Moses Joseph Roth wurde am 2. September 1894 in Brody in der damaligen galizisch-russischen Grenzstadt bei Lemberg (heute Ukraine) geboren. Seinen Vater Nachum hat er nie kennengelernt, dieser war bereits vor seiner Geburt verschwunden. Nachum Roth war von einer Geschäftsreise nicht mehr zurückgekehrt, da er nach einem Nervenzusammenbruch von seiner Familie bei einem Wunderrabbi untergebracht wurde. Mit seiner Mutter Maria lebte Joseph Roth daher bei seinem Großvater, finanziell wurde die Familie von einem Onkel unterstützt.
Bereits im deutschsprachigen Gymnasium in Brody verfasste Joseph Roth Gedichte; nach der Matura 1913 begann er ein Germanistikstudium in Wien. 1916 meldete er sich im Ersten Weltkrieg freiwillig zum Militärdienst und schrieb Artikel für die Frontzeitung Illustrierte Kriegszeitung. Zwei Jahre später kehrte er nach Wien zurück, arbeitete für die A.Z. am Abend sowie die Zeitschrift Die Filmwelt.
Erste → Feuilletons veröffentlichte Roth 1919 bei der Tageszeitung Der Neue Tag. Nach einem Jahr und mehr als hundert Artikeln, die er für die Zeitung verfasst hatte, musste diese eingestellt werden. Aus finanzieller Not ging Roth nach Berlin. Hier berichtete er für die Berliner Zeitung, den Berliner Börsen-Courier, für die Zeitung Vorwärts und ab 1923 für die Feuilletonredaktion der Frankfurter Zeitung, die für Roth – mit Unterbrechungen – bis 1932 Hauptauftraggeber war. Parallel dazu schrieb er für das Prager Tagblatt und den Wiener Tag.
Roth war in dieser Zeit viel unterwegs, er fungierte als Sonderberichterstatter für die Frankfurter Zeitung in Paris und Südfrankreich, berichtete aus dem Ruhrgebiet, der Sowjetunion, Polen und Belgrad und unternahm Reportagereisen nach Albanien und Italien.
Nicht nur Roths journalistisches Werk wuchs, sondern auch seine literarischen Produktionen. Nachdem sein erster Roman Das Spinnennetz 1923 noch in Fortsetzungen in der Wiener Arbeiter-Zeitung abgedruckt wurde, gehören seine späteren Werke wie Die Flucht ohne Ende, Hiob, Die Geschichte von der 1002. Nacht oder Die Legende vom heiligen Trinker heute zur Weltliteratur.
Als sich der Gesundheitszustand seiner Frau Friederike immer mehr verschlechterte, sodass sie zunächst privat betreut werden musste, dann in einem Sanatorium untergebracht und schließlich in die Wiener Heil- und Pflegeanstalt für Geistes- und Nervenkranke eingeliefert wurde, war Joseph Roth in ständiger Sorge. Er fühlte sich durch sein unstetes Leben für ihre psychische Erkrankung verantwortlich.
Als die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 die Macht übernahmen, ging Joseph Roth, der über jüdische Wurzeln verfügte, nach Paris in die Emigration. Dort lebte er in kleinen Hotels und schrieb in den Cafés. Er reiste weiterhin viel, aber nie wieder nach Deutschland. Im Mai 1939 erreichte Roth die Nachricht vom Selbstmord des Schriftstellers Ernst Toller in den USA. Dessen Tod erschütterte Roth so sehr, dass er zusammenbrach. Er wurde in ein Armenhospital eingeliefert und starb am 27. Mai 1939 im Alter von 44 Jahren. Sein Herz war schwach, der schwere Alkoholkonsum forderte seinen Tribut, es erfassten ihn ein Delirium tremens, hohes Fieber und eine Lungenentzündung noch dazu. Nach seinem Tod gab es viele Diskussionen, ob Roth in einem anderen Krankenhaus hätte gerettet werden können.
Seine Frau wurde von den Nationalsozialisten in der Euthanasieanstalt Schloss Hartheim 1940 ein Jahr nach Roths Tod ermordet.
Journalistisches Werk: „Ich zeichne das Gesicht der Zeit“
Joseph Roth war als Journalist sehr produktiv und veröffentlichte mehr als 1.300 Artikel in unterschiedlichen Zeitungen. Er zählte zu den bestbezahlten Journalisten seiner Zeit in Deutschland. Sein journalistisches Oeuvre „umfaßt Reportagen, Berichte, Rezensionen, Feuilletons, Glossen, Portraits und anderes mehr“ (Westermann 1987: 7). Immer wieder schrieb Roth auch über sein journalistisches Selbstverständnis, etwa, als er festhielt, dass man Feuilletons nicht mit der linken Hand schreiben kann:
„Man darf nicht nebenbei Feuilletons schreiben. Es ist eine arge Unterschätzung des ganzen Fachs. (…) Ich mache keine „witzigen Glossen“. Ich zeichne das Gesicht der Zeit. Das ist die Aufgabe einer großen Zeitung. Ich bin ein Journalist, kein Berichterstatter, ich bin ein Schriftsteller, kein Leitartikelschreiber.“
(Roth in einem Brief an Gustav Kiepenheuer, 10.06.1930, 1970: 220)
Roth war nach dem Ersten Weltkrieg nicht nur in eine Trümmerlandschaft zurückgekehrt, die Menschen waren schwer traumatisiert. Kriegsversehrte taumelten durch die Straßen, die Bürger versuchten, so gut es ging, wieder einen Alltag aufzubauen. Roth war mittendrin und beobachtete die Menschen. In seiner Reportage „Das Antlitz der Zeit“ befasste sich Roth mit der Frage der Darstellung von Wirklichkeit, den Erfahrungen, die er durch die Beobachtungen von Menschen und Umgebungen gewann. Darin schrieb er:
„Das Antlitz der Zeit ist zernichtet. Das Leben ist zerlebt. Häßlich ist sie, die Zeit. Aber wahr. Sie läßt sich nicht malen, sondern photographieren. Ob sie wahr ist, weil sie häßlich ist? Oder häßlich, weil wahr?“
(Roth 1920: 215)
Der ewige Rastlose ohne festen Wohnsitz unternahm viele Reportagereisen. Für die Frankfurter Zeitung reiste er im Spätsommer 1925 nach Südfrankreich. Seine Artikelserie „Im mittäglichen Frankreich“ wurde von September bis November 1925 gedruckt. Die Berichte über „Die weißen Städte“ erschienen posthum, in diesen beschrieb Roth seine Beobachtungen u.a. in Lyon, Avignon, St. Rémy, Nimes, Arles und Marseille. Dabei stellte er zu seinem eigenen journalistischen Vorgehen fest:
„Ehe ich zu leben angefangen hatte, stand mir die ganze Welt offen. Aber als ich zu leben anfing, war die offene Welt verwüstet. Ich selbst vernichtete sie mit Altersgenossen. (…) Seitdem glaube ich nicht, dass wir, Fahrpläne in der Hand, in einen Zug steigen können. Ich glaube nicht, dass wir mit der Sicherheit eines für alle Fälle ausgerüsteten Touristen wandern dürfen. (…) Der „gute Beobachter“ ist der traurigste Berichterstatter.“
(Roth 1925: 451f.)
Die Themen, mit denen sich Joseph Roth in seinen journalistischen Arbeiten befasste, waren breit gestreut. Er schrieb nicht nur über Länder und Orte, sondern auch über neue technologische Entwicklungen, Umweltzerstörung, Politik, den Prozess über die im Mordfall Walther Rathenau Angeklagten, Filmkritiken, Emigration, über den Literaturbetrieb und besonders gegen Adolf Hitler und den Nationalsozialismus. Als Beobachter erfasste er die jeweiligen Stimmungen, schaute hinter die Kulissen und setzte die Beobachtungen zusammen. In seinen 1929 erschienen Beiträgen über die „Hotelwelt“, schrieb er in Ankunft im Hotel:
„Ich hebe das Telephon ab. Nicht, um zu telephonieren – – nur, um dem Telephonisten in der Zentrale des Hotels Guten Tag! zu sagen. Er verbindet mich oft und fleißig. Er verleugnet mich. Er warnt mich. Er teilt mir des Morgens wichtige Begebenheiten aus der Zeitung mit. Und wenn der Geldbriefträger zu mir kommt, verkündet er es mit einem diskreten Jubel. Er ist ein Italiener. Der Kellner ist ein Österreicher. Der Portier ein Franzose aus der Provence. Der Empfangschef ein Mann aus der Normandie. Der Oberkellner ein Bayer. Das Zimmermädchen eine Schweizerin. Der Lohndiener ein Holländer. Der Direktor ein Levantiner; und seit Jahren hege ich den Verdacht, daß der Koch ein Tscheche ist. Aus den übrigen Teilen der Welt kommen die Gäste. (…) Von der Enge ihrer Heimatliebe befreit, von der Dumpfheit ihrer patriotischen Gefühle gelöst, von ihrem nationalen Hochmut ein wenig beurlaubt, kommen hier die Menschen zusammen und scheinen wenigstens, was sie immer sein sollten: Kinder der Welt.“
(Roth 1929: 5)
Auch hier zeigt sich seine Vorgehensweise – das Aufzeigen des Zusammenlebens von verschiedenen Personen an einem speziellen Ort, hier wird die Frage der Heimat auf eine eigene Art und Weise thematisiert.
Akribisch, verzweifelt und letzlich vergeblich schrieb Roth gegen den Nationalsozialismus an:
„Liebe Redaktion, Sie fragen mich, ob ich nach einer Pause, die Ihnen ungerechtfertigt lang erscheint, nicht wieder einen Aufsatz veröffentlichen wolle. (…) Es gibt für mich – um unsern Metier-Ausdruck zu gebrauchen – kein „Thema“, das mir gestatten würde, einen Artikel mit jenem Mindestmaß von Zuversicht zu schließen, dessen eine Äußerung in einer Zeitschrift selbstverständlich bedarf. (…) Im übrigen aber zweifle ich daran, daß es in der ganzen europäischen Vergangenheit eine Periode gegeben hat, die mit der unsrigen zu vergleichen wäre. Von allen dunklen und grausamen Menschen, die in der Schreckenskammer der europäischen Geschichte verewigt sind, sehe ich keinen einzigen, der die typischen Kennzeichen der zeitgenössischen Tyrannen aufzuweisen hätte: nämlich die Armseligkeit der Persönlichkeit. Selbst ihre Feigheit noch ist ja substanzlos! (…) Was soll mein Wort gegen Kanonen, Lautsprecher, Mörder, törichte Minister, ratlose Diplomaten, dumme Interviewer und Journalisten, die durch den Nürnberger Trichter die ohnehin verworrenen Stimmen dieser Babel-Welt vernehmen? Wenn Sie wollen, veröffentlichen Sie diesen Brief als einen wirklich – „offenen“ – statt eines Artikels. In trauriger Resignation, Ihr Joseph Roth, Das Neue Tage-Buch, Paris, 17.10.1936“
(Roth 1936: 687)
Klaus Westermann (1987: 216) zitiert am Ende seiner Publikation über Joseph Roth den Schriftsteller Ludwig Marcuse, der über Roths journalistisches Werk geschrieben hatte: „Man kommt noch nicht zu spät, wenn man die Berichte heute liest.“ Marcuse hatte diese Zeilen 1949 in der Rhein-Neckar-Zeitung anlässlich Roths zehnten Todestages mit der Überschrift „Ein Gast auf dieser Erde“ formuliert. 70 Jahre danach hat dieser Satz nach wie vor Gültigkeit.
Literatur:
Sämtliche Texte von Joseph Roth sind der sechsbändigen Werkausgabe entnommen:
Roth, Joseph: Werke I – III. Hrsg. v. Klaus Westermann 1989-1991. Köln [Kiepenheuer & Witsch] 1991.
Roth, Joseph: Brief an Gustav Kiepenheuer, 10.6.1930. In: Roth, Joseph: Briefe 1911-1939. Hrsg. und eingel. v. Hermann Kesten. Köln/Berlin [Kiepenheuer & Witsch] 1970.
Sternburg, Wilhelm von: Joseph Roth. Eine Biographie. Köln [Kiepenheuer & Witsch] 2009.
Westermann, Klaus: Joseph Roth, Journalist. Eine Karriere 1915-1939. Bonn [Bouvier Verlag Herbert Grundmann] 1987.