Grubenhund

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Der Begriff ‚Grubenhund‘ bezeichnet einen besonderen Typ von Falschmeldungen, in den Ironiesignale eingebaut sind, die mit gesundem Menschenverstand zu erkennen wären. Die Urheber wollen damit die Kompetenz der Journalisten testen.

Der Begriff geht zurück auf einen Einfall des Wiener Ingenieurs Arthur Schütz. Am Beginn stand eine Wette: Am 17. November 1911 traf sich eine Gruppe befreundeter Ingenieure im Wiener Grandhotel zum Mittagessen. Das Gespräch drehte sich um die neuesten Nachrichten. Die Neue Freie Presse, die vom Bürgertum favorisierte Zeitung, die sich als unfehlbare Autorität gerierte, hatte ein kleines Erdbeben zu einem bedeutenden Ereignis aufgeblasen. Immer neue Augenzeugenberichte aus dem Kreis der Stammleser wurden gedruckt – gleichsam eine frühe Form des Bürgerjournalismus. Als einer der Teilnehmer am Tischgespräch hatte Schütz eine Idee: Er verfasste einen Text zum geschilderten Erdbeben und schickte ihn per Boten in die Redaktion.

Am nächsten Morgen stand in der Neuen Freien Presse ein langer Artikel, der auf diesem Text basiert. Als Autor ist angegeben ein Dr. Ing. Erich Ritter von Winkler, Assistent der Zentralversuchsanstalt der Ostrau-Karwiner Kohlenbergwerke. Der Beitrag beginnt mit einer Aneinanderreihung von technischem Unsinn, worauf eine erstaunliche Beobachtung folgt: „Völlig unerklärlich ist jedoch die Erscheinung, dass mein im Laboratorium schlafender Grubenhund schon eine halbe Stunde vor Beginn des Bebens auffallende Zeichen größter Unruhe gab.“

Beim Grubenhund handelt es sich jedoch um jenen hölzernen Laufwagen, den die Bergleute als ‚Hund‘ bezeichnen und den bereits der Universalgelehrte Georgius Agricola in seinem Werk über den Bergbau beschrieben hat (1556 unter dem Titel De re metallica erschienen). Seit Schütz ist aus dem Grubenhund ein presse- und medientypologischer Begriff mit medienpädagogischer bzw. medienkritischer Mission geworden. Diese ist mit der Absicht verbunden, die Aufmerksamkeit und intellektuelle Potenz der Journalisten zu testen und deren faktische Ignoranz offenzulegen (siehe auch → Authentizität, → Plausibilität).

Arthur Schütz ging bei seinen Feldexperimenten methodisch reflektiert vor. Seine Hypothese lautete, dass ein Bericht abgedruckt werde, sobald er nur „im Gewande der Wissenschaft schillere und von einem gut klingenden Namen gezeichnet sei“ sowie „den ausgefahrenen Gedankenbahnen des Publikums und der Mentalität des Blattes entspreche“ (Schütz 1996: 39). Diese Hypothese konnte er verifizieren, nach dem Grubenhund noch viele weitere Male bei anderen Zeitungen und anderen Themen, darunter frühe → Fake News etwa über Betonwürmer, ovale Wagenräder, plombierte Zahnräder und feuerfeste Kohlen.

Seine Erfolge präsentierte Schütz in dem Sammelband Der Grubenhund, der 1931 erstmals erschien. Die Fallsammlung zeigt, dass der Autor besondere Sorgfalt auf die Konstruktion der Falschmeldungen legte: „Name, Stand des Absenders, äußere Form, Stil, Thema und vor allem der Tonfall müssen der geistigen Atmosphäre, dem Horizont und dem jeweiligen Bedürfnis der auserkorenen Redaktion angepaßt sein“ (Schütz 1996: 56). Schütz, der seine Köder entsprechend der Blattlinie präparierte, spricht vom „Redaktionsaffekt“.

Der Stil des Grubenhunds wird gern mit der → Zeitungsente verwechselt. Falschmeldungen haben allerdings ganz unterschiedliche Ursachen: Die Journalisten tappen hier zum Beispiel in die → Aktualitätsfalle, die Quoten- und Auflagenfalle, die Originalitätsfalle oder die Instrumentalisierungsfalle – Schütz aber ließ sie in die Kompetenzfalle stolpern (siehe Hömberg 2018a).

Arthur Schütz war eine facettenreiche Persönlichkeit mit einem bewegten Lebenslauf (dazu Hömberg 1996). Er war kein „Wissenschaftsjournalist“, wie fälschlich behauptet (Russ-Mohl 2017: 29), sondern ein Ingenieur mit dem Fachgebiet Riementechnik, ein erfolgreicher Geschäftsmann sowie ein engagierter Journalismuskritiker. Dessen Erfolge als Grubenhund-Züchter würdigte schon Karl Kraus in seiner Zeitschrift Die Fackel.

Welche Chancen Grubenhunde in Zeiten des Internets haben, hat eine Diplomarbeit an der Universität Eichstätt getestet (Stumpf 2004). Eine Presseinformation, die dazu per E-Mail verbreitet wurde, berichtete am 1. Juli 2004 von der Entdeckung eines menschlichen Sex-Gens durch eine Forschergruppe des Münchner Arthur-Schütz-Instituts. Viele Anfragen, darunter einige Bitten um Interviews, waren die Folge. Drei Medien berichteten in enger Anlehnung an die Pressemeldung von dieser „wissenschaftlichen Sensation“. Da aber einige Redaktionen den Fake schon nach kurzer Zeit entlarvten, blieb ein größeres Medienecho für das Sex-Gen aus (vgl. Hömberg/Stumpf 2008; Hömberg 2018b). Ergebnis dieses Experiments: Das Internet ist ein effektives Instrument, um Grubenhunde zu lancieren. Aber es ermöglicht auch, diese durch gründliche → Quellenrecherche schnell aufzuspüren.

Literatur:

Hömberg, Walter: „Majestät in Unterhosen“. Arthur Schütz, Züchter der „Grubenhunde“. Leben und Werk eines Wiener Journalismuskritikers. In: Medien & Zeit, 11(1), 1996, S. 36-45.

Hömberg, Walter; Andreas Stumpf: Die wahre Fälschung. Auf den Spuren von Arthur Schütz als Pionier der journalistischen Qualitätsforschung. In: Pörksen, Bernhard; Wiebke Loosen; Armin Scholl (Hrsg.): Paradoxien des Journalismus. Theorie – Empirie – Praxis. Festschrift für Siegfried Weischenberg. Wiesbaden [VS Verlag für Sozialwissenschaften] 2008, S. 375-387.

Hömberg, Walter: Echte Falschmeldungen und Medienfälschungen. Qualitätsfallen im Journalismus. In: Aviso, 66, 2018a, S. 10-12.

Hömberg, Walter: Ovale Räder und das Sex-Gen. In: Wiener Zeitung, 29./30.12.2018b, S. 27. https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/reflexionen/vermessungen/1009477-Ovale-Raeder-und-das-Sex-Gen.html?em_cnt_page=4

Russ-Mohl, Stephan: Die informierte Gesellschaft und ihre Feinde. Warum die Digitalisierung unsere Demokratie gefährdet. Köln [Herbert von Halem] 2017.

Schütz, Arthur: Der Grubenhund. Wien/Leipzig [Jahoda & Siegel] 1931.

Schütz, Arthur: Der Grubenhund. Experimente mit der Wahrheit. Herausgegeben und eingeleitet von Walter Hömberg. München [Reinhard Fischer] 1996.

Stumpf, Andreas: F@kes. Typen, Ursprünge und Verbreitungswege von Falschmeldungen und publizistischen Fälschungen im Internet. Diplomarbeit. Eichstätt-Ingolstadt, 2004.

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*1944, Prof. Dr. phil., war vor seiner Emeritierung Professor für Journalistik und Kommunikationswissenschaft an den Universitäten Bamberg und Eichstätt. Seit 1999 lehrte er auch als Gastprofessor an der Universität Wien. 1992 bis 1995 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. 1996 bis 2011 Sprecher des Münchner Arbeitskreises öffentlicher Rundfunk. Herausgeber mehrerer Buchreihen und des Almanachs Marginalistik. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Journalismusforschung, Wissenschafts- und Kulturkommunikation sowie Medien- und Kommunikationsgeschichte. Kontakt: walter.hoemberg (at) ku.de