Egon Erwin Kisch

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Melbourne 1934
Melbourne 1934

Egon Erwin Kisch – aus einer deutschsprachigen Kaufmannsfamilie stammend – wurde am 29. April 1885 in Prag geboren. Er machte sein Abitur am deutschen Gymnasium in Prag, studierte dort an der deutschen Universität und absolvierte ein ‚Einjährig-Freiwilligen‘-Jahr in der österreichisch-ungarischen Armee. Anschließend daran war Kisch → Volontär beim Prager Tagblatt, 1905/06 besuchte er eine Berliner → Journalistenschule und arbeitete als Lokalreporter bei der Bohemia, einer Prager deutsch-liberalen Tageszeitung. 1912 erschien Aus Prager Gassen und Nächten, sein Buch mit gesammelten Lokalreportagen. Kisch war bereits ein bekannter Journalist, als er 1913 den Spionagefall um den Offizier Alfred Redl aufdeckte, der als k. und k. Oberst des Generalstabs für feindliche Geheimdienste, vor allem für den russischen, arbeitete. Trotz des Versuchs von offizieller Seite, die Spionageaffäre zu vertuschen, erschien der Text in der Bohemia.

Schreib das auf, Kisch! – was klingt wie die Ansage an einen investigativen Journalisten, ist der Titel seines veröffentlichten Kriegstagebuchs, zu dem ihn andere Soldaten motivierten: Als Freiwilliger war Kisch zunächst in Serbien, dann in den Karpaten und kam 1917 als Oberleutnant ins Kriegspressequartier nach Wien. Unter dem Eindruck der russischen Oktoberrevolution im selben Jahr wurde der illegale Arbeiter- und Soldatenrat gegründet, dem Kisch als führendes Mitglied angehörte. Kurz war er 1918 der erste Kommandant der Roten Garde. Im Mai 1919 musste Kisch aufgrund seiner Positionen und Tätigkeiten als Mitbegründer der Föderation Revolutionärer Sozialisten ‚Internationale‘ und Leiter der Beilage Die Rote Garde der Wochenschrift Der Freie Arbeiter Wien verlassen.

Zunächst ging er nach Prag, wurde Mitglied der Kommunistischen Partei Deutsch-Österreichs und übersiedelte 1921 nach Berlin. Hier lebte Kisch als freier Journalist und Dramaturg. Er publizierte über politische Weltanschauungen hinweg für unterschiedliche Zeitungen und Zeitschriften wie den Berliner Börsen Kurier und die Weltbühne. In der Zeit von 1922 bis 1932 war Kisch als Reporter in Europa, Nordafrika, der Sowjetunion, in den USA und in Asien unterwegs, teilweise mit gefälschten Visa. 1923 gab er die Anthologie Klassischer Journalismus heraus, für die er Meisterwerke von der Antike bis zur Gegenwart gesammelt hatte, und er befasste sich ausgehend von der ‚Neuen Sachlichkeit‘ mit der Rolle, die Journalismus in der Gesellschaft einnehmen sollte. Nach dem Reichstagsbrand in Berlin 1933 wurde Kisch zunächst verhaftet und dann nach Prag abgeschoben. Dort und in Paris lebte er von 1933 bis 1939.

International für Aufsehen sorgte Kisch 1934, als ihm aufgrund seiner kommunistisch-sozialistischen Gesinnung als Delegierter des Pariser Weltkomitees für den Weltkongress gegen Krieg und Faschismus in Melbourne die Einreise nach Australien verweigert wurde. Er sprang ganz einfach von Bord, verletzte sich schwer und schrieb darüber in Landung in Australien. 1935 kehrte er nach Paris zurück und veröffentlichte 1937 das Buch Landung in Australien. Ein Jahr später erschienen seine journalistischen Arbeiten über den spanischen Bürgerkrieg. 1939 arbeitete er an einem Buch über Die Geschichte des Postmeisters Jean-Baptiste Drouet, einen Jakobiner, der die Flucht des französischen Königs Ludwig XVI verhinderte. Dieses Manuskript ist allerdings verloren gegangen.

Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs emigrierte Kisch zuerst in die USA und da er in New York unerwünscht war, bekam er ein Durchreisevisum für Mexiko, dort war er eine zentrale Persönlichkeit für die deutschsprachigen Emigrant*innen. Er schrieb für die Exilzeitschrift El Libro Libre und verfasste auch seine teils fiktive Autobiographie Marktplatz der Sensationen (1942). Nach dem Krieg kehrte Egon Erwin Kisch 1946 nach Prag zurück. Hier wurde er zum Stadtrat gewählt und arbeitete weiterhin journalistisch. Nach zwei Schlaganfällen starb Kisch am 31. März 1948 in Prag.

Journalistisches Wirken und politisches Engagement:
Erhard Schütz resümiert über Egon Erwin Kisch als Persönlichkeit und Journalisten:
„Überblickt man Kischs Leben soweit rekonstruierbar, dann gilt wohl am ehesten, daß er Kommunist wurde, weil er den Imperialismus erfuhr, daß er danach Kommunist blieb, weil er Antifaschist war – daß er seinen Lebensunterhalt aber nicht damit bestritt Kommunist zu sein, sondern: Reporter“ (Schütz 1980: 40, zit. nach Haas 1999: 259).
Dieses Zitat bringt das Wirken von Egon Erwin Kisch auf den Punkt: sein politisches Engagement, das Aufgreifen von sozialen Themen und die Kritik an den bestehenden sozialen Verhältnissen sind für Kischs Verständnis von Journalismus zentral.

Durch die Veröffentlichung der Sammlung Der rasende Reporter als Buch „wurde die Reportage endgültig zur wichtigsten journalistischen Genreform“ (Haas 1999: 214). Und durch die Herausgabe von Klassischer Journalismus hat Kisch die Reportageform auch in einen historischen Kontext eingebettet. Kisch befasste sich intensiv mit dem journalistischen Selbstverständnis, denn sowohl in Das Wesen des Reporters (1918) als auch im Dogma der Unfehlbarkeit der Presse (1918) ging es ihm immer darum, wie Journalist*innen agieren sollen.

Haas hat – ausgehend von Siegel (1973) – die verschiedenen Phasen von Kischs Verständnis von ‚Reportage‘ so zusammengefasst: Die erste bezieht sich auf die Tendenzlosigkeit der Berichterstattung (1918-1925); die zweite auf seine Position als kommunistischer Reporter (1926-1933) und die dritte (1933-1947) auf „die Enttäuschung über die geringe Wirkung im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller“ (Haas 1999: 257), was wiederum dazu führte, dass Kisch zum Reportagebegriff aus der ersten Phase zurückkehrte. So war Kisch einer der Ersten, der als Journalist die grundsätzliche Beschäftigung mit dem eigenen Metier vorantrieb, und dabei stand die Beziehung der Journalist*innen zur Wirklichkeit im Mittelpunkt (vgl. Langenbucher 1992: 13).

Im Vorwort zum ‚rasenden Reporter‘ (1924) formulierte Kisch – auch aus seinen Erfahrungen heraus – programmatische Sätze zur Rolle der Reporter*innen:
„Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist phantasievoller als die Sachlichkeit. Und nichts Sensationelleres gibt es in der Welt als die Zeit, in der man lebt“ (Kisch [1924] 1978: 659f).

Es scheint paradox – auch darauf weist Haas (1999: 257) hin – dass Kisch als ‚rasender‘ Reporter seine herausgegebenen Reportagen zehn Jahre später überarbeitet und damit auch versucht hat, den Reportagen einen zeitlosen und über den Augenblick des Entstehens hinausgehenden Charakter zu verleihen.

In seinen späteren Arbeiten entwickelte sich Kisch mehr zum Schriftsteller, indem er sich um die Vernetzung von Wahrheit und Dichtung bemühte, und Haas zeigte deutlich, wie Kisch seine Arbeiten sowohl stilistisch als auch inhaltlich in eine gute Form zu bringen versuchte (vgl. Haas 1999: 259).

In Wesen des Reporters (1918) beschrieb Kisch seine Verfahrensweisen so, dass es um Berichte „aus dem Leben“ (Kisch [1918] 1983, 205 f.) gehe, aber auch darum, dass mit Hilfe von Übertreibungen „unverläßliche Nachrichten“ (Kisch [1918], 1983, 205 f.) gebracht werden, um auf soziale Missstände aufmerksam zu machen. „,Logische‘ Phantasie“ (Ebd., 206) wird mit Tatsachen verbunden, sodass Kischs Reportagen als literarische Reportagen bezeichnet werden können.

Das Vorgehen von Kisch kann auch an einer Reportage von 1919, die in der Wiener Tageszeitung Der Neue Tag erschienen ist, verdeutlicht werden. In Wie der Einbrecher Breitwieser erschossen wurde berichtete er über die Jagd auf den Einbrecher Johann Breitwieser. Die Reportage besteht aus vier Teilen und Kisch hält die „Metapher von Jägern und vom Wild konsequent durch“ (Langenbucher 1992: 156).

Die Reportage beginnt mit dem Satz:

„Die Verfolger haben Angst vor dem Verfolgten. Dabei kann es sein, daß die fünfeinhalb Leute, die mit der Bahn zur Jagd hinausfahren, zu spät kommen, erst zum Halali“ (Kisch [1919] 1972: 155).

Bereits hier wird eine Dynamik des Berichtens erzeugt, die sich durch die gesamte Reportage zieht, in dem Kisch auch das soziale Milieu, das für ihn auch dafür verantwortlich ist, dass Breitwieser zum Verbrecher wurde, sehr eindringlich charakterisiert. Kisch beschreibt die Polizisten:

„Sie lassen es sich nicht anmerken, daß sie Jagdfieber haben, Angst vor dem Wild. Aber man erkennt ihre Angst daran, daß sie sich nichts anmerken lassen wollen. Die Virginia in ihrem Munde verlöscht nicht …“ (Kisch [1919] 1972: 156).

Und er beobachtet sehr genau und beschreibt sehr detailliert, wie Breitwieser gestellt und von der Polizei erschossen wird:

„Ein Mann der Tat, des Mutes, des Ernstes und der Intelligenz – schade, schade, daß er ein Gewerbe gewählt hatte, das schwierig und gefährlich ist und letzten Endes nichts einbringt als den Tod von der Hand der Verfolger, die den Verfolgten fürchteten!“ (Kisch [1919] 1972: 161).

Egon Erwin Kisch hat in seinem Spätwerk zwar ‚Wahrheit‘ als journalistisches Postulat weiterverfolgt, aber – wie Schütz zit. n. Haas schreibt – ist es eine „poetische Wahrheit in der prosaischen Form von Reportage“ (Haas 1999: 259).

So hat sich Egon Erwin Kisch als rasender Reporter selbst inszeniert, dies zeigen nicht zuletzt die Fotos von ihm, hat aber als Journalist wichtige Grundlagen für die folgenden Auseinandersetzungen mit dem Journalismus an sich geschaffen.

Auch wenn es Egon Erwin Kisch mit den Fakten in seinen Reportagen nicht immer so genau genommen hat, wurde nach ihm ein wichtiger Preis für Journalist*innen benannt: Der deutsche Verleger und Gründer der Zeitschrift stern, Henri Nannen, stiftete 1977 den Egon-Erwin-Kisch-Preis für Reportagen in deutschsprachigen (vor allem) Printmedien, der bis 2004 vergeben wurde. Danach wurde der renommierte Journalist*innen-Preis in den Henri-Nannen-Preis integriert.

Literatur:

Kisch, Egon Erwin: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Band I. Der Mädchenhirt – Schreib das auf, Kisch! Berlin [Aufbau Verlag] [1922] 1960.

Kisch, Egon Erwin: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Band II. Aus Prager Gassen und Nächten. Berlin [Aufbau Verlag] [1912] 1968.

Kisch, Egon Erwin: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Band IV. Paradies Amerika – Landung in Australien. Berlin [Aufbau Verlag] [1937] 1962.

Kisch, Egon Erwin: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Band V. Der rasende Reporter. Berlin [Aufbau Verlag] [1924] 1972.

Kisch, Egon Erwin: Wie der Einbrecher Breitwieser erschossen wurde. In: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Band V. Der rasende Reporter. Berlin [Aufbau Verlag] [1919; 1924] 1972, S. 155–161.

Kisch, Egon Erwin: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Band VII. Marktplatz der Sensationen – Entdeckungen in Mexiko. Berlin [Aufbau Verlag] [1947] 1974.

Kisch, Egon Erwin: Das Wesen des Reporters. In: Bohemia. Nr. 49 v. 19.02.1918, S. 3–4.

Kisch, Egon Erwin: Dogma von der Unfehlbarkeit der Presse. In: Die Wage v. 25.05.1918, S. 327–333.

Kisch, Egon Erwin (Hrsg): Klassischer Journalismus. Die Meisterwerke der Zeitung. Berlin [Kaemmerer Verlag] 1923.

Haas, Hannes: Empirischer Journalismus. Verfahren zur Erkundung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Wien/Köln/Weimar [Böhlau Verlag] 1999.

Langenbucher, Wolfgang R. (Hrsg.): Sensationen des Alltags. Meisterwerke des österreichischen Journalismus. Wien [Ueberreuter Verlag] 1992.

Schütz, Erhard: Moral aus der Geschichte. Zur Wahrheit des Egon Erwin Kisch. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): text + kritik Nr. 67: Egon Erwin Kisch, Juli 1980, S. 38–47.

Siegel, Christian Ernst: Egon Erwin Kisch. Reportage und Journalismus. Bremen [Schünemann] 1973.

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Petra Herczeg
PD Mag. Dr., ist seit 2010 Senior Lecturer am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien. Zu ihren Schwerpunkten in der Forschung gehören Migration und Medien, Journalismusforschung sowie Interkulturelle Kommunikation. Zudem arbeitet sie als freie Autorin beim Österreichischen Rundfunk und ist Chefredakteurin der Fachzeitschrift Medien Journal. Kontakt: petra.herczeg (at) univie.ac.at