
‚Edelfedern‘ heißen im journalistischen Jargon Redakteure oder freie Mitarbeiterinnen, die über besondere stilistische Fähigkeiten verfügen. Sie genießen deshalb häufig auch einen Sonderstatus: Redaktionen akzeptieren in der Regel sämtliche Manuskripte solcher ‚Starschreiber‘, selbst wenn sie „in einer Form“ angeboten werden, „mit der ein normaler Freier Journalist gleich im Papierkorb landen würde“ (Sonderhüsken 1991: 37).
In die Anerkennung und Bewunderung ihrer ‚Schreibe‘ (so der Branchenjargon) kann sich aber auch Ironie oder sogar Geringschätzung mischen. Wer besonders gut schreibt, gerät nicht selten in den Verdacht, es mit dem harten Brot des Journalismus, der → Recherche, nicht so genau zu nehmen und mehr Wert auf die Formulierung als auf die faktische Substanz eines Beitrags zu legen. ‚Edelfeder‘ wird dann gleichbedeutend mit dem abwertenden Begriff ‚Schönschreiber‘.
Ein solcher Schatten fiel immer wieder auf die Vertreter des eher literarisch ambitionierten New Journalism (vgl. Bleicher/Pörksen 2004). Auch der vielfach preisgekrönte Spiegel-Autor Claas Relotius und der Freie Journalist Tom Kummer galten als Edelfedern, bis sich herausstellte, dass sie große Teile ihrer als besonders eindrucksvoll empfundenen → Reportagen und → Interviews frei erfunden hatten (vgl. Reus 2004; 2019).
Spott über Edelfedern ist gleichwohl deplatziert. Denn ungeachtet solcher spektakulären Täuschungsversuche ist das Ausschöpfen gestalterischer Möglichkeiten ein originärer Bestandteil des Journalismus, und der „literarische Journalismus“ (vgl. Eberwein 2013) stellt eine wertvolle Ausprägung des historischen wie des modernen Pressewesens dar.
Journalisten selbst sagen von sich, dass sie ‚Geschichten erzählen‘ wollen. Und deshalb arbeiten sie in längeren Beiträgen auch – mal mehr und mal weniger gekonnt – ähnlich wie Erzähler und Romanciers. Sie verdichten faktisches Geschehen zu Metaphern, variieren Klang und Rhythmus, achten auf Tempo und Wortwitz, brechen die Chronologie von Ereignissen auf, stellen Passagen um, runden und glätten, bauen Wiederholungen und Leitmotive ein, schneiden und montieren, parallelisieren und kontrastieren (vgl. Reus 2019).
‚Edelfedern‘ beherrschen diese Schreibtechniken besonders gut. Wenn sie darüber die Wirklichkeit des Tagesgeschehens nicht aus dem Blick verlieren, sind sie unverzichtbar für einen Berufsstand, der die Welt begreifbar machen und Menschen mit Sprache anrühren und erreichen will.
Literatur:
Bleicher, Joan Kristin; Bernhard Pörksen (Hrsg.): Grenzgänger. Formen des New Journalism. Wiesbaden [VS Verlag] 2004.
Eberwein, Tobias: Literarischer Journalismus. Theorie – Traditionen – Gegenwart. Köln [Herbert von Halem Verlag] 2013.
Reus, Gunter: Mit doppelter Zunge. Tom Kummer und der New Journalism. In: Bleicher, Joan Kristin; Bernhard Pörksen (Hrsg.): Grenzgänger. Formen des New Journalism. Wiesbaden [VS Verlag] 2004, S. 249-266.
Reus, Gunter: Passt Fiktionalität in den Journalismus? In: Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung, 2, 2019, S. 65-69.
Sonderhüsken, Hermann: Kleines Journalisten-Lexikon. Fachbegriffe und Berufsjargon. München [Ölschläger] 1991.