Jürgen Leinemann – scharfer Beobachter und sensibler Porträtist der Politik
Geboren am 10. 5. 1937 in Celle, gestorben am 9. 11. 2013 in Berlin.
Politiker im Reporterpulk – das ist ein Bild, das heute fast täglich in den Fernsehnachrichten auftaucht. Die zunehmende Medienkonkurrenz befeuert die Selbstinszenierung der Akteure. Im Bundestagswahlkampf 1994 beobachtet der Reporter Jürgen Leinemann, wie der SPD-Kandidat Rudolf Scharping lässig an der Reling des Bodenseeschiffes ‚Austria‘ lehnt und per Funktelefon dem Moderator eines → Lokalsenders ein → Interview gibt. „Dabei wird er gefilmt von einem TV-Team, was wiederum von → Fotografen festgehalten wird, worüber sich die mitreisenden Wort-Reporter Notizen machen“ (Leinemann 1995:130).
Jürgen Leinemann war ein genauer Beobachter des Politikbetriebs abseits solcher Inszenierungen. Seine biografischen Wegmarken in Kurzform: Geboren am 10. Mai 1937 als Sohn eines Sparkassenangestellten, aufgewachsen in der niedersächsischen Kleinstadt Burgdorf, nach dem Abitur Studium geisteswissenschaftlicher Fächer in Marburg und Göttingen (Geschichte, Germanistik, Philosophie). Dann ein Leben als → Journalist: → Volontär, später → Redakteur der Deutschen Presse-Agentur in Berlin und Hamburg, anschließend → Korrespondent in Washington. Dort 1970 Wechsel zum Spiegel, für den er dann mehr als drei Jahrzehnte berichtet. Seit Mitte der 1970er Jahre Redakteur im Bonner Büro des Nachrichtenmagazins, nach dem Fall der Mauer Mitglied der Berliner Redaktion.
Die Aufzählung dieser Stationen spricht für eine solide Berufskarriere.
Sie sagt allerdings nichts aus über die Höhen und Tiefen seines Lebens, mit denen sich Leinemann später immer wieder reflektierend auseinandergesetzt hat. Versagensängste, Rivalitäts- und Erfolgsdruck trieben ihn, der schon früh mit depressiven Stimmungen zu kämpfen hatte, in den Alkoholismus und führten schließlich im August 1974 zum physischen und psychischen Zusammenbruch. Die Therapie in einer psychosomatischen Klinik brachte die Wende. Ein Einschnitt, den Jürgen Leinemann selbst als Beginn eines neuen Lebens bezeichnet hat. Seit September 1976 kein Tropfen Alkohol mehr – auch dank der Unterstützung von Schicksalsgenossen aus der Selbsthilfegruppe.
Die Be- und Verarbeitung dieses Lebensbruchs ist für das Verständnis der späteren Arbeit des brillanten Reporters entscheidend. Profiliert hat sich Leinemann insbesondere durch seine sensiblen Personenporträts. Vor allem den sogenannten Spitzenpolitikern galt seine professionelle Aufmerksamkeit. Willy Brandt, Joschka Fischer, Hans-Dietrich Genscher, Helmut Kohl, Oskar Lafontaine, Johannes Rau, Wolfgang Schäuble, Wolfgang Thierse, Hans-Jochen Vogel, Herbert Wehner und Richard von Weizsäcker – sie alle und viele andere hat er jahrelang beobachtet.
Was sind die wichtigsten Merkmale des journalistischen → Porträts? Jürgen Leinemann antwortet auf diese Frage: „Ich will mir kein Bildnis machen, sondern es reizt mich – bei Politikern und anderen Figuren des öffentlichen Lebens – Antworten zu finden auf die klassische amerikanische Reporterfrage: ‚What makes him tick?‘ Um eine Ahnung zu kriegen von der Wahrheit, die hinter der äußeren Wirklichkeit einer Person steckt, versuche ich ihre Motive zu verstehen. Ich bemühe mich, ihre Ausstrahlung zu erfassen und die geistigen und lebensgeschichtlichen Prägungen zu erkunden. Für mich ist es wichtig, jede Person im Kontext ihrer Herkunft und ihrer Umgebung zu erleben und zu beschreiben“ (1995: 9).
Biografien mit Brüchen
Das Private und das Politische zu verbinden, war sein Ziel. Aufgrund seiner eigenen Lebenserfahrung haben ihn vor allem solche Protagonisten interessiert, deren Biografien markante Brüche aufwiesen. Was steckt hinter den Fassaden? Wie unterscheiden sich Image und Identität? Welche Rolle spielt die Inszenierung? Auch seine Vorgangsweise hat Leinemann eingehend erläutert: „Natürlich beginne ich mit einer Arbeitshypothese, habe eine vage Vorstellung davon, was ich zu finden hoffe. Dazu sammle ich Material. Aber ich behalte auch die Möglichkeit im Auge, dass die These falsch ist. Ich versuche, offen zu bleiben für Unerwartetes“ (1995: 14).
Die politischen Akteure hat er oft über lange Zeit begleitet, zum Beispiel auf Wahlkampfreisen. Er war ein scharfer und zugleich feinfühliger Beobachter. Aber auch die Urteile anderer waren für ihn wichtig. Nachdem der Kanzlerkandidat Gerhard Schröder auf dem Eichstätter Marktplatz eine Wahlkampfrede gehalten hatte, traf sich Leinemann anschließend mit einigen Studierenden der Journalistik, um zu erfahren, wie der Redner auf sie gewirkt hatte. Diese Episode zeigt zum einen, dass dieser Reporter neben dem eigenen Augenschein immer auch die Eindrücke und Bewertungen anderer Beobachter ernst nahm. Zum anderen zeigte sich hier, wie wichtig ihm die → Journalistenausbildung war. Wenige seiner Kollegen haben sich mit Vorträgen und in Workshops so stark für den Nachwuchs engagiert.
Die richtige Mischung aus Nähe und Distanz
Für die guten Arbeitsbedingungen beim Spiegel war Leinemann dankbar. Umgekehrt hat das Hamburger → Nachrichtenmagazin die Qualitäten dieses Autors schnell erkannt: Er war einer der wenigen, deren Beiträge dort schon früh nicht anonym, sondern mit Namensnennung erschienen. Leinemann hat später darüber geklagt, dass der Qualitätsjournalismus in der heutigen Medienlandschaft immer weniger Raum findet.
War Jürgen Leinemann ein ‚Kopfjäger‘, wie er manchmal genannt wurde? Wie falsch ein solches Etikett ist, zeigt folgende Passage aus seinem Bestseller Höhenrausch, in dem er den Realitätsverlust vieler Polit-Profis als Suchtverhalten charakterisiert: Als er einmal an einem Porträt über Franz Josef Strauß, den Lieblingsfeind des Spiegel, arbeitete, las er den Beginn des Textentwurfs seiner Frau vor. Die Ärztin und Psychotherapeutin reagierte abrupt: „Das kann doch nicht dein Ernst sein. Du hast ja bei jedem Satz Schaum vor dem Mund“ (2004: 175). Der Autor musste erkennen, dass er an Strauß gerade das bekämpfte, was er an sich selbst nicht leiden konnte. Ein klarer Fall von Projektion also. Die eigene quälende Identitätssuche führte den ewigen Selbstzweifler zu der Einsicht, dass ein journalistisches Porträt nur bei der richtigen Mischung von Nähe und Distanz gelingen kann.
Sein letztes Buch ist autobiografisch: Unter dem Titel Das Leben ist der Ernstfall schildert Leinemann seine Erfahrungen als Patient: Zungengrundkrebs, Herzschwäche, Diabetes, Lungenentzündung, Magengeschwür – so die Diagnosen. Die Odyssee durch Krankenhäuser und Arztpraxen, die körperliche Schwäche, die Stimmungsschwankungen zwischen Wut, Depression und Trauer. Wie in einem Film voller Rückblenden erinnert sich dieser Patient, der kurz zuvor noch seinen 70. Geburtstag mit vielen Freunden gefeiert hatte, an markante Stationen seiner Biografie. „Wenn die Zukunft schrumpft, blickt man zurück“, so schreibt er (2009: 84) und wird zum Reporter seines eigenen Lebens. Nach langem Leiden ist er am 9. November 2013 in Berlin gestorben.
Für seine Porträts und → Reportagen hat Jürgen Leinemann viel Anerkennung gefunden und auch diverse Journalistenpreise erhalten, darunter den Siebenpfeiffer-Preis und den Henri-Nannen-Preis für das Lebenswerk. Er war das, was man im 19. Jahrhundert als ‚Zeitschriftsteller‘ bezeichnete.
Literatur:
Quellen:
Leinemann, Jürgen: Gespaltene Gefühle. Politische Porträts aus dem doppelten Deutschland. Konstanz [Ölschläger/UVK-Medien] 1995.
Leinemann, Jürgen: Gradwanderungen, Machtkämpfe, Visionen. Deutsche Momente. Wien [Picus] 1999.
Leinemann, Jürgen: Höhenrausch. Die wirklichkeitsleere Welt der Politiker. München [Blessing] 2004.
Leinemann, Jürgen: Das Leben ist der Ernstfall. Hamburg [Hoffmann und Campe] 2009.
Darstellungen:
Haller, Michael; Walter Hömberg (Hrsg.): „Ich lass mir den Mund nicht verbieten!“ Journalisten als Wegbereiter der Pressefreiheit und Demokratie. Ditzingen [Reclam] 2020.
Siebenpfeiffer-Stiftung (Hrsg.): Siebenpfeiffer-Preis 2001. Dokumentation der 7. Preisverleihung am 11. November 2001 an Jürgen Leinemann. Homburg, St. Ingbert 2002.