Wortherkunft: ‚Hegemonie‘ von altgr. Hegemonia: Führung, Vormacht; von altgr. hegeisthai: führen, vorangehen.
Definition:
Geprägt hat den Begriff der „kulturellen Hegemonie“ der italienische Philosoph und Kommunist Antonio Gramsci (Gramsci 2019), und zwar in Anlehnung an Lenin (Zamis 1980: 342). Wie nahezu alle Revolutionäre und Sozialistenführer hat Gramsci die Frage beschäftigt, wie sich die Macht im Staate und im Gemeinwesen erringen lasse – und er hat früher als andere erkannt, welche Rolle im Kampf um politische Vorherrschaft der kulturelle Überbau und damit die Zivilgesellschaft spielen.
Im Kampf um politische Macht geht es demnach nicht nur um die exekutive und legislative Gewalt, sondern um Vorherrschaft in der Kultur im weitesten Sinn – nicht nur im Kultur- und Medienbetrieb. Ohne diese kulturelle Dominanz lässt sich politische Macht nicht dauerhaft stabilisieren. Gramscis Konzept beschreibt mithin, wie politische Machthaber „nicht primär durch Gewalt ihre Macht“ konsolidieren, „sondern vor allem durch die Produktion von zustimmungsfähigen Ideen und die Kontrolle der Kultur“ (Skrobisz 2020).
Gramsci verbrachte nach der Machtübernahme Mussolinis die letzten zehn Jahre seines Lebens weitgehend im Gefängnis. Ihm zufolge besteht bei der Ausübung von politischer Macht ein Dualismus aus Zwang und Konsens. Er differenziert zwischen der politischen Gesellschaft und der zivilen Gesellschaft. In der einen Sphäre werde Macht durch Zwang ausgeübt – also durch Gesetzgebung und deren Anwendung durch Justiz und Polizei. Dazu brauche es aber in der anderen Sphäre, der Zivilgesellschaft, Zustimmung, welche die Machtausübung unterfüttert.
Dieser Grundkonsens ist von konstitutiver Bedeutung: Die Zivilgesellschaft umfasse die religiösen, sozialen, intellektuellen und moralischen Dimensionen menschlichen Lebens. Die politische Macht des Staats lasse sich nicht von der Zivilgesellschaft trennen. Denn Polizei und Militär, aber auch Bürokraten und Steuerzahler gehorchten ihren Herrschern nur so lange, wie sie deren Autorität anerkennen. (Skrobisz 2020)
Hegemonie bildet und erhält sich selbst durch die Hegemonieapparate des Staates und der Zivilgesellschaft, wie zum Beispiel durch Schulen, Kirchen, Universitäten, Vereine und → Massenmedien. Damit wirkt sich die Hegemonie nicht nur auf die unmittelbar politischen Bereiche des Lebens aus, sondern als kulturelle Macht auch auf Sitten, Gebräuche, Sprache, Traditionen, Werte – und sogar das, was man als ‚gesunden Menschenverstand‘ bezeichnet. Sie bestimmt, was denkbar ist und was nicht und markiert somit die berühmte Box, die unser Denken und Handeln eingrenzt (Skrobitz 2020). „Kulturelle Hegemonie ist damit für Gramsci eine Voraussetzung für die Ergreifung und eine dauernde Bedingung für die Bewahrung der Macht“ (Leggewie 1987: 291).
Geschichte:
Außerhalb politischer Zirkel, in denen der Diskurs um Gewinnung politischer Macht ein Dauerthema ist, waren Gramsci und auch seine Wortschöpfungen der „kulturellen Hegemonie“ und der „Zivilgesellschaft“ über Jahrzehnte hinweg nahezu in Vergessenheit geraten. Wiederentdeckt wurde seine Theorie zunächst Mitte der 60er Jahre von der neuen Rechten, der „Nouvelle Droite“ in Frankreich (vgl. Leggewie 1987: 295 f.).
In Deutschland gab es in den 1970er Jahren eine ausgedehnte Gramsci-Rezeption im Umfeld der Zeitschriften Alternative und Das Argument. Sie setzte sich international in den 80er und 90er Jahren mit Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (Laclau/Mouffe 1985) fort und schlug sich auch im feministischen Diskurs (Rauschenbach 1985) nieder, später inspiriert nicht zuletzt von Pierre Bourdieus (1998) Überlegungen zu symbolischer Gewalt und zur „Domination masculine“. In Deutschland hat Claus Leggewie 1985 mit seiner Antrittsvorlesung in Göttingen zur Gramsci-Renaissance beigetragen (Leggewie 1987), auch Peter Glotz rezipierte Mitte der 80er Jahre Gramsci – für die deutsche Sozialdemokratie (vgl. Leggewie 1987: 294 mwN).
Gegenwärtiger Zustand:
Hegemonie kann der Staat (oder die Gruppe, die nach Macht strebt) nicht ‚verordnen‘. Sie muss errungen und aufrechterhalten werden – erinnert sei an den ‚langen Marsch durch die Institutionen‘, auf den sich die Neue Linke und später die Grünen begaben, um das verkrustete westdeutsche Institutionensystem von innen zu sprengen. Seit den 80er Jahren mündete dieser Marsch darin, dass die einstigen Studentenführer, APO-Angehörigen und Grün-Alternativen immer zahlreicher führende Positionen im Gemeinwesen übernahmen. Damit ging auch ein rapider Wertewandel einher, der sich durchaus im Ergebnis als ‚neue‘ kulturelle Hegemonie deuten lässt – und zwar noch bevor die heutigen Kulturkriege um Islamismus und Migration, um Identitätspolitik und Gender zu toben begannen.
In den letzten Jahren hat der Begriff der ‚kulturellen Hegemonie‘ Eingang in die Alltagssprache gefunden. Unter dem Stichwort wird die rot-grüne Diskurshoheit im öffentlichen Raum beklagt.
Politische Gruppen, die nach Macht und somit nach kultureller Hegemonie streben, neigen im Übrigen oftmals zu Schwarz-Weiß-Malerei: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns – ein Faktor, der in der Diskussion um die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft wenig beleuchtet wird und der das gesellschaftliche Klima verändert. Manche linken und grünen Aktivisten sehen in der westlichen Kultur eine Ausprägung der kulturellen Hegemonie des Kapitalismus, den sie bekämpfen. Sie sind deshalb darauf fokussiert, Geschlechterrollen, die westliche Kultur, die Religionen und sogar die Sprache zu dekonstruieren und zu hinterfragen (Skrobitz 2020) – und sie ‚verschubladisieren‘ Andersdenkende, die sich ihrem Streben nach kultureller Hegemonie entgegenstellen, gerne pauschal als ‚rechts‘ oder gar ‚rechtsextrem‘. Kreative und ‚Querdenker‘ (im ursprünglichen Sinn des Wortes, also über die Lager hinweg) sind für die Hegemone deshalb gefährlich, weil sie sich dadurch auszeichnen, dass sie auch ‚outside the box‘ reflektieren und agieren.
Forschungsstand:
Wie stark die deutschen Leitmedien ihrerseits inzwischen durch kulturelle Hegemonie geprägt sind, hat jüngst eine Untersuchung von Marcus Maurer et al. (2024) bestätigt. Die Forscher konnten mit ihren Inhaltsanalysen zwar nicht den Verdacht belegen, die öffentlich-rechtlichen Anstalten repräsentierten in besonderem Maße die rot-grün eingefärbte kulturelle Meinungsführerschaft. Andererseits verorteten sie nahezu alle von ihnen untersuchten 47 Leitmedien in jenem Quadranten, in dem liberal-progressive und sozialstaatliche Orientierung aufeinandertreffen, während die restlichen drei Quadranten (liberal-progressiv und marktliberal, konservativ-autoritär und sozialstaatlich, konservativ-autoritär und marktliberal) medial nur dünn besiedelt sind. Mit der Bezeichnung ‚liberal‘ meinen die Autoren offensichtlich ‚linksliberal‘, also ‚liberal‘ im amerikanischen Sprachgebrauch.
Allerdings macht man es sich zu einfach, wenn man kulturelle Hegemonie auf die ideologische Positionierung von Medien und die ‚Haltung‘ von Journalisten reduziert. Auch die kommerzielle Funktionsweise der → Aufmerksamkeitsökonomie lässt Muster kultureller Hegemonie entstehen – und kein → Journalist, der öffentlich wahrgenommen werden möchte, kann sich ihnen entziehen. Die Zuteilung von Informationen durch die → Algorithmen der → sozialen Netzwerke und → Suchmaschinen und die Bestrebungen von Journalisten, → Influencern und anderen Medienschaffenden, dort ebenso wahrgenommen zu werden, wie sie im Fernsehen Einschaltquoten, in Printmedien hohe Auflagen und auf eigenen Websites hohe Klickzahlen produzieren, sind Teil des Kampfs um kulturelle Hegemonie.
Ohne Google, Youtube, Facebook, X bzw. Twitter, Instagram und TikTok ist kulturelle Hegemonie nicht mehr denkbar – und deren globaler Einfluss prägt letztlich auch die nationalen, regionalen und lokalen Kämpfe um kulturelle Dominanz. Den Anteil und Einfluss der Plattformen in diesem Kampf zu bestimmen, ist eine Herausforderung, welche die empirische Medienforschung überfordern dürfte.
Auf allen Ebenen ist zudem Herdentrieb im Spiel. Nicht nur der Tanz ums goldene Kalb der Aufmerksamkeitsmaximierung erzeugt ihn. Er entsteht auch durch neue und nicht ganz so neue politische Ideologien, die den öffentlichen Diskurs überwölben und einengen: Die sogenannte Political correctness, Wokeness oder auch Identitätspolitik erzeugen Gefolgschaft und indizieren neue Varianten links-grüner kultureller Hegemonie.
Man muss Antonio Gramsci nicht gelesen haben – sein Konzept der kulturellen Hegemonie haben auch Aktivisten als Handlungsanleitung verinnerlicht, die seine Schriften gar nicht kennen. Dass neben dem Journalismus inzwischen auch der Wissenschaftsbetrieb zum Kampf- und Tummelplatz geworden ist, auf dem Akteure um kulturelle Hegemonie ringen, statt sich unvoreingenommener und bedingungsloser Wahrheitssuche zu verschreiben, ist dabei eine der massivsten Bedrohungen des westlichen Wertesystems und seiner aufklärerischen Journalismus- und Wissenschaftskultur.
Literatur:
De Benoist, Alain: Kulturrevolution von rechts: Gramsci und die Nouvelle Droite. Dresden [Jungeuropa Verlag] 2017.
Bourdieu, Pierre: La Domination masculine, Paris [Le Seuil] 1998, deutsche Übersetzung: Die männliche Herrschaft. Frankfurt a. M. [Suhrkamp] 2005.
Gill, Stephen (Hrsg.): Gramsci, Historical Materialism and International Relations. Cambridge [University Press] 1993.
Gramsci, Antonio: Gefängnishefte: Kritische Gesamtausgabe in 10 Bänden. Hamburg [Argument Verlag mit Ariadne] 2019.
Laclau, Ernesto; Chantal Mouffe: Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Politics. London [Verso] 1985, deutsche Übersetzung: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. 4. Auflage. Wien [Passagen-Verlag] 2012.
Leggewie, Claus: Kulturelle Hegemonie – Gramsci und die Folgen. In: Leviathan, 15, 2, 1987, S. 285-304.
Maurer, Marcus et al.: Fehlt da was? Perspektivenvielfalt in den öffentlich-rechtlichen Nachrichtenformaten. Institut für Publizistik, Universität Mainz. https://www.polkom.ifp.uni-mainz.de/files/2024/01/pm_perspektivenvielfalt.pdf 2024. [24.2.2024]
Rauschenbach, Brigitte: Kulturelle Hegemonie und Geschlecht als Herausforderung im europäischen Einigungsprozess – eine Einführung. Kulturelle Hegemonie und Geschlecht als Herausforderung im europäischen Einigungsprozess – eine Einführung • Gender Politik Online • Freie Universität Berlin (fu-berlin.de) 2005. [20.2.1024]
Skrobisz, Nikodem: Kulturelle Hegemonien: Freiheitslexikon Kulturelle Hegemonie – Freiheitslexikon 2020. [20.2.1024]
Zamis, Guido: Nachwort. In: Gramsci, Antonio: Zu Politik, Geschichte und Kultur. Ausgewählte Schriften. Frankfurt [Röderberg Verlag] 1980, S. 319-350.