Aufmerksamkeitsökonomie

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Je reicher und offener eine Gesellschaft ist, um so „offener und aufwendiger wird der Kampf um die Aufmerksamkeit ausgetragen“. Der Wiener Sozialwissenschaftler und Raumplaner Georg Franck (1998, 11) hat – mit der Brillanz des Außenseiters, mehr essayistisch als streng fachwissenschaftlich – die ökonomischen Grundlagen dieses Wettbewerbs um die Präsenz im öffentlichen Rampenlicht analysiert.

Definition:
Franck zeigt, wie neben der uns vertrauten Ökonomie des Geldes ein zweiter Wirtschaftskreislauf entstanden ist, in dem nicht mehr primär um Geldeinkommen und materielle Güter konkurriert wird, sondern um öffentliche Beachtung, um gesellschaftliches Ansehen, um Prominenz oder Reputation. Diese lassen sich dann freilich ihrerseits oftmals in Macht und/oder Einkommen transformieren.

Wie stets in der Ökonomie, geht es dabei um die Allokation knapper Ressourcen: in diesem Fall der Aufmerksamkeit. Um sie zu generieren, sind ebenfalls Ressourcen nötig – seien das materielle wie Geld oder geistige wie Kreativität, am besten beides.

Geschichte:
Für die Medienökonomie und für ein besseres Verständnis von Journalismus war es eine Zäsur: Georg Franck publizierte seine Ökonomie der Aufmerksamkeit 1998 als Buch, nachdem er zuvor im Merkur als Versuchsballons zwei einschlägige Artikel veröffentlicht hatte (Franck 1989; 1993). Kurze Zeit später folgten Thomas H. Davenport und John C. Beck (2001) mit The Attention Economy.

Wie stets in der Wissenschaft, gibt es Vorläufer, auf deren Schultern Franck und Davenport/Beck sitzen, um – in der Diktion Robert K. Mertons (1965)  – „weiter zu sehen“. Der Wirtschaftswissenschaftler Herbert A. Simon hatte bereits 1969 darauf aufmerksam gemacht, dass in einer von Information überfluteten Gesellschaft die Aufmerksamkeit verknappt. Was der Soziologe Niklas Luhmann (1971) über Themenkarrieren, der Ökonom Anthony Downs über „Issue Attention Cycles“ (1972: 28) und die Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann über die „Schweigespirale“ (1978) zusammengetragen haben, sind im Rückblick erste, gewichtige Bausteine der Aufmerksamkeitsökonomie. Auch der Verfasser hat sich bereits in seinen frühen Arbeiten mit dem Themenfeld befasst, seinerzeit unter den Stichworten „Reformkonjunkturen“ (Russ-Mohl 1981) und „Medienaufmerksamkeitszyklen“ (Russ-Mohl 1993: 356).

Franck selbst hat seine Aufmerksamkeitsökonomie weiterentwickelt: zunächst in Mentaler Kapitalismus (Franck 2005), dann in Vanity Fairs (Franck 2021).

Forschungsstand:
Der Begriff Aufmerksamkeitsökonomie hat sich sowohl im Wissenschaftsbetrieb als auch umgangssprachlich verselbständigt und spielt inzwischen überall dort eine Rolle, wo um Zahlungsbereitschaft und Zeit von Mediennutzern konkurriert wird, also insbesondere in der Werbung, in den → Public Relations und im Journalismus.

Öffentliche Aufmerksamkeit war und ist kostbar. Deshalb geben Unternehmen, Regierungen sowie Non-Profit-Organisationen immer mehr Geld aus, um sie zu erzielen. Dagegen waren und sind Medienkonsumenten daran gewöhnt, → Nachrichten und aktuelle Informationen zu reduzierten Preisen oder kostenlos zu erhalten, weil sich über Jahrzehnte hinweg die meisten Medienprodukte überwiegend aus Werbeerlösen finanzierten.

Schon lange vor dem Digitalisierungsschub erlangten in den 60er bis 90er Jahren Öffentlichkeitsarbeiter und Pressestellen immer mehr Einfluss, indem sie die → Redaktionen ‚gratis‘ mit Nachrichtenmaterial versorgten, um auf diese Weise die öffentliche Aufmerksamkeit auf bestimmte Themen zu lenken. Sie legten geschickt Zuckerspuren, denen die Redaktionen immer öfter folgten – mitunter auch, um unerwünschte Themen aus dem öffentlichen Diskurs herauszuhalten. Barbara Baerns glaubte schon in den 80er Jahren zeigen zu können, dass die PR-Seite „Themen und Timing“ der Nachrichtengebung unter Kontrolle hätte (Baerns 1985).

Mit der → Digitalisierung verschiebt sich beschleunigt die Machtbalance zwischen Journalismus und PR: Kam in den 80er Jahren in den USA statistisch noch auf einen PR-Experten jeweils ein Journalist, so wurde daraus bis zum Jahr 2008 jeweils eine Übermacht von vier bis fünf PR-Experten pro → Journalist (Greenslade 2014). Neuere Zahlen fehlen. Der Journalismus wurde jedenfalls seines Schleusenwärter-Monopols beraubt. Zum einen gewannen die Nutzer über das Internet direkten Zugang zu einer unendlichen Vielzahl an Quellen und damit zu Auswahlmöglichkeiten, die jeden Nachrichtenkonsumenten überfordern. Zum anderen bekamen wenige Betreiber von → Suchmaschinen und sozialen Netzwerken in nie gekanntem Ausmaß die Möglichkeit, mit Hilfe → künstlicher Intelligenz fernzusteuern, was jeder einzelne von uns im Internet zugespielt bekommt und somit erfährt.

In der digitalen Welt gelten auch für die Aufmerksamkeitsökonomie ganz neue Spielregeln: Aufmerksamkeit lässt sich einerseits kinderleicht mit Desinformation generieren. Andererseits geben uns → soziale Netzwerke Möglichkeiten der Selbstdarstellung, die eine narzisstische Selfie-Kultur und damit neue Ausprägungen von Aufmerksamkeitsökonomie haben entstehen lassen.

Dabei sind in den Kampf um Aufmerksamkeit zunehmend auch Spin-Diktatoren (Guriev/Treisman 2022) und – zum Teil in deren Diensten – ganze Heerscharen von Spin Doctors, Trolls und Social Bots involviert. Es wird inzwischen teils gezielt, teils geschrotet mit Desinformation versucht, auf bestimmte Zielgruppen und damit Öffentlichkeiten Einfluss zu nehmen, indem man deren Aufmerksamkeit gewinnt und absorbiert (Russ-Mohl 2017).

  • Schrumpfende Aufmerksamkeitsspannen. Vor allem Smartphones haben dazu beigetragen, dass viele von uns rund um die Uhr vernetzt sind. Deren kleine Bildschirme dünnen wiederum unsere Informationsaufnahme-Kapazität aus, ja limitieren diese. Die Aufmerksamkeitsspanne schrumpft – auch das ist ein Merkmal der sich weiterentwickelnden Aufmerksamkeitsökonomie.
  • Aufmerksamkeitsschwellen. Roland Schatz hat zusammen mit angelsächsischen Forschern (Eccles et al. 2007) den Begriff der Aufmerksamkeitsschwelle in die Diskussion eingebracht: Um in der → Öffentlichkeit registriert zu werden, müssen Themen im medialen Diskurs einen gewissen Prozentsatz der Aufmerksamkeit erringen – der freilich in Abhängigkeit von der jeweiligen Nachrichtenlage und damit im Wettbewerb um Aufmerksamkeit variiert. Als gesichert dürfte gelten, dass mit extremen Schwarz-weiss-Positionen leichter die Wahrnehmungsschwelle zu überspringen ist als mit differenzierten Grauschattierungen.
  • AufmerksamkeitszyklenDer Journalismus unterliegt in der Aufmerksamkeitsökonomie der Zyklizität. Analytisch unterscheiden lassen sich in aller Regel mehrere Phasen eines Aufmerksamkeitszyklus (Luhmann 1971; Downs 1972, ausführlicher: Russ-Mohl 1981: 16 ff; 1993): die Latenzphase, Initial- und Aufschwungphase, Umschwung- und Abschwungphase eines Zyklus sowie dessen Terminalstadium.

Gegenwärtiger Zustand:
Während in den Sozial- und Geisteswissenschaften inzwischen der Aufmerksamkeitszyklus für die Aufmerksamkeitsökonomie seinen Kulminationspunkt wohl überschritten hat, verschärft und verlagert sich in den Medien und im Journalismus selbst der Wettbewerb um Aufmerksamkeit weiter.

Der Journalismus ist zwar nicht mehr exklusiver → Gatekeeper, aber doch weiterhin für die Generierung des überwiegenden Teils von Nachrichten mit zuständig, die für den öffentlichen Raum relevant sind. Journalisten können heutzutage in Echtzeit messen, wie viele Klicks und damit wieviel Aufmerksamkeit eine Meldung jeweils erzielt. Weil Aufmerksamkeit auch für den Journalismus längst zur harten Währung geworden ist, die über Erfolg bestimmt, entsteht die Versuchung, jeweils den Themen den Vorrang zu geben, die am meisten geklickt werden. Journalisten und Medien orientieren sich in ihrer Nachrichten-Auswahl also immer mehr an der Nachfrage der Nutzer.

Genau an dieser Stelle droht die mediale Aufmerksamkeitsökonomie aber zum gesellschaftlichen Verhängnis zu werden: Mediale Überaufmerksamkeit erzeugt – Corona ist das Musterbeispiel, aber auch beim Rinderwahn, bei SARS und Vogelgrippe hat das so funktioniert – bei den Nutzern sowohl Angst und Panik als auch fokussiertes Interesse, also steigende Nutzernachfrage. Diese verleitet wiederum die Redaktionen zu einer Verengung der Berichterstattung. Tür und Tor für die Boulevardisierung des Journalismus wurden so geöffnet; nicht nur Sex & Crime, auch Angst- und Panikmache wie zuletzt während der Covid-Pandemie und jetzt in der Ukraine-Berichterstattung vor dem drohenden dritten Weltkrieg gehören inzwischen zum Alltagsgeschäft der Mainstream-Medien. Nicht zuletzt wird unter Bedingungen von Unsicherheit und Krisenhaftigkeit der menschliche und journalistische Herdentrieb wirksam, der Medienhypes auslösen und verstärken kann. Journalisten werden zu „victims of groupthink“ (Janis 1972).

Es gilt schlichtweg, die Aufmerksamkeitsökonomie zu bändigen, indem in den Redaktionen wieder mehr auf Domänenkompetenz geachtet wird (Turner/Russ-Mohl in Vorbereitung).

Literatur:

Baerns, Barbara: Öffentlichkeitsarbeit oder Journalismus? Köln [Verlag Wissenschaft und Politik] 1985.

Beck, Klaus; Wolfgang Schweiger (Hrsg.): Attention please! Online-Kommunikation und Aufmerksamkeit. München [Verlag Reinhard Fischer] 2001.

Bernardy, Jörg: Aufmerksamkeit als Kapital. Marburg [Tectum Verlag] 2014.

Bernazzani, Sophia: Das Goldfisch-Dilemma: Inhalte für kurze Aufmerksamkeitsspannen: In: Hubspot, 2017. Das Goldfisch-Dilemma: Inhalte für kurze Aufmerksamkeitsspannen (hubspot.de)

Downs, Anthony: Up and down with ecoloby – the ‚issue attention cycle‘, in: Public Interest, 28, 1972, S. 28-50.

Eccles, Robert G.; Scott C. Newquist; Roland Schatz: Reputation and Its Risks. In: Harvard Business Review, February 2007, S. 2-10.

Franck, Georg: Die neue Währung: Aufmerksamkeit. Zum Einfluss der Hochtechnik auf Zeit und Geld. In: Merkur 486, 1998, S. 688-701.

Franck, Georg: Ökonomie der Aufmerksamkeit, in: Merkur 534/535, 1993, S. 748-761.

Franck, Georg: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München/Wien [Edition Hanser] 1998.

Franck, Georg: Mentaler Kapitalismus. Eine Ökonomie des Geistes. München/Wien [Edition Hanser] 2005.

Franck, Georg: Vanity Fairs: Another View of the Economy of Attention. Cham [Springer Nature] 2020.

Greenslade, Roy: PRs outnumber journalists in the US by a ratio of 4.6 to 1. In: The Guardian, 14.4.2014. PRs outnumber journalists in the US by a ratio of 4.6 to 1 | Media | The Guardian

Guriev, Sergei; Daniel Treisman: Spin Dictators. The Changing Face of Tyranny in the 21st Century. Princeton NJ [Princeton University Press] 2022.

Janis, Irving L.: Victims of Groupthink: A psychological study of foreign-policy decisions and fiascoes. Boston [Houghton Mifflin Company] 1972.

Luhmann, Niklas: Öffentliche Meinung. In: ders.: Politische Planung. Opladen [Westdeutscher Verlag] 1971, S. 9-34.

Merton, Robert K.: Auf den Schultern von Riesen. Frankfurt [edition suhrkamp] 1983.

Noelle-Neumann, Elisabeth: Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung – unsere soziale Haut. Zürich/München [Piper] 1980.

Nolte, Kristina: Der Kampf um Aufmerksamkeit. Wie Medien, Wirtschaft und Politik um eine knappe Ressource ringen. Frankfurt/New York [Campus] 2005.

Ruß-Mohl, Stephan: Reformkonjunkturen und politisches Krisenmanagement: Westdeutscher Verlag [Opladen] 1981.

Ruß-Mohl, Stephan: Konjunkturen und Zyklizität in der Politik: Themenkarrieren, Medienaufmerksamkeits-Zyklen und ‚lange Wellen‘, in: Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft Nr. 24: Policy-Analyse, 1993, S. 356-370.

Ruß-Mohl, Stephan: Nach der Tragödie die Komödie. Der Wettbewerb um öffentliche Aufmerksamkeit wird heftiger, in: NZZ, 29.01.1999, S. 66.

Russ-Mohl, Stephan: Die informierte Gesellschaft und ihre Feinde. Warum die Digitalisierung unsere Demokratie bedroht, Köln [Herbert von Halem Verlag] 2017.

Russ-Mohl, Stephan: Stärken und Schwächen der Berichterstattung über Corona. In: Schatz, Roland (Hrsg.): Bericht zur Lage der Informationsqualität in Deutschland, Zürich [Innovatio Verlag] 2021, S. 27-53.

Simon, Herbert A.: Designing organizations for an information-rich world, Vortrags-MS. Pittsburgh [Carnegie Mellon University] 1969. Simon-H.A._Designing-organizations-for-an-information-rich-world.pdf (nmh-p.de)

Turner, Sebastian; Stephan Russ-Mohl (Hrsg.): Deep Journalism. Domänenkompetenz als Chance für den Journalismus Köln [Herbert von Halem Verlag] in Vorbereitung.

 

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Stephan Russ-Mohl
*1950, Pr. Dr., emeritierter Professor für Journalistik und Medienmanagement (Università della Svizzera italiana in Lugano) sowie Gründer des European Journalism Observatory. Absolvent der Deutschen Journalistenschule, München; Studium der Sozial- und Verwaltungswissenschaften in München, Konstanz und Princeton/USA; von 1985 bis 2001 Ordinarius für Publizistikwissenschaft an der FU Berlin. Website: Russmohl.de