Reich-Ranicki, Marcel (Marceli Reich), geb. 2.6.1920 in Włocławek (Polen), gest. 18.9.2013 in Frankfurt am Main.
Er hatte wahrhaftig seine Fans: Bei den Dreharbeiten für eine Fernsehdokumentation zu seinem 85. Geburtstag stießen der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki und das Kamerateam in der Frankfurter Innenstadt zufällig auf Anhänger von Eintracht Frankfurt. Die Fußballfreunde erkannten ihn sofort. Sie hoben begeistert ihre Bierflaschen und skandierten lautstark seinen Namen.
→ Feuilleton trifft Popularkultur – kein anderer Kritiker in Deutschland genoss je eine derartige „Street credibility“ (Detering 2014: 11) wie der langjährige Literaturchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Das verdankte er unter anderem der ZDF-Sendung Das Literarische Quartett. Darin präsentierte er von 1988 bis 2001 im Streitgespräch vor einem Millionenpublikum neue Bücher – und auch sich selbst, sein Temperament, seinen Witz und seine Streitbarkeit. Anders als die Kulturteile der Zeitungen erreichte das bis dahin unbekannte Gesprächsformat nicht nur die Eingeweihten und Gebildeten: Mehr als die Hälfte der Zuschauer hatte kein Abitur. Und oft stieg der Absatz der in der Sendung vorgestellten Bücher schlagartig um viele tausend Exemplare.
Für sein Bemühen, Literatur über das Fernsehen zu popularisieren, erhielt Reich-Ranicki 1989 den Bambi und 2000 die Goldene Kamera. Als er 2008 den Deutschen Fernsehpreis vor laufender Kamera zurückwies, wurde er sogar in den sozialen Medien zum Star: Das YouTube-Video von der Veranstaltung ist bis heute über 1,5 Millionen Mal angeklickt worden.
Aber auch bei großen Teilen des buchaffinen Bildungsbürgertums genoss Reich-Ranicki Achtung und Vertrauen. Sein rastloses Engagement für die Buchwelt, sein Um- und Ausbau des FAZ-Feuilletons, seine Vorträge, die ungezählten → Interviews, → Essays und Jurytätigkeiten (unter anderem beim Ingeborg-Bachmann-Preis) machten ihn zweifellos zum einflussreichsten Feuilletonisten der Bundesrepublik. Selbst die akademische Elite konnte ihm schließlich den Respekt nicht verweigern. Viele namhafte Hochschullehrer schrieben als Kritiker für Reich-Ranicki in der FAZ – auch wenn die deutsche Germanistik den ,Parvenu‘, der nie studiert hatte, lange ignorierte. Reich-Ranicki erhielt im Laufe seines Lebens die Ehrendoktorwürde von neun Universitäten im In- und Ausland und insgesamt 25 bedeutende Literaturpreise und Auszeichnungen, darunter das große Verdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik Deutschland. Die Laudatio bei der Verleihung des Henri-Nannen-Preises 2008 hielt Bundeskanzlerin Angela Merkel (vgl. Merkel 2008).
Nie zuvor in Deutschland hatte ein Kulturjournalist einen derartigen Bekanntheitsgrad erreicht. Dabei war Reich-Ranicki im persönlichen und beruflichen Umgang schwierig. Sein kompromissloser Stil, seine mitunter schroffe und apodiktische Art zu urteilen und seine Lust am persönlich geführten Streit verschafften ihm auch viele Gegner und Feinde. Vor allem in der Welt der Autoren mischten sich Bewunderung und Dankbarkeit für seine journalistische Mittlertätigkeit mit Angst, Wut und sogar Hass. Man sehnte sein Lob herbei und fürchtete nichts so sehr wie seine Verrisse. Häufig kam es zu schweren Konflikten, zum Beispiel mit Peter Rühmkorf (vgl. Hilse/Opitz 2015), Günter Grass (vgl. Weidermann 2019) oder Martin Walser, der in seinem Roman Tod eines Kritikers auf höchst fragwürdige Art ein Zerrbild von ihm zeichnete.
Reich-Ranicki sezierte Literatur nicht nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten, sondern betonte den gesunden Menschenverstand als Maßstab. Bücher durften vor allem nicht langweilen, sie mussten Menschen berühren, wichtige Themen zur Sprache bringen. Diese Literatur ins öffentliche Gespräch zu bringen, war sein Lebensziel. Das entsprach jenem Ideal, mit dem sich das → Feuilleton vor gut 200 Jahren von der Wissenschaft gelöst hatte, ohne sie als höhere, gleichsam historische Instanz in Frage zu stellen.
Reich-Ranickis Leben war ein Leben für dieses Ideal. Es war zugleich ein Leben, das von der politischen Zerrissenheit und den Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts geprägt war. 1920 in der polnischen Grenzstadt Włocławek als Marceli Reich geboren, siedelt er neun Jahre später mit der Familie nach Berlin um, wo er 1938 das Abitur ablegt. In der Schule ist er noch wenig antisemitischer Diskriminierung ausgesetzt. Gleichwohl fühlt er sich als Außenseiter. Er entdeckt die Welt der Bücher als Gegenwelt, verschlingt die Klassiker, entdeckt vor allem die ,Schriftstellerjournalisten‘ wie → Heine, Tucholsky, → Kästner oder Kisch.
Zum Germanistikstudium wird er als Jude 1938 nicht mehr zugelassen. Noch im gleichen Jahr weisen ihn die NS-Machthaber mit Tausenden anderer Polen aus dem Deutschen Reich aus. Er schlägt sich nach Warschau durch, wohin auch seine Familie zurückgekehrt ist. Ein Jahr später überfällt die Wehrmacht Polen und legt Warschau in Trümmern. Es beginnt eine Zeit des Terrors, der Razzien, Verhaftungen und willkürlichen Erschießungen. Ende 1940 lassen die Deutschen den von Juden bewohnten Stadtbezirk der polnischen Hauptstadt einmauern – mit Hunderttausenden sind Reich und seine Familie im Warschauer Getto gefangen. Erst in buchstäblich letzter Minute entgehen er und seine Frau dem Abtransport ins Vernichtungslager und können aus dem Getto fliehen. Beide schließen sich der polnischen Armee an. Reich tritt nach dem Krieg in die Kommunistische Partei ein, arbeitet für den Geheimdienst, wird unter dem neuen Namen Ranicki polnischer Konsul in London. 1949 aber bittet er um Abberufung, kehrt nach Warschau zurück, wird kurz inhaftiert und aus der KP ausgestoßen.
Nach dieser bis heute umstrittenen Lebensphase arbeitet er noch neun Jahre in Polen als Lektor und Literaturkritiker mit marxistischer Prägung, die aber zunehmend schwächer wird. Kontakte mit Westautoren und westlichen Zeitungen führen schließlich 1958 zur Übersiedlung in die Bundesrepublik, wo er sich fortan Marcel Reich-Ranicki nennt. Er schreibt frei für die FAZ und die Welt und wird für 13 Jahre ständiger → Literaturkritiker der ZEIT, die ihm aber nie eine feste Stelle anbietet. 1973 schließlich holt ihn Joachim Fest nach Frankfurt, wo er bis 1988 als leitender Redakteur für Literatur und literarisches Leben arbeitet, bevor er das Literarische Quartett übernimmt.
Reich-Ranicki hat die Stationen seines Lebens in seiner bewegenden, in 18 Sprachen übersetzten und 2009 verfilmten Autobiographie Mein Leben (Reich-Ranicki 1999) geschildert. Seine Erinnerungen lassen nachempfinden, wie sich durch Leseerfahrungen und menschliche Begegnungen sein Berufsziel des Literaturvermittlers herausbildete und festigte. Dabei zeigen sich vier Säulen, die seine Arbeit bis ans Lebensende tragen sollten:
- Literaturkritik als journalistisches Angebot dient dem Medienpublikum, nicht den Autoren. Sie hat die Voraussetzungen und Reaktionen der Leserinnen und Leser zu berücksichtigen und ihnen Orientierung zu geben: „Wir sind nicht dazu da, die Autoren zu belehren, wie sie schreiben sollen, sondern dem Publikum zu sagen, was und wie die Autoren geschrieben haben.“ (Reich-Ranicki 1984: 100). Dabei sah er sich nicht als Richter (was ihm oft unterstellt wurde), sondern als Anwalt – ein Anwalt, der freilich nicht den Geschmack des Publikums bedienen, sondern „Bedürfnisse von Lesern“ (Reich-Ranicki 2006: 346) wecken will.
- Um das Publikum zu interessieren, muss Literaturkritik in der Lage sein, es anzusprechen, ohne es zu überfordern. Sie muss sich um Verständlichkeit bemühen. Es war eine der großen Stärken Reich-Ranickis, unprätentiös zu sprechen und zu schreiben, jedes Imponiergehabe und das, was man als Feuilletonstil beklagt, zu vermeiden.
- Literaturkritik muss, will sie neugierig auf Bücher machen, unterhaltsam sein. Das heißt nicht, dass sie an der Oberfläche der Dinge entlangtanzen soll. Es ist auch nicht als Plädoyer für sogenannte Unterhaltungsliteratur zu verstehen (die hat Reich-Ranicki nie interessiert). Vielmehr soll sie selbst stilistisch jene Lust am Lesen widerspiegeln, die sie wecken will.
- Schließlich muss Literaturkritik von einem festen Standpunkt aus über die Qualität von Büchern urteilen. Darin sah sich Reich-Ranicki in der Tradition seiner journalistischen Vorbilder (vgl. Reich-Ranicki 1994), von Lessing über Fontane bis Tucholsky. Vermutlich überschätzte er dabei, welchen Wert ein mündiges, informationsorientiertes Feuilletonpublikum heute dem Verdikt des → Kritikers beimisst. Dennoch hat er es über Lob und Verriss in kaum einer Rezension versäumt, auch zu informieren und argumentativ zu belegen, worauf seine Haltung gründet.
Haltung war insgesamt die größte Stärke des Journalisten Marcel Reich-Ranicki. Stets blieb er auf Unabhängigkeit von äußeren Einflüssen bedacht. Er stellte sich gegen die Linie seiner Zeitung, als 1972 der sogenannte Radikalenerlass erging. Er verteidigte, obwohl selbst längst kein Linker mehr, linke Autoren im sogenannten Deutschen Herbst 1977. Auch zum Handlungsgehilfen des Buchbetriebs ließ er sich nicht machen. Nie hat er Gefälligkeitsrezensionen geschrieben, nie auf Schmeicheleien von Autoren mit Schmeicheleien reagiert, nie Verlegerinteressen bedienen wollen – auch um den Preis zerstörter Freundschaften. Niemand hat das glaubwürdiger (weil seufzend) attestiert als der Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld: „Marcel Reich-Ranicki mag gelegentlich Missverständnisse oder gar leichtere Fehlurteile eingestehen, in einem ist er unbeugsam: in seiner Haltung gegenüber Verlegern: ,Wir [Literaturkritiker] sind nicht da, Ihnen zu helfen. Man kann sogar sagen, wir sind dazu da, Sie zu stören. Wir sind nicht Ihr verlängerter Arm, sondern eine Opposition!‘“ (Unseld 1985: 47)
Literatur:
Detering, Heinrich: Wenn Liebe sich als Angriff kostümiert. Was die Germanistik Marcel Reich-Ranicki alles zu verdanken hat – eine Würdigung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.06.2014, S. 11.
Hilse, Christoph; Stephan Opitz: Marcel Reich-Ranicki/Peter Rühmkorf. Der Briefwechsel. Göttingen [Wallstein] 2015.
Merkel, Angela: Die Zeit ist reif, eine Ikone des Feuilletons zu ehren. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.05.2008, S. 26.
Reich-Ranicki, Marcel: Die Anwälte der Literatur. Stuttgart [DVA] 1994.
Reich-Ranicki, Marcel: Erst die Poesie, dann die Theorie. In: Jochen Jung (Hrsg.): Was Kritiker gerne läsen. Literaturalmanach 1984. Salzburg [Residenz] 1984, S. 99-101.
Reich-Ranicki, Marcel: „Ich will Bedürfnisse wecken“ (Interview mit Gerrit Bartels). In: Marcel Reich-Ranicki: Aus persönlicher Sicht. Gespräche 1999 bis 2006. Hrsg. v. Christiane Schmidt. München [DVA] 2006, S. 341-356.
Reich-Ranicki, Marcel: Mein Leben. Stuttgart [DVA] 1999.
Reich-Ranicki, Marcel; Sigrid Löffler; Hellmuth Karasek: … und alle Fragen offen. Das Beste aus dem Literarischen Quartett. Hrsg. v. Stephan Reichenberger unter Mitarbeit von Alex Rühe. Mit einem Vorwort von Johannes Willms. München [Heyne] 2000.
Reus, Gunter: Marcel Reich-Ranicki. Kritik für alle. Darmstadt [wbg Theiss] 2020.
Unseld, Siegfried: Marcel Reich-Ranicki zu ehren. In: Jens Jessen (Hrsg.): Über Marcel Reich-Ranicki. Aufsätze und Kommentare. München [dtv] 1985, S. 45-51.
Weidermann, Volker: Das Duell. Die Geschichte von Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki. Köln [Kiepenheuer & Witsch] 2019.
Zum Weiterlesen:
Anz, Thomas: Marcel Reich-Ranicki. München [dtv] 2004.
Reich-Ranicki, Marcel: Der doppelte Boden. Ein Gespräch mit Peter von Matt. Frankfurt am Main [Fischer] 1994.
Reich-Ranicki, Marcel: Lauter Lobreden. München [dtv] 1992.
Reich-Ranicki, Marcel: Lauter Verrisse. Mit einem einleitenden Essay. Erweiterte Neuausgabe. München [dtv] 1992.
Reich-Ranicki, Marcel: Meine deutsche Literatur seit 1945. Hrsg. v. Thomas Anz. München [Pantheon] 2017.
Wittstock, Uwe: Marcel Reich-Ranicki. Die Biografie. München [Blessing] 2015.