Wortherkunft und Definition:
Der Begriff ‚Kuratieren‘ entstammt dem Lateinischen. Cura ist die Sorge, die sorgfältige Bemühung um eine Aufgabe, curatio das Sichkümmern, die Besorgung, Wartung oder auch die Heilung. Curatores hießen in der römischen Verwaltung Hilfsbeamte, die Wehrpflichtige registrierten, Material für Wasserleitungen besorgten und Volksfeste organisierten. Aus der letztgenannten Teilfunktion leitet sich wohl die moderne Begriffsverwendung ab: Kuratiert wird in Museen, wobei Kuratoren weniger eine Verwaltungs- und Aufsichtsfunktion ausüben als die der subjektiven Zusammenstellung und Präsentation von Ausstellungsgegenständen (vgl. Tietenberg 2021).
Im Journalismus wird der Begriff für die Übernahme externer → Inhalte auf der eigenen Medienplattform verwendet. Kuratiert werden können beispielsweise Inhalte vertrauenswürdiger Partner – NGOs, Verbraucherzentralen, Museen – oder einzelne Texte, Audios, Videos und Websites. Als Kuratoren wirken Leitungen von Medienunternehmen, ihre Redaktionen oder auch Algorithmen bis hin zu einer → KI.
Geschichte:
Der Gedanke, Medieninhalte zu kuratieren, entstand als Reaktion auf die Veränderungen der Medienproduktion und vor allem der Medienrezeption unter den Bedingungen des Internet Anfang der 2000er Jahre. Der Begriff „Content Curation“ auch im Zusammenhang mit Journalismus wurde etwa gleichzeitig bereits von Jarvis (2008), McAdams (2008) und Bhargava (2009) verwendet – wobei Bhargava allerdings aus dem Marketing kommt und sich nicht speziell auf journalistische Inhalte bezog. McAdams hingegen verwies bereits auf die Gemeinsamkeiten von Museums-Kuratoren mit → Journalisten in → digitalen Medien.
Einige Autoren (z. B. Howarth 2010) sehen inzwischen einen ‚curatorial turn‘, der sich in der Phase des → Web 2.0 ereignet habe. → Soziale Netzwerke wie Facebook und X (Twitter) bieten jederzeit – und für jeden – den Zugriff auf große Mengen an Informationen, technische Entwicklungen wie das Smartphone erleichtern dies zusätzlich. Texte, Bilder und Videos aus allen Erdteilen ermöglichen also einen Blick auf das Weltgeschehen, ohne dass dafür journalistische Instanzen genutzt werden müssten (vgl. Guerrini 2013: 7f.). Das Web 2.0 gibt den Nutzern dadurch die Möglichkeit zurück, selbst aktiv zu kommunizieren – wie in den ersten 20 Jahren des Internets. Für den Journalismus bedeutet diese Flut des ‚User-generated content‘, dass seine Funktion als Gatekeeper verloren zu gehen droht. Bruns (2009) beschreibt die Situation als Übergang vom → Gatekeeping zum Gatewatching. Letzteres ist keine exklusive Aufgabe von Journalisten mehr, sondern kann von allen Interessierten ausgeübt werden.
Vom Gatewatching zur Kuratierung ist es dann nur noch ein kleiner Schritt:
Die Sozialen Netzwerke ermöglichen es jedermann, zu einem Kurator für die eigenen Follower und Abonnenten zu werden. Wir kuratieren gewissermaßen für unser soziales Umfeld – einfach, indem wir Links und Inhalte empfehlen. Wenn wir das bevorzugt zu bestimmten Themen, unseren Hobbys, Fachgebieten etc. machen, hat dieses Kuratieren für die Freunde schon journalistische Qualitäten. Wer hat nicht in seinem persönlichen Umfeld jemanden, der besonders bewandert beispielsweise in aktuellen Musiktrends ist, und dessen Tipps er achtet, oder andere, die ihn regelmäßig auf neue Technik-Gadgets hinweisen etc. (Primbs 2016: 134).
Journalistische Portale und Plattformen begannen nun ebenso zu kuratieren wie private Internet-Nutzer, und die auf die klassische Weise erarbeiteten journalistischen Angebote wurden durch algorithmische Filterung der Datenströme des weltweiten Netzes ergänzt. Nutzer konnten jetzt selbst ein journalistisches Storytelling betreiben, indem sie die von ihnen abonnierten Nachrichtenströme durch Software-Werkzeuge wie Storify organisieren ließen. Traditionelle Presseangebote, die auch im Netz präsent waren, bekamen in den Jahren 2005 und 2006 Konkurrenz durch kuratierende Internet-only-Unternehmen wie Huffington Post oder Buzzfeed.
Gegenwärtiger Zustand:
Medienunternehmen, so beschreibt es der Medienökonom Frank Lobigs, sind in einem digitalen Transformationsprozess dabei, sich an die veränderten technischen und ökonomischen Rahmenbedingungen anzupassen. Dabei gleicht sich der digitale Journalismus „dem ökonomischen Modell digitaler Kommunikations- und Content-Marketing-Agenturen immer weiter an“ (Lobigs 2016: 110). Die Mediennutzung hat sich fundamental verändert: Medieninhalte werden „zumeist auf Smartphone- oder auch anderen Mobile-Screens rezipiert und dabei in vielen Milliarden von Big-Data-algorithmisch kuratierten, personalisierten Trefferlisten, Streams und Feeds pausenlos neukonfektioniert“ (ebd.). Einige globale Internet-Konzerne haben nun auf ihren Plattformen die Rolle von Gatekeepern übernommen, die mit → Algorithmen die Nachrichtenströme steuern.
Die Erzielung von monetarisierbarer Reichweite ist das zentrale ökonomische Ziel der Medienunternehmen. Und kuratierte Inhalte erzielen tatsächlich Reichweitengewinne, wie journalistische Websites zeigen, die häufig Zitate aus X, Blogs, PR-Videos usw. einblenden. Die Priorisierung von Content Marketing, das durch Nutzungsstatistiken gelenkt wird, gegenüber unabhängigem Journalismus ist auch bei der Diversifizierung von digitalen Angeboten zu beobachten. Newsletters, → Podcasts und Themenportale werden mit der Absicht betrieben, neue Einnahmequellen durch Zweitverwertung aufzubauen.
Die Befürworter der Kuratierung stellen im Hinblick auf die Erfahrung mit digitalen Kommunikationsplattformen in den Vordergrund, dass die → Rezipienten die Bewertung von → Quellen nun selbst in der Hand haben und nicht mehr von den Auswahlentscheidungen journalistischer Institutionen abhängig sind. Das Kuratieren von Inhalten durch eben diese Institutionen schafft wiederum eine Art Hybridform: Was interessierte Nutzer sich selbst aus erster Hand zuspielen lassen können, wird aus zweiter Hand (und zwar der des Journalismus) in sortierter und geprüfter Form in noch immer vertrauenswürdigen Umgebungen angeboten.
Die Kontrolle über die Inhalte journalistischer Produkte verschiebt sich von den → Redaktionen auf die von Geschäftsführungen eingesetzten Organisatoren von Portalen und Plattformen im Netz – in denen Algorithmen dominieren. Dies bleibt nicht ohne Folgen:
Durch nachgelagertes Kuratieren können Beiträge, die dem Haus besonders wichtig sind, gepusht werden, während man jene, die nicht gefallen, erst gar nicht kuratiert. Die Vorteile dieser Steuerungsform durch außer-redaktionelle Instanzen hat inzwischen auch das Verlagsmanagement erkannt. Die Kehrseite der Entwicklung besteht in der Entmachtung der Redaktionen. Sie werden nicht nur personell ausgedünnt, sie werden zunehmend auf Dienstleistungs- und Putzarbeiten an den Inhalten beschränkt, während die konzeptionellen Entscheidungen (eben das Kuratieren) von journalismus-ferneren Funktionsträgern, etwa von Verlagsgeschäftsführern oder → Herausgebern getroffen werden (Neuberger 2018: 36).
In diesem Licht gesehen ist Kuratierung ein Werkzeug, das den Journalismus insgesamt infrage stellt und sein Verschwinden beschleunigt (siehe dazu Witte/Syben 2024).
Forschungsstand:
Da die Kuratierung von Quellen und Inhalten im Journalismus noch nicht lange praktiziert wird, sind Untersuchungen der Kuratierungspraxis und ihrer Auswirkungen auf alle Beteiligten rar. Häufiger gibt es Erläuterungen der Ursprünge, der Prinzipien sowie immerhin einiger Vor- und Nachteile der Kuratierung. Einig sind sich alle Autoren im Wesentlichen darüber, dass sich das Aufgabenfeld des Journalismus durch die breite Verfügbarkeit nicht-journalistischer Angebote grundsätzlich erweitert hat. Ob nun die Kuratierung auch ein geeignetes Hilfsmittel ist, um die öffentliche und private Meinungsbildung in digitalen Medienumgebungen zu fördern, kann jedoch als umstritten gelten.
Der Fokus vieler kommunikationswissenschaftlicher Studien und Lehrwerke liegt weiterhin auf den traditionellen journalistischen Routinen, die immer noch (fälschlicherweise) als stabil angesehen werden. Neuere Untersuchungen, die sich mit der Ablösung der Gatekeeping-Praxis durch die Kuratierung befassen, sehen diesen Wandel allerdings meist kritisch.
Manche wissenschaftliche Beobachter beschreiben Kuratieren jedoch auch als „eine Weiterentwicklung journalistischer → Arbeitsweisen, welche in unterschiedlichen Darstellungsformen vorkommen kann und durch hohe Transparenz, Multimedialität sowie durch die Einbettung von User-generated-Content einen Mehrwert sowohl für die Kuratorinnen und Kuratoren, als auch für die Rezipientinnen und Rezipienten schafft“ (Bachmeier 2014: 8).
Konzepte der Nachrichtenproduktion sollten jedenfalls angesichts aktueller Bedingungen, insbesondere der digitalen Möglichkeiten, überdacht werden. Die algorithmengesteuerte Aggregation beinhaltet das Sammeln von Informationen aus anderen Nachrichtenquellen, Nachrichtenagenturen oder Publikumsquellen, um → Nachrichten ohne wesentliche Veränderung des Originalinhalts zu produzieren. Aufgrund der vorgegebenen Filterkriterien mangelt es dem aggregierten und kuratierten Material an Diversität, es ist homogener als die Wirklichkeit, und die Quellen werden oft nicht überprüft bzw. können gar nicht überprüft werden (Firmstone 2024: 20). Tatsächlich haben journalistische Nachrichten heute einen geringeren Anteil am Informationsbudget und somit geringeren Einfluss auf die private und öffentliche Meinungsbildung. Gleichzeitig nimmt der Anteil von Soft-, Junk- und → Fake News zu.
Einige Kritiker der Kuratierung nennen die Praxis ‚Frankenstein-Journalismus‘: Genau wie bei Frankenstein, der Körperteile zu einer menschlichen Gestalt zusammensetzt, hat das neue Geschöpf eine Art Leben, aber es stellt sich erstens die Frage, woher die Körperteile kamen und zweitens, was für eine Art von Leben das ist. (Duffy et al. 2018: 1366)
Literatur:
Bachmeier, Martin; Michael Morf: Kuratieren 2.0. Warum Journalistinnen und Journalisten kuratieren sollten. In: kommunikation.medien, 5, 2014. https://eplus.uni-salzburg.at/JKM/content/titleinfo/2032551/full.pdf
Bhargava, Rohit: Manifesto for the content curator: The next big social media job of the future? Rohit Bhargava, 30.09.2009 . http://www.rohitbhargava.com/2009/09/manifesto-forthe-content-curator-the-next-big-social-media-job-of-thefuture-.html
Bruns, Axel: Vom Gatekeeping zum Gatewatching. Modelle der journalistischen Vermittlung im Internet. In: Neuberger, Christoph; Christian Nuernbergk; Melanie Rischke (Hrsg.): Journalismus im Internet. Profession – Partizipation – Technisierung. Wiesbaden [VS Verlag für Sozialwissenschaften] 2009, S. 107-128.
Duffy, Andrew; Edson C. Tandoc; Richard Ling: Frankenstein journalism. In: Information Communication & Society, 21, 2018, S. 1354-1368.
Firmstone, Julie: The Shaping of News. A Framework for Analysis. Cham [Palgrave Macmillan] 2024.
Guallar, Javier; Lluís Codina: Journalistic content curation and news librarianship: Differential characteristics and necessary convergence. In: El profesional de la información, 27, 4, 2018, S. 778-791.
Guerrini, Federico: Newsroom curators & independent storytellers: content curation as a new form of journalism. Oxford [Thomson Reuters Foundation] 2013.
Howarth, Anita: Exploring a Curatorial Turn in Journalism. In: M/C Journal, 18(4), 2015. https://doi.org/10.5204/mcj.1004
Jarvis, Jeff: No news is no news. In: Buzz machine, 03.11.2008. https://buzzmachine.com/2008/11/03/no-news-is-no-news-2
Lobigs, Frank: Finanzierung des Journalismus – von langsamen und schnellen Disruptionen. In Meier, Klaus; Christoph Neuberger (Hrsg .): Journalismusforschung. Stand und Perspektiven. Baden-Baden [Nomos] 2016, S. 69-137.
McAdams, Mindy: Curation and journalist as curators. Teaching online journalism, 03.12.2008. http://mindymcadams.com/tojou/2008/curation-andjournalists-as-curators
Neuberger, Christoph: Journalismus in der Netzwerköffentlichkeit. Zum Verhältnis zwischen Profession, Partizipation und Technik. In: Nuernbergk, Christian; Christoph Neuberger (Hrsg.): Journalismus im Internet. Profession – Partizipation Technisierung. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Wiesbaden [Springer VS] 2018.
Tietenberg, Annette: Was heißt ‚kuratieren‘ heute? Potenziale für transnationale Kooperationen. Stuttgart [ifa Institut für Auslandsbeziehungen] 2021.
Witte, Barbara; Gerd Syben: Öffentlichkeit ohne Journalismus? Rollenverschiebungen im lokalen Raum. Frankfurt am Main [Otto-Brenner-Stiftung] 2024.