
Begriff:
Horse-Race-Journalismus ist eine umstrittene Form der Berichterstattung über Politik. Dabei wird Politik mit Hilfe von Metaphern aus dem Sport dargestellt. Besonders in der Wahlberichterstattung ist Horse-Race-Journalismus anzutreffen – und dies vor allem im Zusammenhang mit Wahlumfragen.
Wird über einen Wahlkampf wie über ein Pferderennen berichtet, so kann die Berichterstattung etwa folgende Züge annehmen: Zu Beginn des Wahlkampfes geht ein Kandidat oder eine Partei mit einem kleinen Vorsprung ins Rennen, er oder sie ‚wird dann aber müde‘, holt erst nach einem Viertel der Strecke wieder auf, verliert erneut und fällt auf der Gegengeraden zurück, gewinnt jedoch schließlich auf der Zielgeraden im ‚Foto-Finish‘ mit einer Nasenlänge Vorsprung. Ein solches Rennen ist spannend vom Anfang bis zum Ende (Broh 1980). Wahlumfragen sind für → Journalisten, die ein solches Bild einsetzen, ausgesprochen nützlich: Mit ihrer Hilfe können sie den ‚Zuschauern‘ Auskunft darüber geben, wer im Rennen in Führung liegt und ob sich die Position eines Kandidaten oder einer Partei im Laufe des Rennens verbessert oder verschlechtert.
Vor allem Vergleiche dienen dazu, den Wahlkampf dynamisch darzustellen. Am häufigsten werden Umfragedaten von unterschiedlichen Zeitpunkten miteinander verglichen, womit sich das Auf und Ab der Kandidaten und Parteien im Wahlkampf gut beschreiben lässt. Nicht selten werden dabei geringfügige Veränderungen in der Wählergunst unter Verwendung des Horse-Race-Frames dramatisiert, was oft zu Fehlinterpretationen von Umfragedaten durch Journalisten führt (Patterson 2005).
Oft betonen Journalisten die Bedeutung einzelner Wahlkampfereignisse für den Stand des Rennens – etwa den Einfluss von TV-Duellen. Sie zeigen „the candidates in face-to-face competition, permitting the armchair jockey to evaluate the race as it headed toward the finish line“ (Broh 1980: 523). Journalisten benutzen solche Medienereignisse zum Beschreiben von (tatsächlichen oder vermeintlichen) Trends und Verschiebungen in der Wählergunst. Veränderungen der → öffentlichen Meinung werden ereignisgebunden dargestellt. Wahlkampfereignisse erlangen somit eine große Bedeutung für die Position des Kandidaten und Parteien im ‚Rennen‘: Jeder Fehler, jeder Auf- und Fehltritt kann das Bild der Kandidaten beeinflussen, sie fördern oder ins Wanken bringen. Vergleiche werden auch zwischen unterschiedlichen Bundesstaaten bzw. -ländern oder Regionen angestellt, so dass sich das gesamte ‚Rennen‘ aus zahlreichen ‚Einzel-Rennen‘ zusammensetzt.
Einige Autoren sehen Horse-Race-Berichterstattung als Teil des ‚game frame‘, andere setzen beides gleich. Im sogenannten ‚game frame‘ stehen nicht → Inhalte und politische Positionen im Mittelpunkt der Berichterstattung, sondern taktische ‚Spielchen‘ der Kandidaten und Parteien. Der ‚game frame‘ wird wiederum von einigen Autoren als Teil des ‚strategy frames‘ aufgefasst (Aalberg et al. 2012; Banducci/Hanretty 2014).
Geschichte und Forschungsstand:
Mit der zunehmenden Verbreitung von Wahlumfragen seit den 1940er Jahren hat auch der Horse-Race-Journalismus einen Aufschwung erfahren. Es gibt ihn jedoch nicht erst seit Bestehen moderner Umfragen. Bereits 1888 verwendete das ‚Boston Journal‘ in seiner Wahlkampfberichterstattung das Horse-Race-Bild (Littlewood 1999).
Ebenso alt wie der Horse-Race-Journalismus ist die Kritik an ihm. Folgende Äußerung ist exemplarisch für diese Kritik: „Instead of covering the candidates’ qualifications, philosophies, or issue positions, polls have encouraged journalists to treat campaigns as horse races, with a focus on the candidates‘ popularity, momentum, and size of lead“ (Atkin/Gaudino 1984: 124). Horse-Race-Berichterstattung trivialisiere Politik, indem sie sie auf ein sportliches Spektakel reduziere, mit ‚Gladiatoren‘ und ‚Zuschauern‘. Spannende Unterhaltung erhalte damit in der Wahlkampfberichterstattung generell – und in der Berichterstattung über Wahlumfragen im Besonderen – Vorrang vor sachlicher Information. So trage Horse-Race-Berichterstattung zu einer Entpolitisierung und zu einer Entertainisierung bei. Auch die zahlreichen Meinungsumfragen – so die Kritik – erfüllen eher unterhaltende als informierende Funktionen. Umfrageergebnisse würden nicht zur Analyse von Wahlmotiven genutzt, sondern lieferten lediglich das Material für eine glaubwürdige Beschreibung des ‚Horse Races‘ im Wahlkampf.
In den USA überstrahlt die Horse-Race-Berichterstattung bereits jedes substanzielle Thema eines Wahlkampfes, auch in anderen westlichen Demokratien nimmt sie zu. Auf die Horse-Race-Berichterstattung vor US-Präsidentschaftswahlen entfallen mehr Zeit und Platz als auf sämtliche Sachthemen zusammen (Farnsworth/Lichter 2011; Patterson 2005). Für die US-Präsidentschaftswahl 2020 hat Patterson (2020: 4) in einer Inhaltsanalyse der Berichterstattung von CBS und Fox News festgestellt: „During the 2020 campaign, horserace reports easily outnumbered reports on other topics, including the candidates’ policy positions and their leadership ability“. Dabei überwiegen für den in Umfragen hinten liegenden Kandidaten die negativen Bewertungen. Seine Position in den Umfragen wird dann unter anderem auf Fehler im Wahlkampf zurückgeführt. Holt er in den Umfragen nennenswert auf, verbessert sich auch die Tonalität deutlich.
Horse-Race-Berichterstattung geht oft mit einer Konzentration auf die Spitzenkandidaten im Wahlkampf einher. Neben deren Stimmenanteilen in Umfragen wird auch über ihre Sympathie-Werte und über die Bestandteile ihrer Images berichtet. „While the character of the candidates is obviously of crucial importance for a meaningful democratic choice, the Horse-Race metaphor runs the risk of emphasizing beauty – some horses are gorgeous animals – and neglecting differences on issues of substance“ (Broh 1980: 520).
Kritik erfährt auch die seit 2020 vermehrt zu beobachtende Verwendung von Wahlwahrscheinlichkeiten auf der Basis von Umfragen – das ‚probabilistic forecasting‘ bzw. das damit verbundene ‚probabilistic Horse-Race‘ (Westwood et al. 2020). Hierbei werden Umfragedaten in Wahrscheinlichkeiten übersetzt, mit denen ein Kandidat bzw. eine Partei gewinnen wird. Bei zahlreichen Wählerinnen und Wählern kommt es dabei zu Missverständnissen: Sie setzen eine 70prozentige Wahrscheinlichkeit, dass Kandidat X gewinnt, mit einem Stimmenanteil von 70 Prozent gleich.
Befürworter der Horse-Race-Berichterstattung verteidigen sie mit dem Hinweis, dass sich viele Menschen nicht besonders für Politik interessieren; für diese Menschen sei die Sprache der → Politik langweilig. Sport stoße hingegen auf großes Interesse. Daher läge es nahe, die ‚ferne‘ und ‚fremde‘ Politik mit der vertrauten Sprache des Sports zu beschreiben. Dies könne das Interesse am politischen Geschehen erhöhen. Außerdem würden sich die meisten Wählerinnen und Wähler in Wahlkämpfen ohnehin in allererster Linie dafür interessieren, wer vorne liege und wer hinten. Dies schließe nicht aus, dass auch über politische Inhalte berichtet wird. Die Horse-Race-Berichterstattung könne so ein Türöffner für die auf Sachthemen bezogene Berichterstattung sein. Darüber hinaus böte die Horse-Race-Berichterstattung einen weiteren Vorteil: Journalisten wären daran interessiert, ein Rennen so lange wie möglich als ‚offen‘ darzustellen, weil sonst das Interesse an seinem Ausgang erlahmen würde. Dies reduziere die den → Massenmedien immanente Gefahr, durch das frühzeitige Benennen eines Gewinners den Wahlkampf in eine Self-fulfilling prophecy zu verwandeln.
Literatur:
Aalberg, Toril; Jesper Strömbäck; Claes H. de Vreese: The framing of politics as strategy and game: A review of concepts, operationalizations and key findings. In: Journalism, 13, 2012, S. 162-178.
Atkin, Charles K.; James Gaudino: The Impact of Polling on the Mass Media. In: ANNALS, 472, 1984, S. 119-128.
Banducci, Susan; Christopher Hanretty: Comparative determinants of Horse-Race coverage. In: European Political Science Review, 6, 2014, S. 621-640.
Broh, C. Anthony: Horse-Race Journalism: Reporting the Polls in the 1976 Presidential Election. In: Public Opinion Quarterly, 44, 1980, S. 514-529.
Farnsworth, Stephen J.; S. Robert Lichter: The Nightly News Nightmare: Media Coverage of the U.S. Presidential Elections, 1988-2008. Lanham [Rowman & Littlefield] 2011.
Littlewood, Thomas B.: Calling Elections: The History of Horse-Race Journalism. Notre Dame [University of Notre Dame Press] 1999.
Patterson, Thomas E.: Of Polls, Mountains. U.S. Journalists and Their Use of Election Surveys. In: Public Opinion Quarterly, 69, 2005, S. 716-724.
Patterson, Thomas E.: A Tale of Two Elections. CBS and Fox News’ Portrayal of the 2020 Presidential Campaign. Discussion Paper des Shorenstein Center on Media, Politics and Public Policy. 2020. https://shorensteincenter.org/wp-content/uploads/2020/12/Patterson-2020-Election-Coverage.pdf.
Plissner, Martin: The Control Room: How Television Calls the Shots in Presidential Elections. New York et al. [Simon & Schuster] 2000.
Sigelman, Lee; David Bullock: Candidates, Issues, Horse Races, and Hoopla: Presidential Campaign Coverage, 1888-1988. In: American Politics Research, 19, 1991, S. 5-32.
Westwood, Sean Jeremy; Solomon Messing; Yphtach Lelkes: Projecting Confidence: How the Probabilistic Horse Race Confuses and Demobilizes the Public. In: The Journal of Politics, 82, 2020, S. 1530-1544.