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Genres

Eine Einführung von Horst Pöttker

Wortherkunft: lat. genus, frz. genre = Gattung, Wesen, Art

Definition:
Als journalistische Genres bezeichnet man mehr oder weniger feste, etablierte und durch Lehrbücher formell standardisierte Darstellungsformen im professionellen Journalismus, z. B. → Nachricht, → Reportage, → Kommentar oder → Interview.

Geschichte:
Die zentralen Genres Nachricht, Kommentar, Reportage und Interview haben sich im Journalismus mit der Massenpresse durchgesetzt, die als gewinnorientiertes kapitalistisches Unternehmen für ein möglichst großes und heterogenes → Publikum attraktiv sein sollte und gleichzeitig von den Verlegern nach betriebswirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Kalkülen organisiert wurde.

Da die ersten kommerziellen ‘Penny-Papers’ in den USA bereits in den 1830er Jahren gegründet wurden, hat sich die Entwicklung der Genres zu professionellen Standards zuerst im amerikanischen Journalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzogen, mit einem Schub in den 1880er Jahren. In Europa, wo die Massenpresse (‘Generalanzeiger’) ein halbes Jahrhundert später entstand, fand die Entwicklung der Genres mit entsprechender Verzögerung statt, wobei sowohl die Orientierung am amerikanischen Muster als auch eigenständige funktionale Faktoren eine Rolle gespielt haben.

Auch wenn die Genres erst durch die Massenpresse und andere Medienentwicklungen im Journalismus auf breiter Front durchgesetzt worden sind, haben einzelne kreative Journalisten sie schon weit früher praktiziert, weil sie ihr kommunikatives Potential erkannt hatten.

Gegenwärtiger Zustand:
Genres sind lern- und trainierbare → Arbeitstechniken. Sie dienen der Aufgabe des Journalismus, → Öffentlichkeit im Sinne eines Optimums an Unbeschränktheit der gesellschaftlichen Kommunikation herzustellen, indem sie für journalistische Mitteilungen ( → Informationsinhalte) die Chance erhöhen, von Lesern, Hörern oder Zuschauern aufgenommen zu werden. Genres ebnen Informationsinhalten den Weg zum Publikum, indem sie helfen, Rezeptionswiderstände zu überwinden. Durch ihre feste Form wecken alle Genres bei potentiellen Rezipienten bestimmte Erwartungen an das journalistische Produkt. Sie eignen sich als Brücken für den Kommunikationsprozess, der zur Aufnahme des Informationsinhalts durch das Publikum führt. Über die generelle Gewöhnung hinaus wird die → Rezeption durch besondere Aufmerksamkeits- und → Verständlichkeitsfaktoren gefördert, die als kommunikative Leistungsprinzipien für das jeweilige Genre charakteristisch sind. Mit den kommunikativen Leistungsprinzipien korrespondieren ebenfalls genrespezifische stilistische Merkmale.

Aus der kommunikativen und stilistischen Spezifik ergeben sich außerdem Beziehungen zwischen Genres und Typen von Gegenständen des Journalismus. Wegen der unterschiedlichen Gegenstandstypen können darüber hinaus unterschiedliche → Recherchetechniken für Genres spezifisch sein.

Abgesehen von ihrer kommunikativen Funktion sind Genres journalistische Produktionsroutinen, mit denen sich für die Journalisten und Medienunternehmen ökonomische Funktionen verbinden. Genres bringen eine eingeschliffene Regelhaftigkeit von Arbeitsabläufen mit sich, die Zeit spart und die Koordination von Tätigkeiten im Rahmen der → redaktionellen Organisation erleichtert.

Forschungsstand:
Im deutschen Sprachgebiet sind journalistische Genres am intensivsten in der DDR von Wissenschaftlern der Sektion Journalistik der Karl-Marx-Universität Leipzig erforscht und in der → Journalistenausbildung gelehrt worden. Der dortige Wissenschaftsbereich Sprache und Journalismus hat eine reichhaltige Literatur über stilistische Merkmale von Genres hervorgebracht, wobei man durchaus ihre kommunikative Funktion im Auge hatte. Nach 1989 versiegte die Leipziger Genrelehre. In der Kommunikationswissenschaft des vereinten Deutschlands ist es nur vereinzelt zu Anknüpfungsversuchen gekommen. Ähnlich unproduktiv war schon die wissenschaftliche Literatur über journalistische Textgattungen in der Bundesrepublik Deutschland vor 1990.

In der englischsprachigen Kommunikationswissenschaft, die stärker am Journalismus und seinen professionellen Standards interessiert ist, konzentriert sich die Genre-Forschung bisher auf die Nachricht. Für die Entstehung der Nachricht im 19. Jahrhundert werden dabei vor allem äußere Faktoren wie die anfängliche Unzuverlässigkeit der Telegraphentechnologie, Machtinteressen der Nordstaaten-Regierung im Amerikanischen Bürgerkrieg, der Umbruch zum technokratischen Bildungsideal in der ‘Progressive Era’ oder als ökonomische Zwänge interpretierte Verlegerinteressen verantwortlich gemacht. Genres hingegen werden nur selten mit der kommunikativen Leistungsfähigkeit des Journalismus in Zusammenhang gebracht. Insgesamt gehört die sowohl historisch als auch funktional orientierte Genre-Forschung, die für die überzeugende Vermittlung der Genres in der Journalistenausbildung eine wichtige Grundlage wäre, zu den Desideraten der Journalistik und Kommunikationswissenschaft.

Literatur:

Andriefski, Peter; Peter Hackenschmidt; Kurt Rose: Die Nachricht als journalistisches Genre. Studientexte zur journalistischen Methodik. Leipzig [Karl-Marx Universität, Sektion Journalistik] 1989.

Haller, Michael: Die Reportage. Ein Handbuch für Journalisten. 2. Auflage. München [Ölschläger] 1990.

Haller, Michael: Das Interview. Ein Handbuch für Journalisten. München [Ölschläger] 1991.

Häusermann, Jürg: Journalistisches Texten. Sprachliche Grundlagen für professionelles Informieren. Konstanz [UVK] 2001.

Karl-Marx-Universität, Sektion Journalistik (Hrsg.): Wörterbuch der sozialistischen Journalistik. Leipzig 1984.

Karst, Theodor (Hrsg.): Reportagen. Stuttgart [Reclam] 1976.

Kurz, Josef; Daniel Müller; Joachim Pötschke; Horst Pöttker; Martin Gehr: Stilistik für Journalisten. 2. Auflage. Wiesbaden [VS Verlag für Sozialwissenschaften] 2010.

Langer, Inghard; Friedemann Schulz von Thun; Reinhard Tausch: Sich verständlich ausdrücken. 5. Auflage. München/Basel [Ernst Reinhardt] 1993.

La Roche, Walther von: Einführung in den praktischen Journalismus. Mit genauer Beschreibung aller Ausbildungswege. 11. Auflage. München [List] 1988.

Pöttker, Horst: Heines Tagesberichte für die „Allgemeine Zeitung“. Ein Beitrag zur Geschichte und Bestimmung der Reportage. In: Jarren, Otfried; Gerd G. Kopper; Gabriele Toepser-Ziegert (Hrsg.): Zeitung – Medium mit Vergangenheit und Zukunft. Eine Bestandsaufnahme. Festschrift aus Anlass des 60. Geburtstags von Hans Bohrmann. München [de Gruyter] 2000, S. 27-46.

Pöttker, Horst: News and its Communicative Quality: The Invertred Pyramid – when and why did it appear? In: Journalism Studies, 4, 2003, S. 501-511.

Roloff, Eckart Klaus (Hrsg.): Journalistische Textgattungen. München [Oldenbourg] 1982.

Schulze, Rolf: Die Reportage in der sozialistischen Presse. Leipzig [Karl-Marx-Universität Sektion, Journalistik] 1980.

Straßner, Erich: Journalistische Texte. Grundlagen der Medienkommunikation. Tübingen [Niemeyer] 2000.

Horst Pöttker
*1944, Prof. Dr., Gründungsherausgeber des Journalistikons. Von 1996 bis 2013 Professor am Institut für Journalistik der Technischen Universität Dortmund. Seit 2017 Initiator und Mitherausgeber der Online-Zeitschrift Journalistik/Journalism Research. Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Geschichte des Journalismus, Berufsethik, journalistische Darstellungsformen. Kontakt: horst.poettker (at) tu-dortmund.de Horst Pöttker hat Einführungsbeiträge geschrieben zur → Geschichte des Journalismus, → Berufsethik, zu → journalistischen Genres sowie zur → Pressefreiheit.

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