Systemtheorie

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Systemtheorie: Wie der Journalismus sich selbst balanciert zwischen funktionaler Autonomie und struktureller Abhängigkeit

Geschichte:
Systemisches Denken ist nicht erst in der Neuzeit entstanden, sondern wurde bereits in der Antike entwickelt. Insbesondere das berühmte (verkürzte) → Zitat von Aristoteles, wonach das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist, beschreibt die ganzheitliche Denkweise. Diese ist kennzeichnend für systemische Ansätze, die in großen Philosophien des 19. Jahrhunderts entwickelt wurden, insbesondere von Hegel und Marx. Als Systemtheorie im engeren Sinn bezeichnet man jedoch erst die soziologischen Entwürfe von Talcott Parsons und von Niklas Luhmann. Gerade Letztgenannter hat auch große Resonanz in der Kommunikationswissenschaft und insbesondere in der Journalistik/Journalismusforschung erfahren. Es ist deshalb hilfreich, von seiner Theorie sozialer Systeme ausgehend, die wichtigsten Merkmale der Systemtheorie zu erläutern, auch wenn es sehr viele zum Teil grundverschiedene Systemtheorien gibt, zum Beispiel die Allgemeine Systemtheorie, die auf den Biologen Ludwig von Bertalanffy zurückgeht, die von Norbert Wiener und W. Ross Ashby ausgearbeitete Kybernetik sowie viele weitere – meist in den Naturwissenschaften entwickelte – Varianten und deren Weiterentwicklungen (Ropohl 2012).

Definition:
Nach Luhmann (1984: 22-24) hat die Systemtheorie drei Stadien durchlaufen: Die oben genannte antike Grundlage geht zunächst davon aus, dass Systeme aus Elementen und deren Beziehungen zueinander bestehen (Prinzip der Ganzheitlichkeit). Um die Identität eines Systems bestimmen zu können, bedarf es der Abgrenzung des Systems von der Umwelt (Prinzip der Differenzierung). Diese Abgrenzung des Systems vollzieht sich jedoch nicht automatisch, sondern ist eine Leistung des Systems selbst (Selbstbezüglichkeit).

Forschungsstand:
Für die Journalismusforschung sind folgende Fragestellungen typisch: Ist Journalismus ein (gesellschaftliches) System? Wie kann es identifiziert werden? Was ist die Qualität bzw. das Spezielle, Eigenständige des journalistischen Systems? Wie ist das Verhältnis zwischen seiner Eigenständigkeit (Autonomie) und den Umwelteinflüssen auf den Journalismus? Welche Funktion erfüllt der Journalismus für die Gesellschaft? Welche Strukturen und Organisationen kennzeichnen den Journalismus? Welche Rolle spielen die Journalist:innen im Journalismus?

Wenn man die Anwendung von Luhmanns Theorie sozialer Systeme auf den Journalismus chronologisch betrachtet, spielen zunächst die beiden letzten Fragen eine große Rolle. Manfred Rühl hat Luhmanns Ansatz bereits in einer frühen Phase für die Journalismusforschung genutzt. In seiner Dissertation Die Zeitungsredaktion als organisiertes soziales System (1969) hat er sich dafür stark gemacht, Journalismus nicht von den Individuen her zu analysieren, also nicht von den einzelnen Journalist:innen und deren Tätigkeiten oder Handlungen auszugehen, sondern von der Organisation der Redaktion. In seiner Habilitationsschrift Journalismus und Gesellschaft (1980) setzt er dann noch eine Ebene höher an und bezieht den Journalismus auf die Gesellschaft, also auf das soziale Makrosystem. Auch Siegfried Weischenberg hat sich in seiner Dissertation Die Außenseiter der Redaktion. Struktur, Funktion und Bedingungen des Sportjournalismus frühzeitig mit der Funktion des Journalismus (am Beispiel des → Sportjournalismus) für die Gesellschaft beschäftigt. Später hat Weischenberg (1994) sein systemtheoretisches Kontextmodell (‚Zwiebelmodell‘) zur Beschreibung der internen und externen Einflussfaktoren auf den Journalismus entwickelt.

Der eigentliche Boom der systemtheoretisch inspirierten Journalismusforschung setzte in den 1990er Jahren ein, als verschiedene theoretische Entwürfe und empirische Studien vorgelegt wurden: Hier sind die Dissertationen von Bernd Blöbaum zur Evolution des Journalismus (1994), Matthias Kohring (1997) zum → Wissenschaftsjournalismus und Alexander Görke (1999) zum Risikojournalismus zu nennen. In allen Publikationen geht es um die Funktion des Journalismus für die Gesellschaft, → Öffentlichkeit herzustellen.

Bernd Blöbaum beschreibt die Entwicklung des Journalismus, seine Ausdifferenzierung und strukturelle Binnendifferenzierung (Organisationen, Programme, Handlungsrollen), die ihn zu einem komplexen gesellschaftlichen System werden lassen, das die Gesellschaft informiert. Später hat Thomas Birkner (2012) diesen historischen Faden aufgenommen und historisch-empirisch die Entwicklung der Struktur und der politischen und ökonomischen Abhängigkeiten in verschiedenen Epochen des Journalismus erforscht.

Wenn Journalismus autonom eine gesellschaftliche Funktion erfüllt, kann er nicht von außen normativ gesteuert werden. Die Forderung, Journalismus müsse wissenschaftliche Ergebnisse in allgemein verständlicher Form korrekt und exakt wiedergeben, also einfach Wissenschaft popularisieren, unterschlägt dessen Autonomie, wonach die Selektionsentscheidungen des Journalismus an der Gesellschaft ausgerichtet sind und nicht an dem System, über das er berichtet (hier: Wissenschaft). Nach Kohring (1997) ist die journalistische Berichterstattung an der Mehrsystemzugehörigkeit von Ereignissen ausgerichtet. Ein Ereignis ist umso mehr journalistisch berichtenswert, als es für verschiedene Systeme Relevanz hat oder in ihnen Resonanz erzeugt. Die Berichterstattung über die Corona-Pandemie ist ein gutes Beispiel dafür: Die Pandemie ist zunächst medizinisch relevant, hat aber auch wirtschaftliche Folgen, die politisch gesteuert und juristisch reguliert werden müssen, betrifft die Erziehung und Ausbildung und verändert das kulturelle Leben in der Gesellschaft. Görke hat das Kriterium auf → Aktualität ausgeweitet, um den zeitlichen Aspekt zu verdeutlichen. Journalismus synchronisiert das Geschehen der gesellschaftlichen Systeme, indem er es öffentlich sichtbar macht. Ordnet man Journalismus in das übergeordnete System der Öffentlichkeit ein, wird auch deutlich, dass es andere Systeme gibt, die Öffentlichkeit herstellen, dies aber mit anderen Funktionen: Public Relations, Werbung, Unterhaltung. Nicht erst durch das Internet, aber durch dieses verstärkt, wird auch von Laien Öffentlichkeit hergestellt. Die Funktionserfüllung der Öffentlichkeit oder des Journalismus für die Gesellschaft ist nicht an spezifische Strukturen gebunden: Der Strukturwandel von Öffentlichkeit und von Journalismus sind Indizien für die gesellschaftliche Dynamik, die von der Systemtheorie beobachtet werden.

Auch empirische Studien sind systemtheoretisch vorgegangen. Die beiden Repräsentativbefragungen Journalismus in Deutschland (1992/93 und 2004/2005) erforschten die Struktur des Journalismus, grenzten ihn von benachbarten Phänomenen ab (insbesondere von Public Relations) und identifizierten über die individuellen Rollenverständnisse der Journalist:innen funktionale Berichterstattungsmuster des Informationsjournalismus, → Investigativjournalismus, Ratgeberjournalismus usw. (Scholl/Weischenberg 1998; Weischenberg/Malik/Scholl 2006).

In einer Inhaltsanalyse ermittelten Claudia Schweda und Rainer Opherden (1995), wie journalistische → Redaktionen mit (politischen) PR-Erzeugnissen (Pressemitteilungen) umgehen. Sie konnten nachweisen, dass die politische Public Relations einer Landesregierung die politische Berichterstattung nicht determinieren kann, sondern dass der politische Journalismus bei aller Abhängigkeit von den PR-Quellen aus der Politik diese eigenständig nach eigenen Relevanzkriterien auswählt und für die Berichterstattung aufbereitet und durch Hintergrundberichterstattung ergänzt.

Maja Malik (2004) hat in ihrer Dissertation über Journalismusjournalismus untersucht, wie sich der Journalismus selbst thematisiert und dabei die Paradoxie der Selbstbeobachtung herausgearbeitet: Wenn Journalismus über Ereignisse aus dem Journalismus berichtet (z. B. über Fälschungen), oszilliert er zwischen Außenperspektive und Innenperspektive: Einerseits behandelt er das journalistische Ereignis wie Ereignisse aus anderen Systemen (Politik, Wirtschaft, Justiz usw.), also ereignisorientiert, aktualitätsfixiert und auf publizistische Reichweite und → Relevanz bedacht; andererseits berichtet er über sich selbst, wie das ansonsten typisch für Public Relations ist. Wenn der Spiegel über einen Fälscher aus dem eigenen Haus berichtet (Claas Relotius), vollzieht er eine Gratwanderung zwischen der Aufdeckung eines Skandals (kritische Berichterstattung) und Legitimation der eigenen Redaktion (PR-Selbstdarstellung).

Gegenwärtiger Zustand:
In den letzten Jahren ist es in der Journalismusforschung stiller geworden um die Systemtheorie. Sie findet allerdings neue Anwendungen, etwa auf die digitale Gesellschaft (Nassehi 2021), und ist nach wie vor in der Journalismusforschung präsent (mehrere Beiträge in Löffelholz/Rothenberger 2022). Mit zeitlicher Verzögerung findet sie auch international Resonanz (Malik/Scholl 2020).

Im Kontext von → Fake News und Desinformation gewinnt die Differenzlogik der Systemtheorie (hier: Unterscheidung zwischen tatsachenorientiertem Journalismus und desinformierender Propaganda) wieder an Bedeutung. Damit kommt auch eine gesellschaftskritische Komponente in die Systemtheorie. Die Frage der journalistischen Autonomie in der demokratischen Gesellschaft ist sowieso theorieübergreifend relevant.

Literatur:

Birkner, Thomas: Das Selbstgespräch der Zeit. Die Geschichte des Journalismus in Deutschland 1605-1914. Wiesbaden [VS Verlag für Sozialwissenschaften] 2012.

Blöbaum, Bernd: Journalismus als soziales System. Geschichte, Ausdifferenzierung und Verselbständigung. Opladen [Westdeutscher Verlag] 1994.

Görke, Alexander: Risikojournalismus und Risikogesellschaft. Sondierung und Theorieentwurf. Opladen/Wiesbaden [Westdeutscher Verlag] 1999.

Kohring, Matthias: Die Funktion des Wissenschaftsjournalismus. Ein systemtheoretischer Entwurf. Opladen [Westdeutscher Verlag] 1997.

Löffelholz, Martin; Liane Rothenberger (Hrsg.): Handbuch Journalismustheorien. Wiesbaden [Springer VS] 2022.

Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/Main [Suhrkamp] 1984.

Malik, Maja: Journalismusjournalismus. Funktion, Strukturen und Strategien der journalistischen Selbstthematisierung. Wiesbaden [Verlag für Sozialwissenschaften] 2004.

Malik, Maja; Armin Scholl: Systems Theory and Journalism. In: Henrik Örnebring (Hrsg.): The Oxford Encyclopedia of Journalism Studies. Oxford. [Oxford University Press] 2020.

Nassehi, Armin: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. München [Beck] 2021.

Ropohl, Günter: Allgemeine Systemtheorie. Einführung in transdisziplinäres Denken. Berlin [edition sigma] 2012.

Rühl, Manfred: Die Zeitungsredaktion als organisiertes soziales System. Bielefeld [Bertelsmann-Universitäts-Verlag] 1969.

Rühl, Manfred: Journalismus der Gesellschaft. Bestandsaufnahme und Theorieentwurf. Mainz [v. Hase & Koehler] 1980.

Scholl, Armin; Siegfried Weischenberg: Journalismus in der Gesellschaft. Theorie, Methodologie und Empirie. Opladen/Wiesbaden [Westdeutscher Verlag] 1998.

Schweda, Claudia; Rainer Opherden: Journalismus und Public Relations. Grenzbeziehungen im System lokaler politischer Kommunikation. Wiesbaden [Deutscher Universitäts-Verlag] 1995.

Weischenberg, Siegfried: Die Außenseiter der Redaktion. Struktur, Funktion und Bedingungen des Sportjournalismus. Theorie und Analyse im Rahmen eines allgemeinen Konzepts komplexer Kommunikatorforschung. Bochum [Studienverlag Brockmeyer] 1976.

Weischenberg, Siegfried: Journalismus als soziales System. In: Klaus Merten; Siegfried J. Schmidt; Siegfried Weischenberg (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Opladen [Westdeutscher Verlag] 1994, S. 427-454.

Weischenberg, Siegfried; Maja Malik; Armin Scholl: Die Souffleure der Mediengesellschaft. Report über die Journalisten in Deutschland. Konstanz [UVK] 2006.

 

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Armin Scholl
* 1962, apl. Prof. Dr., ist seit 1998 Akademischer Oberrat und dann außerplanmäßiger Professor am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Münster. Er studierte Publizistik, Politikwissenschaft, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Germanistik in Mainz und Münster. Nach der Promotion war er wissenschaftlicher Mitarbeiter der Studie "Journalismus in Deutschland" (Leiter: Siegfried Weischenberg) und danach wissenschaftlicher Assistent an der FU Berlin (bei Hans-Jürgen Weiß). Forschungs-/Arbeitsschwerpunkte: Theorien, Methoden, Journalismusforschung, Alternativmedien und Gegenöffentlichkeit.