
Eine Gattung mit Geschichte – nicht nur zum Glossieren
Die Glosse ist eine → Karikatur in Worten.
Ferdinand Simoneit
Wortherkunft: von altgr. glossa (γλῶσσα) = Zunge, Sprache.
Das Wort Glosse hat eine lange und vielfältige Geschichte. Im Altgriechischen stand glossa für Zunge wie auch für Sprache, Sprachfertigkeit und Redegabe. Daraus entwickelte sich im Lauf der Jahrhunderte in den Sprach- und Literaturwissenschaften die Bezeichnung für eine Anmerkung im Sinn einer Randnotiz, einer Ergänzung und/oder einer Korrektur. Dazu gibt es das Verb glossieren. Später verstand man unter der Glosse eine mal spöttische, mal ironische und satirische Randbemerkung, woraus sich die Bezeichnung für die → journalistische Darstellungsform entwickelte.
Die Glosse ist eine Form des → Kommentars und argumentiert polemisch, vergleichend, analytisch oder konstruktiv. Knapp, zugespitzt und satirisch kommt sie auf den Punkt; durch Komik, Wortspiele und eine überraschende Pointe nimmt sie das Geschehen, beteiligte Institutionen oder Personen aufs Korn (Linden/Bleher 2000: 87). Sie widmet sich leichten Themen, aber auch „jenen unernsten Aspekten von ernsten Dingen, die uns dazu verleiten, bei allem Tragischen auch das Komische im Geschehen zu entdecken“ (Fasel 2008: 108).
Eine besondere Form ist die Sprachglosse. Dabei geht es oft um den neueren, aktuellen Sprachgebrauch, etwa mit Blick auf Modewörter zum Beispiel aus dem Englischen, aber auch aus den Bereichen Sport und Politik.
In der Zeitung findet sich die Glosse häufig an der gleichen Stelle. Ein bekanntes Beispiel dafür ist seit deren Gründungszeit „Das Streiflicht“ auf der ersten Seite der Süddeutschen Zeitung, das stets unsigniert erscheint. Aus neuerer Zeit sei das „So gesehen“ auf der letzten Seite des Spiegel genannt. Im Lokaljournalismus findet sich die Glosse mit Titeln wie „Unterm Strich“ oder „Burggeflüster“ und trägt zur Leser-Blatt-Bindung bei. Sie kommentiert das alltägliche Geschehen einer Region in unterhaltsamer, auch mal kritischer Form, gelegentlich im Dialekt.
Nicht nur Lokalglossen werden gern gelesen. Das Schreiben einer Glosse jedoch stellt hohe Ansprüche an den Autor: „Die Glosse ist die kürzeste und daher die schwerste journalistische Stilform. (…) Sie ist umso wirksamer, je sicherer ihre epigrammatische Schlagkraft geprägt ist und je mehr sie bei leichter Eleganz der Form schlagende Argumente versetzt. Sie muß ins Schwarze treffen“, befand Emil Dovifat in seiner Zeitungslehre von 1955 (Dovifat 1955: 131). Gute Glossenschreiber sind zudem selten, „weil zur Beherrschung der Form jene Portion Mutterwitz und Boshaftigkeit hinzukommen muss, die unter den Journalisten nicht gleich verteilt ist (Hoofacker/Meier 2017: 145).
Literatur
Dodd, Bill: Die Sprachglosse als Ort des oppositionellen Diskurses im „Dritten Reich“. Beispiele von Dolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm Emanuel Süskind aus den frühen 1940er Jahren. In: Wirkendes Wort, Heft 53, 2, 2003, S. 241-251.
Dovifat, Emil: Zeitungslehre I. Band. Dritte Auflage. Sammlung Göschen, Band 1039. Berlin [Walter de Gruyter] 1955, S.131-132.
Dreiser, Wolfgang: Glosse. Freiburg, Basel, Wien [Herder] 1977.
Fasel, Christoph: Textsorten. Konstanz [UVK] 2008.
Hoofacker, Gabriele; Klaus Meier: La Roches Einführung in den praktischen Journalismus. 20, neu bearbeitete Auflage. Wiesbaden [Springer VS] 2017.
Meyer, Hans-Ulrich: Journalistische Textformen. Freiburg, Basel, Wien [Herder] 1980.
Nowag, Werner; Edmund Schalkowski: Kommentar und Glosse. Konstanz [UVK] 1998.
La Roche, Walther von; Axel Buchholz: Radio-Journalismus. München [List] 1980.
Linden, Peter; Christian Bleher: Glossen und Kommentare in den Printmedien. Berlin [ZV] 2000.
Meyers Konversations-Lexikon: Glosse. Band 7, 4. Auflage. Leipzig/Wien [Verlag des Bibliographischen Instituts), 1885-1892, S. 442-443.
Rohmer, Ernst: Die literarische Glosse. Untersuchungen zu Begriffsgeschichte, Funktion und Literarizität einer Textsorte. Erlangen [Palm & Enke], Erlangen 1988
Roloff, Eckart Klaus: Journalistische Textgattungen. München [R. Oldenbourg] 1982, S. 74-76.
Roloff, Eckart: Die Tücken des Toxischen. Wie ein ziemlich giftiges Wort immer populärer wird. In: Frankfurter Rundschau, 12. Juni 2023, S. 24.
Sonderhüsken, Hermann: Kleines Journalisten-Lexikon. Fachbegriffe und Berufsjargon. München [Ölschläger] 1991.