Aleksandr Puškin

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Aleksandr Sergeevič Puškin (1799-1837) ist nicht nur der russische Nationaldichter, dessen Poesie jedes Schulkind kennt und an dessen Geburtstag im ganzen Land der Tag der russischen Sprache gefeiert wird. Er ist auch der erste moderne Journalist Russlands.

Puškin stammte aus der Oberschicht der Hauptstadt St. Petersburg. Er besuchte das später nach ihm benannte Elite-Internat von Zarskoje Selo. Schon als Schüler schloss er sich der Gesellschaft ,Arsamas‘ an, die sich für die Erneuerung der in Traditionen erstarrten russischen Hochsprache einsetzte. Nach Abschluss des Lyzeums trat er der Literatur- und Theatergemeinschaft ,Grüne Lampe‘ bei, durch die er mit Aktivisten der bürgerlich-revolutionären Bewegung der ,Dekabristen‘ in Berührung kam.

Aufgrund dieser Kontakte fiel er bei Zar Alexander I. in Ungnade und entging der Verbannung nach Sibirien nur, weil einflussreiche Freunde sich für ihn einsetzten. St. Petersburg musste er jedoch verlassen und lebte danach an verschiedenen Orten Südrusslands. 1824, nach einem hymnischen Text über Atheismus, wurde er aus dem Staatsdienst entlassen und auf das elterliche Gut verbannt. Dort pflegte er einen intensiven literarischen Briefwechsel mit Freunden und schrieb eines seiner Hauptwerke, das Drama Boris Godunow. Ab 1826, nach dem Tod Alexanders I., durfte sich Puškin wieder in Moskau und St. Petersburg aufhalten, seine Werke wurden aber von Zar Nikolaus I. persönlich zensiert und seine Aktivitäten streng überwacht.

Nachdem Puškin 1831 Natalja Gontscharowa aus reicher Familie geheiratet hatte, folgte eine besonders fruchtbare Schaffensperiode auf dem Land. Später, in St. Petersburg, wo das Ehepaar vier Kinder bekam, konnte es am luxuriösen Leben des Zarenhofs teilhaben. Allerdings haderte der auf Unabhängigkeit bedachte Puškin mit diesem Leben und war froh, 1836 endlich die Genehmigung für die lange von ihm geplante kulturpolitische Vierteljahreszeitschrift Sowremennik (Der Zeitgenosse) zu erhalten.

Wenige Monate später, Anfang 1837, starb Puškin jedoch nach einem Duell, in das er sich wegen einer Eifersuchtsaffäre um seine Frau begeben hatte. Er wurde 37 Jahre alt. Trotz seiner Jugend war er bereits so berühmt, dass man aus Angst vor der Masse der Trauernden seine Leiche in ein Kloster bei Pskov überführte, wo sich sein Grab bis heute befindet (vgl. Wikipedia 2017).

An Puškins journalistischem Werk zeigt sich einerseits, was den „Beruf zur Öffentlichkeit” (vgl. Pöttker 2010) ausmacht, andererseits, was ihn in „verspäteten Nationen” (vgl. Plessner 1959) der Modernisierung wie Russland oder Deutschland beeinträchtigen kann (vgl. Stan’ko 2016).

Anders als → Heinrich Heine (vgl. Pöttker 2016) hat Puškin sein Land nur einmal kurz verlassen: 1829 begleitete er die Armee auf dem Feldzug ins armenisch-türkische Arzrum. Sein Bericht über diese „Reise nach Arzrum” (Puschkin 1998) gehört zu den schöpferischen Leistungen Puškins für den Journalismus, weil alle Merkmale des Genres → Reportage, das den Leser die geschilderten Situationen miterleben lässt, hier bereits hevortreten. Nur die Betonung von Echtzeit ist bei Puškin schwächer ausgeprägt als in Heines Tagesberichten aus dem Pariser Aufstand von 1832 (vgl. Pöttker 2000). Das liegt daran, dass Puškin nicht für eine aktuelle Tageszeitung schrieb.

Eine weitere journalistische Leistung Puškins ist die Herausgabe des Sovremennik nach dem Modell englischer Blätter. In den 1860er Jahren sollte die Zeitschrift zum führenden Organ der revolutionären Demokraten werden. Typisch für den → schriftstellerischen Journalismus vor der Ausdifferenzierung von Berufsrollen war, dass Puškin als Verleger, Herausgeber, (Chef-)Redakteur und Autor in einer Person für den Sovremennik arbeitete. Sein publizistisches Programm hat er im dritten Heft als fiktiven Leserbrief „An den Verleger” erklärt. Aufschlussreich ist das Selbstverständnis, das daraus und aus anderen programmatischen Schriften spricht, mit denen er sich gegen seinen Widersacher, Journalist und Schriftsteller Fadej Bulgarin (1789-1859), zur Wehr setzte. Auch seine Lust auf öffentliche Kontroversen zeigte Puškin als einen Pionier des modernen Journalismus.

Puškin hat sein Schreiben nicht „als eine elegante und aristokratische Beschäftigung” (Puschkin 1973b: 417) betrachtet, wie es bis dahin üblich war, sondern als Beruf, der als „Grundlage einer kontinuierlichen Versorgungs- oder Erwerbschance” (Weber 1972: 80) taugen musste. Das zeigte der Kampf um Honorare, den er sein Leben lang geführt hat. Außerdem setzte er sich für Pressefreiheit als notwendige Bedingung journalistischer Arbeit ein. Das demonstrieren die Auseinandersetzungen mit der Zensur, in die er immer wieder verwickelt war. Und wie jeder journalistische Profi wusste er eine Grenze zwischen gesellschaftlich notwendiger Öffentlichkeit und zu respektierender Privatsphäre zu ziehen. In einer Verteidigungsschrift gegen Bulgarin steht der Satz: „Allmählich beginnt man die persönliche Ehre des Bürgers zu achten und es wächst die Macht der öffentlichen Meinung, auf die sich in einer entwickelten Gesellschaft die Reinheit der Sitten stützt” (Puschkin 1973a: 113).

Puškin hat sich nicht gescheut, sein ästhetisches Sprachvermögen zu nutzen, um bei den Lesern anzukommen. Wer sich über die Kombination von Journalismus mit Dichtung wundert, sei daran erinnert, dass Lyrik diejenige belletristische Gattung ist, die ohne Fiktionalität auskommt. Wo sich Fiktionalität in Puškins Balladen doch findet, weist die russische Journalistik darauf hin, dass z. B. seine berühmte Fontäne von Bachčisaraj reportagehafte Züge trägt. Wenn journalistische Werke in Russland mehr als im Westen nach ihrer literarischen Qualität beurteilt werden, mag das auch am traditionellen Mangel an Pressefreiheit liegen, der → Recherche als Qualitätsmaßstab nicht aufkommen lässt.

Die autokratische Tradition Russlands hat in Puškins journalistischer Mentalität Spuren hinterlassen. Das gilt vor allem für seine Haltung gegenüber dem Publikum. Hier zeigt sich eine Kluft zwischen seiner privaten Korrespondenz und den zur Veröffentlichung bestimmten Schriften (vgl. Pöttker 2006). In den Briefen mokiert sich Puškin über die Dummheit der Leser (vgl. Puschkin 1973b: 420). In seinen programmatischen Äußerungen dagegen äußert er Respekt sogar vor den → Unterhaltungsbedürfnissen des Publikums und warnt ausdrücklich davor, in Journalismus oder Literatur eine „pädagogische Beschäftigung” (vgl. Puschkin 1973a: 118) zu sehen.

Dies kann man auch als Fähigkeit des Journalisten Puškin betrachten, zwischen privaten Ansichten und professionellen Notwendigkeiten wie dem Respekt vor der Mündigkeit des Publikums zu unterscheiden. Aber auch dann bleibt der Eindruck, dass sich in Puškins privater Abschätzigkeit gegenüber dem Publikum ein elitäres Kommunikationsklima niederschlägt, das für das Bildungsbürgertum verspäteter Nationen charakteristisch ist.

Dass bei ihm eine moderne Berufsauffassung schon Anfang des 19. Jahrhunderts im autokratischen Russland nachzuweisen ist, spricht für die Entwicklung des Journalismus als kulturübergreifender Prozess, der mit dem wachsenden Bedarf an Öffentlichkeit in komplexen Gesellschaften generell zusammenhängt. Die Deformationen, von denen Puškins Selbstverständnis nicht frei ist, weisen dagegen auf Gefährdungen hin, denen der Journalismus dort ausgesetzt ist, wo ihm Voraussetzungen wie die kulturelle Verankerung der Kommunikationsfreiheit fehlen. Die Widersprüche zwischen Autokratie und Öffentlichkeit früh erfahren, ausgehalten und zum Ausdruck gebracht zu haben, ist eine bleibende Leistung Puškins für den Journalismus.

Literatur:

Plessner, Helmuth: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes. Stuttgart [Kohlhammer] 1959 (1935).

Pöttker, Horst: Heines Tagesberichte für die „Allgemeine Zeitung“. Ein Beitrag zu Geschichte und Bestimmung der Reportage. In: Jarren, Otfried; Gerd G. Kopper; Gabriele Toepser-Ziegert (Hrsg.): Zeitung – Medium mit Vergangenheit und Zukunft. München [Saur] 2000, S. 27-46.

Pöttker, Horst: Öffentlichkeit und Autokratie. Aleksandr Puškin und die Anfänge des modernen Journalismus in Russland. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (LiLi), 142, 2006, S. 8-42.

Pöttker, Horst: Der Beruf zur Öffentlichkeit. In: Publizistik, 2, 2010, S. 107-128.

Pöttker, Horst: „Alles Weltwichtige an Ort und Stelle betrachten und behorchen“. Heinrich Heine als Protagonist des modernen Journalismus. In: Pöttker, Horst; Aleksandr I. Stan’ko (Hrsg.): Mühen der Moderne. Von Kleist bis Tschechow – deutsche und russische Publizisten des 19. Jahrhunderts. Köln [Herbert von Halem Verlag] 2016, S. 92-145.

Puschkin, Alexander Sergejewitsch: Gesammelte Werke. Fünfter Band. Aufsätze und Tagebücher. Frankfurt/M. [Insel] 1973a.

Puschkin, Alexander Sergejewitsch: Gesammelte Werke. Sechster Band. Briefe. Frankfurt/M. [Insel] 1973b.

Puschkin, Aleksandr: Die Reise nach Arzrum während des Feldzugs im Jahre 1829. Berlin [Friedenauer Presse] 1998.

Stan’ko, Aleksandr I.: Die fantastische Wirklichkeit in der Publizistik Aleksandr S. Puškins. In: Pöttker, Horst; Aleksandr I. Stan’ko (Hrsg.): Mühen der Moderne. Von Kleist bis Tschechow – deutsche und russische Publizisten des 19. Jahrhunderts. Köln [Herbert von Halem Verlag] 2016, S. 148-163.

Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. 5. Auflage. Tübingen [J.C.B. Mohr] 1972.

Wikipedia: Alexander Sergewitsch Puschkin. In: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie, 2017. https://de.wikipedia.org/wiki/Alexander_Sergejewitsch_Puschkin

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Horst Pöttker
*1944, Prof. Dr., Gründungsherausgeber des Journalistikons. Von 1996 bis 2013 Professor am Institut für Journalistik der Technischen Universität Dortmund. Seit 2017 Initiator und Mitherausgeber der Online-Zeitschrift Journalistik/Journalism Research. Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Geschichte des Journalismus, Berufsethik, journalistische Darstellungsformen. Kontakt: horst.poettker (at) tu-dortmund.de Horst Pöttker hat Einführungsbeiträge geschrieben zur → Geschichte des Journalismus, → Berufsethik, zu → journalistischen Genres sowie zur → Pressefreiheit.