeben und für die Drecksarbeit bewerben konnte. In der Rolle des Ali Levent Sinirlioğlu wird Wallraff fast drei Jahre leben. Und er wird in dieser Zeit bei Thyssen, McDonald’s und als Bauarbeiter die noch immer unwürdigen Arbeitsbedingungen der Hilfsarbeiter offenlegen und den Rassismus, dem diese Menschen ausgeliefert sind, am eigenen Leibe erfahren. Um jene zu erreichen, deren Arbeits- und Lebensbedingungen er mit seinem Einsatz verbessern will, lässt Wallraff Ganz unten auch in türkischer Sprache auflegen und kostenlos in den Betrieben verteilen. Eine bis heute einzigartige Aktion, wie auch Mely Kiyak in ihrem Buch Frausein betont: „Jahrzehnte vorher und Jahrzehnte später gab es keine andere Erzählung, die diese Perspektive ergänzte. Für die Gastarbeiter und in den Gewerkschaften war Wallraff ein Held.“ Vor allem, weil Wallraffs Buch zu zwei Seiten sprach, wie Kiyak schreibt: „Zu denen, die die Arbeitsbedingungen der Gastarbeiter nicht kannten. Und zu denen, von denen es handelte“ (Kiyak 2020: 16f.).

Nach einem ähnlichen Prinzip handelt Wallraff 30 Jahre später, als er 2007 für die Aktion ‚Schwarz auf Weiß‘ erneut eine andere Identität annimmt, um sich dem alltäglichen Rassismus auszusetzen (Raap 2020). Obschon er sich im Zuge dieser Aktion den Vorwurf gefallen lassen musste, er habe sich schwarz angemalt, um rassistische Reaktionen zu provozieren (Dachsel 2021), stand auch diese Aktion für Wallraffs ganz eigene Art, ‚die Gesellschaft zu durchleuchten‘. Im Schwedischen und Norwegischen gibt es das Wort ‚wallraffa‘, was so viel bedeutet wie ‚etwas gesellschaftlich zu durchleuchten‘ – so wie der Name Röntgen in der Medizin für ‚den Körper durchleuchten‘ steht. Und während es Wallraff in den 1970er Jahren noch mit → Egon Erwin Kisch hält und überzeugt ist, man müsse „täuschen, um nicht getäuscht zu werden“ (Wallraff 1977), verteidigt er seine Aktion im Jahr 2007 mit dem Verweis darauf, die Ressentiments hätten anders nicht aufgespürt werden können.

Aber auch wenn Ganz unten bis heute sein wirkmächtigstes Buch ist, so war für seine persönliche Entwicklung eine andere Aktion entscheidender: „Meine wichtigste Aktion, die mich nachhaltig geprägt und auch von einigem Oberflächlichen befreit hat, das war die Griechenland-Aktion“ (Halva 2020). Denn diese Aktion, für die er sich im Mai 1974 auf dem Syntagma-Platz in Athen an eine Laterne kettete und mit Flugblättern für freie Wahlen und die Entlassung sämtlicher politischer Gefangener protestierte, sei weder Rollenreportage noch Undercover-Journalismus gewesen: „Sie war eine Menschenrechts-Initiative“ (Halva 2020). Es dauerte nur wenige Minuten, bis Wallraff von der Geheimpolizei verhaftet und in Verhören schwer misshandelt wurde. 77 Tage war Wallraff in Griechenland im Gefängnis – es hätten leicht zwei Jahre werden können, wenn die Obristen im Juli 1974 nicht mit ihrem Putsch auf Zypern gescheitert wären, woraufhin die Junta abtreten musste.

Was seine Vorbilder betrifft, schreibt Günter Wallraff 1977 in der Zeit, dass er diese erst kennengelernt habe, nachdem er mit ihnen verglichen worden sei. Neben → Kisch findet sich Wallraff auch in den Arbeiten von Nellie Bly, Upton Sinclair und George Orwell wieder.

In der Zeit formuliert er zudem einen Satz, der zentral für seine Arbeit ist: „Wenn ich mich zum Sprachrohr der Sprachlosen machen will, die wenig zu sagen haben, obwohl sie viel zu sagen hätten, so bedeutet das für mich, dass ich wenigstens zeitweilig einer von ihnen werden muss“ (Wallraff 1977: 43).

So macht es Wallraff bis heute. Und bis heute gilt für ihn: „Es darf nicht darum gehen, Personen vorzuführen, sondern Strukturen aufzuzeigen.“

Literatur:

Quellen:

Wallraff, Günter: Wir brauchen Dich. Als Arbeiter in deutschen Industriebetrieben. München [Rütten und Loenig] 1966.

Wallraff, Günter: 13 unerwünschte Reportagen. Köln [Kiepenheuer & Witsch] 1969.

Wallraff, Günter: 13 icke önskvärda reportage. (Med forörd av Heinrich Böll). Stockholm [PAN/Norstedt] 1971.

Wallraff, Günter: Kisch und ich heute. In: Die Zeit, 11.11.1977, S. 43

Wallraff, Günter: Aus der schönen neuen Welt. Köln [Kiepenheuer & Witsch] 2009.

Wallraff, Günter: Zeugen der Anklage. Die Bild-Beschreibung wird fortgesetzt. Köln [Kiepenheuer & Witsch] 1979. (Hinweis: Das Buch hat keine Seitenzahlen, die verwendeten Zitate finden sich im Kapitel „Der BILD-Konzern“)

Darstellungen:

Aspekte, Interview Wallraff: https://www.zdf.de/kultur/aspekte/katty-salie-osman-okkan-guenter-wallraff-102.html [17.12.2021]

Dachsel, Felix: Hier diskutiert eine Reporter-Legende mit einem jungen Autor über Scheißjobs. Interview für Vice Deutschland, 25.9.2021, https://www.vice.com/de/article/y3d85j/hier-diskutiert-eine-reporter-legende-mit-einen-jungen-autor-uber-scheissjobs [23.2.2022]

Deutschlandfunk, Interview Wallraff: https://www.deutschlandfunk.de/die-bild-zeitung-als-gemeingefaehrlicher-triebtaeter-100.html [22.3.2022]

Gottschlich, Jürgen: Der Mann, der Günter Wallraff ist. Köln [Kiepenheuer & Witsch] 2007.

Gröhler, Harald: Dichter, Dichter! So begegneten sie mir. Würzburg [Königshausen & Neumann] 2019.

Halva, Boris: Das Unerwünschte tun und lästig bleiben. In: Frankfurter Rundschau, 05.09.2020, S. 14.

Kiyak, Mely: Frausein. München [Carl Hanser Verlag] 2020.

Raap, Jürgen: Die Ambivalenz der Maske – Rollentausch, in: Kunstforum International, 266, 2020, S. 192ff.

Restle, Georg: Laudatio anlässlich der Verleihung des Hans-Böckler-Preises an Günter Wallraff in Köln, 30.04.2019. DGB Nordrhein-Westfalen Region Köln-Bonn, 03.05.2019. https://koeln-bonn.dgb.de/themen/++co++fdc08226-6d95-11e9-b559-52540088cada [17.12.2021]

Schellong-Lammel, Bettina: Reporter-Legende Wallraff über sein Undercover-Leben. In: Nitro-Magazin, 3, 2020, S. 10-17.

Vorheriger ArtikelPressekodex
Nächster ArtikelUnparteilichkeit
* 1976, hat Politik, Romanistik und Philosophie in Heidelberg und Frankfurt studiert. Parallel zum Studium hat er als freier Autor für regionale und überregionale Zeitungen und Zeitschriften geschrieben. Seit 2017 ist er wieder Redakteur der Frankfurter Rundschau, für die er bereits von 2005 bis 2011 gearbeitet hat; 2019 ist sein Buch ‚Mannsbilder – Auf der Suche nach der neuen Männlichkeit‘ erschienen. Er lehrt an der Hochschule Darmstadt im Studiengang Onlinejournalismus. Foto: Christoph Boeckheler