Rollenreportage

1957
The World Magazine, 1914

Wortherkunft: Das Konzept der individuellen und gesellschaftlichen ‚Rolle‘ gehört zu den sozialpsychologischen Grundkategorien, während der Begriff → Reportage zurückgeht auf das lateinische Verb ‚reportare‘, das auf Deutsch ‚weitergeben‘ oder ‚mitteilen‘ bedeutet. Im Lateinischen gab es aber auch schon die metaphorische Übersetzungsweise ‚etwas überbringen‘, ‚melden‘, ‚berichten‘.

Definition:
Die Rollenreportage ist eine Gattung des Genres Reportage. Während bei der klassischen Reportage der Autor oder die Autorin das Erlebte mit Wissen der anderen Beteiligten verfolgt und als zwar teilnehmende, aber vor allem beobachtende Person beschreibt, nehmen die Berichtenden für die Rollenreportage meist eine andere Identität an, um die Lebenswelten oder Arbeitsumstände, über die berichtet werden soll, von innen heraus beschreiben zu können. Ziel der Rollenreportage ist, Außenstehenden den Blick hinter die Fassaden oder in ein Milieu hinein zu ermöglichen, indem Mechanismen der Verschleierung oder Beschönigung umgangen und ausgehebelt werden.

Der Anspruch der → Authentizität, also der Echtheit und Unmittelbarkeit, als Voraussetzung für das Verfassen einer klassischen Reportage gilt ebenso für die Rollenreportage: Auch hier verstehen sich Autor oder Autorin – selbst wenn diese für die Geschichte eine andere Identität annehmen oder eine solche vorgeben – als Medium, das Zustände beschreibt und Eindrücke mitteilt; als Medium im Sinne einer erzählenden Instanz, die aber die Bewertung und Einordnung ebendieser Zustände und Eindrücke den → Lesenden überlässt.

Dabei weist die Rollenreportage auch immer die vier Merkmale der Reportage auf: die Gleichzeitigkeit (es wird unmittelbar aus der Situation berichtet), den persönlichen Blick (das ‚Ich‘ erzählt), die genaue Beschreibung von Ereignissen sowie das Schaffen von Atmosphäre. Da die Rollenreportage meist auch einen → investigativen Ansatz hat, bleibt es nicht aus, dass die Autorin oder der Autor auf bestimmte Fakten oder Rechtsgrundlagen verweist, die zeigen, dass das, wovon hier berichtet wird, geltendes Recht verletzt – oder zumindest ethisch oder moralisch zweifelhaft ist. Diesen stilistisch reinen Ansatz sehen aber nicht alle Rollenreportierenden als Maßstab. Manche stellen gar explizit infrage, ob ein objektives Agieren und Berichten überhaupt möglich sei, wenn sich ein Mensch bewusst in ein widriges Umfeld begibt.

Geschichte:
Während die ersten Reportagen bereits im 18. Jahrhundert verfasst wurden und sich mit dem Aufkommen der Massenpresse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als eine der wichtigen journalistischen Formen etablierten, bildete sich die Rollenreportage erst Ende des 19. Jahrhunderts aus. So kann Nellie Blys Reportage Zehn Tage Im Irrenhaus aus dem Jahr 1887 als eine der ersten Rollenreportagen angesehen werden. Die US-Amerikanerin hatte sich damals in ein New Yorker Asyl für psychisch kranke Frauen einweisen lassen und über die dortigen Behandlungsmethoden berichtet. 1914 ließ sich die junge Autorin und Feministin Djuna Barnes (1892 – 1982) zwangsernähren, um gegen eine ähnliche Behandlung der Suffragetten zu protestieren. Ein berühmtes Foto im World Magazine dokumentiert diesen Selbstversuch. Der Agitator und republikanische Spanienkämpfer Harry Domela gab sich 1926 als Hohenzollern-Adeliger aus und drang ins damalige Milieu der schlagenden Verbindungen in Heidelberg vor. Sein 1927 erschienenes Buch Der falsche Prinz. Mein Leben und meine Abenteuer wurde ein Bestseller.

Aktueller Zustand:
In Deutschland gilt der 1942 geborene Günter Wallraff als bekanntester Rollenreporter. Nach seiner Buchhändlerlehre verdingte er sich Mitte der 1960er Jahre als Hilfsarbeiter, um über die Arbeitsbedingungen in deutschen Industriebetrieben zu berichten. Seine Erfahrungen am Fließband und in der Akkordarbeit veröffentlichte er zunächst in der Gewerkschaftszeitung Metall und schließlich 1966 in dem Buch Wir brauchen Dich. Als Arbeiter in deutschen Industriebetrieben. Für seine 13 unerwünschten Reportagen, die 1969 erschienen, blieb Wallraff nicht bei der Rolle des Arbeiters: Er hauste als vermeintlicher Obdachloser in verschiedenen Unterkünften; er ließ sich mit angeblichen Alkoholproblemen in eine sogenannte Nervenheilanstalt einweisen; er gab sich als Napalmbomben-Fabrikant aus, um in den Reihen der katholischen Kirche nachzuhören, wie man dort zum Krieg in Vietnam stehe; und schließlich streifte er durchs Berlin zu Zeiten der 68er-Revolten, gab sich mal als Student, mal als technischer Angestellter aus, um reaktionäre Bürger und sich gegenseitig in Schutz nehmende Polizisten ins Gespräch zu verwickeln.

Wallraff betont zwar immer wieder die verändernde Kraft der Rollen- oder auch Sozialreportage. So schreibt er 1977 in der Zeit: „Ich meine, daß erst einmal das Selbstverständliche als Ungeheuerliches, die Normalität als Unzumutbarkeit und die winzigen Katastrophen des Alltags ins Bewusstsein kommen müssen, damit ein Impuls zur Veränderung freigesetzt werden kann.“ Aber er bezeichnet sich nicht von Anfang an als Rollenreporter. In dem Wissen, etwas erst verstehen zu können, wenn er es erlebt, handelt er zunächst nach dem Prinzip der teilnehmenden Beobachtung. Mit den Jahren entwickelt er den Ansatz, dass er sich zunächst ein Thema aussucht und dann überlegt, in welcher Rolle er sich diesem nähern kann. Unter dem Namen Hans Esser heuert er 1977 als Redakteur bei der Bild an, um später im Buch Der Aufmacher über die mitunter zweifelhaften Praktiken der bis heute auflagenstärksten Zeitung Deutschlands zu berichten.

Ein Millionenpublikum erreicht Wallraff 1985 mit seinem Buch Ganz unten, für das er sich in die Rolle des türkischen Gastarbeiters Ali Levent Sinirlioğlu begeben und mehr als zwei Jahre in unterschiedlichen Industriebetrieben gearbeitet hat. In dem Buch legt er neben den unwürdigen Arbeitsbedingungen in den großen Betrieben vor allem den alltäglichen Rassismus offen, mit dem die Gastarbeiter zu jener Zeit leben mussten.

Im Jahr 2007 reist Wallraff als Schwarzer durch Deutschland, um sich erneut dem alltäglichen Rassismus auszusetzen (Raap 2020). Für die Aktion Schwarz auf Weiß und dem daraus entstandenen Film wird Wallraff kritisiert, weil er sich ‚schwarz anmale‘, also ‚Blackfacing‘ betreibe. Diesen Vorwurf versucht Wallraff zu entkräften, indem er das aufwändige, auf Tinkturen basierende Verfahren des Hautfärbens offenlegt (Wallraff 2015). Und anders als in den 1970er Jahren, als er noch der Ansicht war, man müsse – ganz im Sinne Egon Erwin Kischs – „täuschen, um nicht getäuscht zu werden“, verteidigt Wallraff seine Aktion von 2007 mit dem Argument, die Ressentiments hätten anders nicht aufgespürt werden können. Das sei ihm auch aus der schwarzen Community immer wieder bestätigt worden.

Bis heute beziehen sich Autorinnen und Autoren aus vielen Ländern auf Günter Wallraff als Vorbild. Einige von ihnen hat Wallraff bei den Vorbereitungen beraten, manche auch bei der Recherche finanziell unterstützt. Im deutschsprachigen Raum verhalf Wallraff etwa Markus Breitscheidel – vorher als kaufmännischer Angestellter tätig – zu seinen Undercover-Einsätzen. Für seinen Bestseller Abgezockt und totgepflegt erlebte er als Altenpfleger zwei Jahre den Alltag in deutschen Pflegeheimen. Wallraff ermutigte Breitscheidel auch zu dessen zweitem Buch Arm durch Arbeit, in dem er über seine Erfahrungen als Hartz-IV-Empfänger und Leiharbeiter schreibt.

In Frankreich bezog sich die Journalistin Florence Aubenas, die in ihrem Buch Putze. Mein Leben im Dreck (2010) über ihre Zeit als Arbeiterin in einer Putzkolonne berichtet, auf Wallraff als Vorbild. Die Mexikanerin Lydia Cacho, die sich für ihre Recherchen zu Frauenhandel und Prostitution in die Hände eines Kartells begab, betont ebenfalls, von Wallraffs Arbeiten inspiriert worden zu sein. Schließlich bekennt auch der italienische Journalist Fabrizio Gatti in der Wallraff-Biografie von Jürgen Gottschlich, als Abiturient Wallraffs Bücher gelesen und von da an davon geträumt zu haben, Missstände aufzudecken. Gatti veröffentlichte 2005 das Buch Bilal: Als Illegaler auf dem Weg nach Europa, für das er sich auf die Flüchtlingsrouten von Afrika nach Europa begeben hatte.

Als Afrikas prominentester Undercover-Reporter gilt derzeit Anas Aremeyaw Anas. Dem Ghanaer gelingt es immer wieder, ganz nah an korrupte Politiker und mächtige Militärs heranzukommen und über deren Machenschaften zu berichten. Wie Anas im Wirtschaftsmagazin brand eins (2020) erzählt, hat er Wallraff mehrfach getroffen, unter anderem bei einem Workshop in Johannesburg: „Er brachte mir einige Tricks bei, die ich immer wieder anwende.“

Legitimität:
Die prinzipielle Berechtigung zur Veröffentlichung einer Rollenreportage auch unter einer angenommenen Identität ist in Deutschland spätestens nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Sachen „Springer/Wallraff“ (1984) unstrittig. Das BVerfG urteilte seinerzeit, auch die „Veröffentlichung rechtswidrig beschaffter oder erlangter Informationen [werde] vom Schutz der Meinungsfreiheit umfasst“ – allerdings komme es auch hier auf „die Schranken des Grundrechts“ an. Da trotzdem gerne seitens betroffener Institutionen und Unternehmen gegen Ergebnisse von Rollenreportagen juristisch vorgegangen wird, besteht sowohl für die Schreibenden als auch die veröffentlichenden Medien ein erhöhtes finanzielles Risiko. Daraus erklärt sich auch, warum Wallraff in seiner gesellschaftlichen und publizistischen Wirkung im Grunde singulär geblieben ist.

Literatur:

Aubenas, Florence: Putze. Mein Leben im Dreck. München [Pendo] 2010.

Bly, Nellie: Zehn Tage im Irrenhaus: Undercover in der Psychiatrie. Berlin [Aviva] 2014.

Domela, Harry: Der falsche Prinz. Mein Leben und meine Abenteuer. Berlin [Malik Verlag] 1927.

Gatti, Fabrizio: Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa. München [Verlag Antje Kunstmann] 2010.

Gottschlich, Jürgen: Der Mann, der Günter Wallraff ist. Köln [Kiepenheuer & Witsch] 2007.

Haarkötter, Hektor: Die Kunst der Recherche. Konstanz/München [UVK] 2015.

Haller, Michael: Die Reportage. Handbuch für Journalisten. Konstanz [UVK] 2006.

Jakob, Angelika: Der Mann hinter dem Perlenvorhang. In: brand eins, 01/2020, S. 122 ff.

Pöttker, Horst: Reportage. In: Journalistikon, 31. Mai 2016.

Raap, Jürgen: Die Ambivalenz der Maske. Rollentausch, kulturelle Aneignung und Deutungsmonopole. In: Kunstforum International, Band 266, 2020, S. 192 ff.

Sonderhüsken, Hermann: Kleines Journalisten-Lexikon. Rollenreportage (S. 110). Konstanz [UVK] 1991.

Stowasser, Josef M.: Stowasser: Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch. S. 439, Wien [Öbv + Hpt Verlagsgesellschaft] 1994.

Wallraff, Günter: 13 unerwünschte Reportagen. Köln [Kiepenheuer & Witsch] 1969.

Wallraff, Günter: Schwarz auf Weiß. In: Aus der schönen neuen Welt. Expeditionen ins Landesinnere. Köln [Kiepenheuer & Witsch] 2015.

Wallraff, Günter: Kisch und ich heute. In: Die Zeit 47/1977, 11. November 1977.

Wallraff, Günter: Wir brauchen Dich. Als Arbeiter in deutschen Industriebetrieben. München [Rütten und Loenig] 1966.

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Lutz Hachmeister
*1959, ist Filmregisseur, Filmproduzent, Journalist, Hochschullehrer und Sachbuchautor. Von 1989 bis 1995 war er Leiter des Grimme-Instituts. Ausgezeichnet wurden etwa seine Dokumentation Schleyer – Eine deutsche Geschichte (2004 Adolf-Grimme-Preis mit Gold) oder Freundschaft – Die Freie Deutsche Jugend (Deutscher Fernsehpreis 2009 zusammen mit Mathias von der Heide). Medienpolitische und -wissenschaftliche Beiträge von Hachmeister finden sich in diversen tagesaktuellen Medien, etwa in 3sat, WDR, taz, SZ, FAZ oder Tagesspiegel.